Handelsblatt - 08.11.2019

(Barré) #1

D


ie Euphorie des Mauerfalls vor 30
Jahren und der danach folgenden
Wiedervereinigung ist dahin; die
Stimmung ist schlecht, wiewohl
sich die wirtschaftliche Lage in den
neuen Bundesländern nach dem Tief der 1990er-
Jahre kontinuierlich verbessert hat. In den aktu-
ellen Diagnosen ist von einem gespaltenen Land
die Rede, nicht nur bei den Wahlergebnissen,
sondern auch im Hinblick auf die Wertschätzung
der Demokratie. Der Pessimismus des Ostens
scheint inzwischen auch den Westen Deutsch-
lands angesteckt zu haben. Man hatte geglaubt,
der Osten werde sich verwestlichen. Inzwischen
hat es den Anschein, als sei der Osten in man-
chen Bereichen die Zukunft des Westens. 30 Jah-
re nach dem Mauerfall hat sich ein Gemisch aus
Ressentiment und Resignation wie eine Patina
über das Land gelegt.
Die internationale Lage ist der deutschen Ent-
wicklung nicht unähnlich: Das Ende der Ost-
West-Konfrontation war als eine große Befreiung
wahrgenommen worden – von der nuklearen
Geiselnahme, vom Zwang des Nachrüstens, von
der zwanghaften Fixierung aufeinander. Die Er-
gebnisse des Zweiten Weltkriegs konnten in
Europa jetzt auf friedlichem Wege revidiert wer-
den. Mit einem Mal waren die Völker wieder die
Herren ihrer Geschichte – zumindest empfanden
sie sich als solche.


Die Geschichte ist noch nicht zu Ende


In diese Stimmung neu erworbener Geschichts-
mächtigkeit passte die von dem US-amerikani-
schen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama
gestellte Diagnose vom „Ende der Geschichte“ so
ganz und gar nicht hinein, dementsprechend
wurde sie zunächst mit demonstrativem Unver-
ständnis quittiert.
Fukuyama hatte jedoch nicht das Ende der Er-
eignisgeschichte, sondern das Verschwinden der
großen weltpolitischen Alternativen gemeint. Ge-
schichte, so seine These, würde hinfort nicht län-
ger durch den Gegensatz konkurrierender Ord-
nungsvorstellungen geprägt sein, sondern im
bestmöglichen Ausgestalten einer demokratisch-
wirtschaftsliberalen Ordnung bestehen. An die
Stelle tödlicher Konkurrenz war die Möglichkeit
optimierender Kooperation getreten. Die Frage,
wie wir leben wollen, schien damit endgültig be-
antwortet: als Bürger, die an der Gestaltung der
politischen Verhältnisse mitwirken, und zwar in
Frieden und Wohlstand.
In seiner Diagnose vom Ende der Geschichte
knüpfte Fukuyama an eine Vorstellung Georg
Wilhelm Friedrich Hegels aus den 1820er-Jahren
an, der nach den Napoleonischen Kriegen im re-
formierten Preußen die Prinzipien von Monar-
chie und Republik verschmolzen sah, sodass
auch er vom Ende der Geschichte als einem
Kampf der Gegensätze sprach. Das war die opti-
mistische Variante.
Die von Fukuyama danebengestellte pessimis-
tische Variante hatte ebenfalls einen deutschen
Philosophen als Referenzautor: Friedrich Nietz-
sche und seine Beschreibung der „letzten Men-
schen“, die von sich behaupten, sie hätten „das
Glück erfunden“. Diese Diagnose hatte etwas Be-
drohliches, denn die „letzten Menschen“ Nietz-
sches wollen nur Versorgung, Vergnügen und
Unterhaltung und zeigen keinerlei Bestreben,
sich auf die Mühen und Anstrengungen politi-


scher Teilhabe und zivilen Engagements einzu-
lassen. Sie folgen dem, der ihnen am meisten
verspricht. Sieht man genau hin, so stehen sie
für das genaue Gegenteil der Hegel’schen Vorstel-
lung vom Ende der Geschichte. Hätten die Kriti-
ker Fukuyamas genau hingeschaut, hätten sie
den Widerspruch zwischen Befriedung und Er-
mattung in der Diagnose vom Ende der Ge-
schichte gesehen.
Die 1990er-Jahre waren geprägt von der Suche
nach einer neuen Weltordnung. Das Struktur-
prinzip des Gegensatzes war verschwunden, und
an seine Stelle trat die Leitidee einer liberalen
Weltordnung, die auf demokratischen Normen
und Regeln, weltweiter Wirtschaftsverflechtung
(„Globalisierung“) sowie einem starken Einfluss
von Nichtregierungsorganisationen als Repräsen-
tanten humanitärer und ökologischer Belange
beruhte.
Konkret hieß das, dass Krieg und militärische
Bedrohung der Vergangenheit angehörten, die
nicht länger durch den Ost-West-Gegensatz blo-
ckierten Vereinten Nationen eine herausgehobe-
ne Rolle bei der Bearbeitung von Menschheits-
problemen spielen sollten und die deutlich redu-
zierten Streitkräfte, insbesondere die der USA,
der Länder eine globale Polizeifunktion unter
Aufsicht der Weltgemeinschaft haben sollten.
Man unternahm indes keine größeren Anstren-
gungen, diese Ordnung institutionell auszugestal-
ten, sondern vertraute darauf, dass sie sich von
selbst so entwickeln würde. Schon bald nach der
Jahrtausendwende mehrten sich die Anzeichen,
dass dieses Projekt scheitern würde.
Im Nachhinein lässt sich kaum entscheiden,
ob diese liberale Weltordnung vom Ansatz her
zum Scheitern verurteilt war oder ob die Nach-
lässigkeit bei ihrer Entstehung dafür verantwort-
lich war, dass aus ihr nichts geworden ist. Aus
heutiger Sicht lässt sich jedoch festhalten, dass
es ein Fehler war, den USA allein die Rolle des
Weltpolizisten zu überlassen, den Europäern die
Position eines Zuschauers zu konzedieren, die
Russen nicht in eine Teilhabeposition einzubin-
den und von China nicht größeres Engagement
für diese Ordnung zu fordern, sondern es in der
komfor tablen Rolle eines Ordnungskonsumenten
zu belassen.

Welt ohne Ordnungsmacht
Die USA haben, schwankend zwischen All-
machtsfantasien und dem Gefühl, alleingelassen
zu sein, das große Projekt aus den Augen verlo-
ren und sich im Nahen Osten und Zentralasien in
deprimierende Abnutzungskriege verstrickt, die
Europäer haben sie dabei selektiv unterstützt,
sich für die neue Weltordnung außer im Modus
der Kritik aber nur beiläufig engagiert. Die militä-
risch wiedererstarkten Russen haben zu der sich
abzeichnenden Ordnung keine Interessenbin-
dung entwickelt, und die Chinesen haben von
der wachsenden globalen Wirtschaftsverflech-
tung kräftig profitiert.
Unter der Präsidentschaft Barack Obamas ka-
men die Vereinigten Staaten dann zu dem
Schluss, dass die globale Verantwortung sie über-
fordere, weswegen sie sich auf den pazifischen
Raum konzentrieren wollten, und unter Donald
Trump verabschiedeten sie sich ganz aus dem
Projekt. Trump und seine Anhänger zumindest
sind der Auffassung, dass die liberale Weltord-
nung den USA mehr schade als nutze, und des-

wegen sind sie seit einiger Zeit damit beschäftigt,
das, was von dieser Ordnung existiert, nach Kräf-
ten zu demolieren. Währenddessen betreiben
die Russen regionale Interessenpolitik unter Ein-
bezug militärischer Mittel, China baut Einfluss-
räume in Afrika und Zentralasien auf und hat in-
zwischen bis nach Südosteuropa an Einfluss ge-
wonnen; die Nato ist an ihrer Südostflanke in
Auflösung begriffen, und die Europäer haben
sich auf die Rolle des Mahners und Warners ver-
legt. Sie reden viel und tun wenig.

Diffuse Angst vor Überforderung
Währenddessen gewinnen die Herausforderun-
gen, die nur global anzugehen sind, dramatisch
an Gewicht: Die Folgen des Klimawandels und
transnationale Kriege an den Rändern der Wohl-
standszonen setzen Flüchtlingsbewegungen in
Gang, die angrenzende Länder sozioökonomisch
überfordern und noch in weit entfernten Räu-
men das politische Klima grundlegend verwan-
deln. An die Stelle von Zuversicht in die eigene
Handlungsfähigkeit ist eine diffuse Angst vor
Überforderung getreten. Allenthalben ist der Ruf
nach Mauern und Zäunen, die man vor 30 Jahren
niedergerissen hat, laut geworden, und an die
Stelle einer globalen Verflechtung ist die Sehn-
sucht nach kleinräumlichem Schutz getreten.
Fasst man diese globale Gemengelage zusam-
men, kann man sagen, dass die USA und China
damit beschäftigt sind, ihre wirtschaftlichen In-
teressen gegeneinander zur Geltung zu bringen,
dass Russland sich als geopolitischer Akteur in
Position gebracht hat und die Europäer so tun,
als sei die liberale Weltordnung zu retten, indem
man alle anderen ermahnt, sich nach deren Re-
geln zu verhalten. Da kann es nicht überraschen,
dass die Europäische Union in der gegenwärti-
gen Unordnung die schwächste Rolle spielt, wäh-
rend die Vereinigten Staaten und Russland um
die destruktivste Rolle wetteifern. China, das ei-
ne langfristig angelegte Interessenpolitik be-
treibt, ist der eigentliche Gewinner im Spiel mit
der Unordnung.

Machtkampf um Einflusssphären
Inzwischen hat die Suche nach strukturbilden-
den Entwicklungen in der augenblicklichen Un-
ordnung begonnen: Einige haben dafür den ame-
rikanisch-chinesischen Handelskrieg ausge-
macht, der jedoch ein bloßer Kampf der Zölle ist
und in dem sich keine weiter reichenden Ideen
identifizieren lassen. Andere setzen auf die Kon-
kurrenz zwischen einem chinesischen und ei-
nem westlichen Entwicklungsmodell, also einer
autoritären Ordnung mit zunehmend nationalis-
tischen Tönen und einer auf Freiheit und Recht
begründeten Ordnung. Freilich ist das Verständ-
nis von Recht und Freiheit im „Westen“ inzwi-
schen so heterogen, dass es schwerfällt, darin
ein gemeinsames Norm- und Handlungsmodell
zu sehen. Vermutlich wird es gar nicht auf eine
antagonistische Struktur hinauslaufen, sondern
auf Einflusssphären, mit denen sich fünf große
Akteure voneinander abgrenzen, also auf eine
neue Pentarchie. Der könnten die USA, China,
die EU, Russland und Indien angehören, und die
werden damit beschäftigt sein, ihre jeweilige Pe-
ripherie „in Ordnung“ zu halten.

Ratlosigkeit nach


der Euphorie


30 Jahre nach dem Mauerfall sucht die Welt


nach neuer Ordnung, befindet Herfried Münkler.


30 Jahre


nach dem


Mauerfall


hat sich ein


Gemisch aus


Ressentiment


und Resigna-


tion wie eine


Patina über das


Land gelegt.


Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft
an der Berliner Humboldt-Universität.

imago images/Müller-Stauffenberg [M]


Gastkommentar


(^72) WOCHENENDE 7./8./9. NOVEMBER 2019, NR. 216

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