Hand drauf
DasFoto zweier Freundinnen, die sich an der halb fertigen Mauer
in Berlin verabschieden, ging um die Welt. Was wurde aus ihnen?
von verena mayer
Z
wei ältere Damen auf der Straße.
Die beiden geben sich die Hand
wie Nachbarinnen, die sich gera-
de über den Weg laufen, eine Sze-
ne, wie sie alltäglicher nicht sein
könnte. Und doch ist alles an der Begeg-
nung ungewöhnlich. Denn die Frauen wa-
ren beste Freundinnen und sehen sich an
einem Juniwochenende nach 58 Jahren
zum ersten Mal wieder. An dem Ort in Ber-
lin, an dem sie 1961 getrennt wurden.
Es gibt ein Schwarz-Weiß-Foto von die-
sem letzten Treffen. Es zeigt zwei Mäd-
chen, die sich an der Hand halten. Eines
trägt einen Regenmantel, dem anderen
fährt der Wind durchs Haar. Die beiden wir-
ken innig, aber auch angespannt. Denn die
hüfthohe Barriere zwischen den beiden ist
die Berliner Mauer, das Mädchen rechts
steht im Westen, das Mädchen links im Os-
ten. Die Mauer ist erst halb fertig an die-
sem Augusttag 1961. Aber sie reißt die bei-
den Freundinnen bereits auseinander.
Das Foto gehört zu den berühmtesten
Bildern aus den Tagen des Mauerbaus. Die
Freundinnen gingen als „Mauermädchen“
in die Geschichte ein, in ihrem kurzen Mo-
ment verdichtet sich, was die Teilung
Deutschlands für das Leben unzähliger
Menschen bedeutete. Das Foto wurde in
Zeitschriften und in Büchern abgedruckt,
man sieht es in Ausstellungen und Broschü-
ren. Doch bis dreißig Jahre nach dem Fall
der Mauer wusste man nicht, wer die bei-
den sind und was sie da machen.
Wie sie 2019 wieder zusammenfanden
- das ist eine dieser Verrücktheiten, wie sie
nur die deutsch-deutsche Geschichte her-
vorbringen kann. Aber da stehen die Frau-
en nun, Harzer Straße, Ecke Mengerzeile,
in dem Kiez, in dem sie als Kinder gewohnt
haben. Rundherum werden schicke Apart-
ments hochgezogen, die Gegend ist ange-
sagt. Kriemhild Meyer, 73, sieht sich lä-
chelnd um, sie wirkt wie eine Kulturtouris-
tin auf Hauptstadtbesuch. Die gleich alte
Rosemarie Badaczewski guckt mit zusam-
mengekniffenen Augen auf die Häuser, als
wolle sie ihre Bilder von damals mit dem
Heute abgleichen. Und immer wieder se-
hen sich die beiden Frauen an. Lächeln
sich zu oder mustern einander verstohlen.
Als könnten sie es noch immer nicht glau-
ben, dass sie wieder zusammen sind.
Einen Tag zuvor sitzen die beiden auf ei-
nem Podium im Museum Treptow, um ih-
re Geschichte zu erzählen. Im Museum
hängt das Schwarz-Weiß-Foto der beiden,
jahrelang sind Schulklassen daran vorbei-
gegangen und haben sich gefragt, was es
zeigt. Freundinnentratsch? Einen Ab-
schied? Und warum hat der Grenzsoldat
auf DDR-Seite eine Blume in der Hand?
Der Leiterin des Museums haben diese Fra-
gen keine Ruhe gelassen. Als der Mauerfall-
Jahrestag näher rückte, wollte sie es wis-
sen und startete einen Aufruf in einem An-
zeigenblatt. Eine Freundin von Rosemarie
meldete sich, die daraufhin in Gießen aus-
findig gemacht wurde. Kriemhild zu errei-
chen, war schwieriger; sie lebt unter dem
Namen ihres Mannes in der Schweiz.
Kriemhild Meyer weiß genau, wie es
war, als sie sich wieder begegneten. Die bei-
den sollten in ein Hotel kommen, liefen in
der Lobby aber erst einmal aneinander vor-
bei. Doch als sie die Stimme ihrer Freundin
hörte, sei das gewesen, „als ob gar nichts
passiert wäre“. Meyer nennt ihre Freundin
„Rosi“, ihre Stimme mit dem Schweizer Ak-
zent wird weich. Wenn die beiden Frauen
zusammen sind, wirken sie vertraut, als
würden ihre Gedanken ineinandergreifen.
Spricht man nur mit einer der beiden, geht
es schnell darum, was die andere denkt.
Die beiden waren 15, sie kannten sich
aus der Grundschule. Sie habe viele Freun-
dinnen gehabt, sagt Rosemarie Badaczew-
ski, „aber man hat nur eine beste Freun-
din, und das war Kriemhild“. Kriemhild
und Rosemarie trafen sich im Garten der
Eltern, gingen in den Zoo oder steckten
sonst wo zusammen, auch noch, als die ei-
ne im Osten und die andere im Westen
wohnte, weil die Sektorengrenze mitten
durch den Kiez ging. Bedrückend sei es auf
ihrer Seite gewesen, sagt Badaczewski. Sie
musste an Soldaten vorbei, selbst Kinder
brauchten Ausweise. Sie habe immer ein
Gefühl von Überwachung gehabt, „dass
man aufpassen muss, was man sagt“.
Auch Kriemhild kam ursprünglich aus
dem Osten. Doch ihr Vater hatte mit einer
Familie im Westen die Wohnung ge-
tauscht, damals die einzige Möglichkeit, in-
nerhalb von Berlin umzuziehen. Die
Tauschfamilie hatte Steuerschulden und
flüchtete vor dem Finanzamt in den Osten.
Als am 13. August 1961 die ersten Absper-
rungen hochgezogen wurden, sei ihr sofort
klar gewesen, dass das nicht nur vorüber-
gehend ist, sagt Kriemhild Meyer. Auch
der Vater ihrer Freundin Rosi im Osten ahn-
te das. Über einen Hinterhof rannte er ei-
nen Tag später in den Westen, wo sein
Sohn zufälligerweise gerade im Ferienla-
ger war. Um Frau und Tochter nachzuho-
len, sorgte Rosemaries Vater dafür, dass
die Westberliner Polizei ein gepanzertes
Fahrzeug an die Harzer Straße schickte,
die so dicht an der Mauer lag, dass die Häu-
ser im Osten waren und der Bürgersteig da-
vor im Westen. Mutter und Tochter schli-
chen sich ins Hochparterre. Und dann
sprangen sie aus dem Fenster. Als Rosema-
rie in das Polizeiauto kletterte, saß dort ein
DDR-Grenzsoldat. Rosemarie dachte: Das
war eine Falle, jetzt ist alles aus. Doch der
Soldat war selbst gerade geflohen. Weil sie
so aufgeregt war, fragte sie einen Westber-
liner Polizeibeamten um etwas zu rau-
chen, „das war meine erste Zigarette“.
Und das Foto? Das sei ein oder zwei Tage
vor ihrer Flucht entstanden, sagt Rosema-
rie Badaczewski. Die Leute aus dem Kiez
seien damals ständig auf der Straße gewe-
sen und hätten geguckt, auch sie und
Kriemhild waren draußen. „Als ich sie sah,
bin ich sofort hingestürzt.“ Und der Soldat
mit der Blume? Badaczewski sagt, dass die
halb fertige Mauer durch einen Schreber-
garten ging. Offenbar wollte der Mann ein-
fach noch eine Blume pflücken.
Die Geschichte der beiden Frauen ist
auch eine über die Macht der Bilder. Wie
historische Ereignisse erinnert werden,
liegt nicht zuletzt an den Bildern, die es da-
von gibt. Der Blick, mit dem Fotografen
Weltgeschehen festhalten, bestimmt die
Perspektive der Nachwelt. Die Berliner
Mauer gehört zu den meistdokumentier-
ten Bauwerken, viele Fotos wurden zu welt-
weiten Ikonen. Der Sprung des DDR-Gren-
zers Conrad Schumann über den Stachel-
draht. Ronald Reagan vor dem Branden-
burger Tor, als er „Tear down this wall“
sagt. Der Todesstreifen. Schließlich die
Menschen, die in der Nacht des 9. Novem-
ber 1989 auf der Mauer tanzen und jubeln.
Interessanterweise wurde die Mauer in
beiden Deutschlands ausführlich fotogra-
fiert, sagt die Historikerin Elena Demke,
die über Bilder aus der Mauerzeit forscht.
Es sei nicht so gewesen, dass man sich im
Osten des „Antifaschistischen Schutz-
walls“ geschämt und ihn nicht gezeigt ha-
be. Im Gegenteil, die DDR-Medien setzten
die Mauer regelmäßig ins Bild. Allerdings
unterschieden sich die Bilder auf beiden
Seiten klar in dem, was sie erzählen woll-
ten. Im Westen sind Szenen der Trennung
festgehalten, Grenzposten, verrammelte
U-Bahnhöfe, Eltern, die Kinder an der Mau-
er hochhalten, damit die Großeltern auf
der anderen Seite ihre Enkel sehen kön-
nen. Im Osten hingegen zeigte man die
Grenze als gemeinschaftsstiftend für die
DDR. Die Mauer war der Hintergrund, um
Kampfgruppenmänner in Szene zu setzen,
oder um Frauen und Männer, Alte und Jun-
ge aufmarschieren zu lassen, die das Volk
der DDR verkörpern sollten. Immer wieder
sieht man, wie Leute den Soldaten die Hän-
de schütteln oder Blumen bringen, insze-
nierte Dankbarkeit für die vermeintlich
schützende Wachsamkeit.
Auch als sich die Mädchen Rosemarie
und Kriemhild an der Mauer an der Hand
hielten, wuselten Fotografen um sie her-
um. Sie habe das mitbekommen, sagt
Kriemhild Meyer – aber welche Wirkung
diese Szene haben, welche Symbolkraft ihr
zugeschrieben würde, das sei ihr nicht be-
wusst gewesen. Und es habe sie, ehrlich ge-
sagt, auch nicht besonders interessiert.
„Wir waren junge Mädchen, wir hatten das
Leben vor uns und wollten leben.“
Kriemhild zog mit Anfang zwanzig in
die Schweiz, zu ihrer Schwester. Sie heirate-
te einen Kaufmann, wurde Dekorateurin
für einen exklusiven Herrenausstatter und
gestaltete Schaufenster in Zürich, Basel,
Locarno oder Montreux. Rosemarie ging
nach Hessen, die Behörden hatten ihren El-
tern nach der Flucht gesagt, sie müssten
Berlin unbedingt verlassen. Weil sie Ver-
wandte in Gießen hatten, ließen sie sich
dort nieder. Rosemarie Badaczewski wur-
de Chefsekretärin an der Universität, gehei-
ratet hat sie nicht. Immer wieder habe sie
versucht, mit Kriemhild in Kontakt zu tre-
ten. Irgendwann bekam die Familie eine
Hochzeitsanzeige aus Zürich. Doch als sie
der Adresse nachging, stellte sie fest, dass
das nur der Ort der Trauung war, Kriem-
hild selbst fand sie nicht.
Das neue Leben in Westdeutschland sei
für sie anfangs nicht einfach gewesen, sagt
Rosemarie Badaczewski. Jahrelang habe
sie Albträume gehabt. Dass die Flucht
nicht gelingt, sie irgendwo eingesperrt ist.
Ihre Geschichte steht auch dafür, wie sehr
die Mauer selbst halbwegs normal verlau-
fende Leben erschüttern konnte.
Ende Oktober, in Berlin laufen die Vorbe-
reitungen für das Mauerjubiläum. Doku-
mente werden aus den Archiven geholt,
Zeitzeugen befragt, die Aufnahmen von
Kriemhild und Rosemarie wurden sogar
ins Weltdokumentenerbe der Unesco auf-
genommen, sie gehören zu 14 besonders
aussagekräftigen Quellen zum Bau und
Fall der Berliner Mauer. Und die beiden
Frauen, was wurde aus ihrer Freund-
schaft? Anruf bei Kriemhild Meyer in Zumi-
kon bei Zürich. Sie weiß noch nicht, wann
sie sich wiedersehen werden, Meyer ist
sehr viel unterwegs, sie war in Paris und Ita-
lien, demnächst will sie nach Hamburg in
die Elbphilharmonie. Aber sie telefoniere
regelmäßig mit Rosemarie, schreibe ihr
über Whatsapp, sie sei noch immer er-
staunt, wie vertraut es zwischen ihnen sei.
Rosemarie Badaczewski sagt: „Ich habe
eine Freundin gewonnen, das ist unglaub-
lich.“ Sie geht viel in Seniorenvorlesungen,
interessiert sich für Geschichte und das,
was gerade auf der Welt passiert. Man
merkt ihr an, dass sie einiges davon mit-
nimmt, am Telefon spricht sie darüber,
wie geschichtsvergessen die Leute seien,
dass der Extremismus wiederkehre. Über
die Vergangenheit hat sie lange geschwie-
gen, vor allem die Flucht wollte sie am liebs-
ten verdrängen, „das war wie eine Wunde,
die immer wieder aufgerissen wird“. Erst
beim Mauerfall, als sie im Fernsehen die
Bilder der jubelnden Massen sah, dachte
sie: Jetzt ist es vorbei.
Was haben sie damals an der Mauer ei-
gentlich besprochen? Rosemarie Badac-
zewski sagt, sie wisse es nicht mehr, die Er-
innerung daran sei wie ausgelöscht. Kriem-
hild Meyer erzählt, dass sie nicht zufällig
unterwegs war. Rosemaries Vater hatte sie
nach seiner Flucht gebeten, nach Rosema-
rie Ausschau zu halten. Um ihr zu sagen,
dass er sie in den Westen nachholen werde.
Weil es kein Telefon gab, sei sie zu der Stel-
le gegangen. „Um zu sagen: Es klappt.“ Mit
dieser Botschaft trug die eine Freundin da-
zu bei, dass die andere in Freiheit lebt.
Zurück ins Jahr 2019, an die Harzer Stra-
ße, Ecke Mengerzeile. Nur eine Metalltafel
im Boden erinnert noch daran, dass hier
einmal die Mauer war. Fotografen und Ka-
merateams sind gekommen, um Rosema-
rie und Kriemhild zu sehen, sie wollen ihre
Wiederbegegnung am Originalschauplatz
festhalten. Sie bitten die beiden Frauen,
sich die Hand zu reichen, so wie vor 58 Jah-
ren. Die Auslöser klicken, und man ahnt:
Auch diese Bilder werden Geschichte ma-
chen.
Peter-Michael Diestel
als DDR-Innenminister
und Stellvertreter
von Ministerpräsident
Lothar de Maizière
1990 und als Anwalt und
Buchautor 2019.
FOTOS: DETLEV KONNERTH / IMAGO;
SUSANN WELSCHER
Man fährt über weites, flaches Land, vor-
bei an gewaltigen Windrädern, Richtung
Mecklenburger Seenplatte. Wer Peter-Mi-
chael Diestel besucht, freut sich, wenn das
Navi funktioniert und einen sicher nach
Adamshoffnung leitet. Einen Ort weiter, in
Zislow, besitzt der Rechtsanwalt einen al-
ten Gutshof, er nimmt am Küchentisch
Platz. Zeit für Erzählungen aus jener wil-
den Phase nach dem Mauerfall, in der das
Unmögliche Wirklichkeit wurde. Zum Bei-
spiel ein DDR-Innenminister, der mal Ba-
demeister, Türsteher, Melker, Rinderzüch-
ter, Bodybuilder und noch so einiges mehr
war, in seinen eigenen Worten: „ein freund-
licher Anarchist, der keine Bomben wirft“.
Diestel ist ein dem schönen Leben zuge-
wandter und in dritter Ehe verheirateter
Mann von 67 Jahren, der deutlich jünger
wirkt. „Es geht mir sehr gut“, sagt er, und
was die Hanteln angeht: Die stemmt er
noch immer, morgens im eigenen Fitness-
raum. Früher hat der begeisterte Jäger die
Hirsche eigenhändig auf die Ladefläche sei-
nes Transporters gehievt, darauf verzich-
tet er jetzt lieber, die Bandscheibe.
Der CDU-Politiker hat ein Erinnerungs-
buch geschrieben, das im Titel die ganze
Widersprüchlichkeit seiner Karriere trägt:
„In der DDR war ich glücklich. Trotzdem
kämpfe ich für die Einheit“ (Verlag Das
Neue Berlin). Damit tourt er durch den Os-
ten der Republik, in Halle kamen gerade
650 Zuhörer, in Leipzig war der Saal geram-
melt voll, das Buch steht auf derSpiegel-
Bestseller-Liste. Was will man mehr?
Diestel will vor allem Verständnis. Für
sich selbst, aber auch für die Menschen im
Osten, die seiner Partei scharenweise da-
vonlaufen, wie die Landtagswahl in Thürin-
gen gezeigt hat. Sein Befund: Die Westdeut-
schen haben nach 1989 den Osten systema-
tisch klein gemacht, sie haben den Men-
schen ihre Identität genommen und sie als
Bürger zweiter Klasse behandelt. Für Dies-
tel ist das der Hauptgrund, warum die AfD,
die für ihn ein „Westprodukt“ und ein Er-
gebnis der „kollektiven Enttäuschung“ ist,
von Erfolg zu Erfolg eilt. Dabei hätten doch
die Ostdeutschen die Mauer eingerissen
und „die deutsche Einheit für sich erstrit-
ten“. Doch wo bleibt die Anerkennung?
Heute gebe es so gut wie keine ostdeut-
schen Botschafter, Bundeswehrgeneräle,
Uni-Professoren. Die höheren Beamten in
den Landesministerien, die Staatsanwälte
und Richter: überwiegend Westdeutsche.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, da sind
tolle Leute dabei, aber das ist eine Einbahn-
straße. Stellen Sie sich nur mal vor, in Ih-
rem schönen Bayern würden lauter Sach-
sen und Brandenburger regieren.“
Nach einer Stunde springt Diestel vom
Tisch auf. Hinten in einem Nebengebäude
geht’s unter einem Holzkreuz ins Arbeits-
zimmer, das überall mit Hirschgeweihen
dekoriert ist. Diestel sammelt nicht nur
selbsterlegte Trophäen, an den Wänden
hängen zahlreiche Kunstwerke, darunter
das Aktgemälde einer rothaarigen Schön-
heit, mit dem der Maler Harald K. Schulze
bei einer der letzten DDR-Kunstausstellun-
gen Anstoß erregte. Mitten im Holzver-
schlag steht eine Büste Josef Stalins, ein
Geschenk des sowjetischen Botschafters
in der DDR. Mit schnellen Tritten steigt der
Hausherr auf den Hochsitz im Garten, wo
er im Juni 2017 traurig auf die Felder schau-
te: Das war, als die Nachricht vom Tod Hel-
mut Kohls kam, mit dem Diestel in besse-
ren Tagen häufiger telefonierte, wobei die
Rollenverteilung klar definiert war.
Keine Frage: So richtig zu packen ist er
nicht, dieser Peter-Michael Diestel, der
sich „eher rechts in der CDU“ verortet, mit
Gregor Gysi und Egon Krenz Kontakt hält
und für den Sozialdemokraten Egon Bahr
noch immer große Bewunderung hegt.
Man kann sich vorstellen, wie der Sohn
eines NVA-Offiziers, der sich in der DDR
der Jugendweihe verweigert hatte, an die
zweite Stelle eines untergehenden Staates
kam. Ein impulsiver Draufgänger, der sich
nicht immer an die Regeln hielt. Im Buch
kann man seinen Blitzstart nachvollzie-
hen: Wie er, der Anwalt und Christ, den
Pfarrer der Leipziger Thomaskirche, Hans-
Wilhelm Ebeling, traf, mit dem er die Deut-
sche Soziale Union (DSU) gründete, die er
bald wieder verließ. Wie er mit Unterstüt-
zung der CSU Wahlkampf führte und als
Vertreter „der einzigen ‚reinen‘ konservati-
ven Kraft“ in der DDR von Bonner Politpro-
fis hofiert wurde. Wie Diestel für die „Alli-
anz für Deutschland“ an der Seite von Hel-
mut Kohl Wahlkampf machte, nach der
Volkskammerwahl am 18.März 1990 stell-
vertretender Ministerpräsident der DDR
wurde und im Dienstwagen von Erich Ho-
necker durch den Osten raste.
„Ich war ja gar kein Politiker, aber hatte
ein klares Ziel: die deutsche Einheit“, er-
zählt er über die Wendemonate, als so man-
cher Politneuling über seine Vergangen-
heit stolperte. Diestel trug, anders als die
Pfarrer und Bürgerrechtler an den runden
Tischen, keinen Bart, dafür aber ein auffäl-
liges weißes Sakko. Bei ihm gab es keine
Stasi-Vergangenheit, die über Nacht ans
Licht kommen konnte; allerdings stand er
als Innenminister bald schwer in der Kri-
tik, als er frühere Stasi-Offiziere nicht feu-
erte, sondern weiterbeschäftigte. Ihm sei
es allein um eine „gewaltfreie Auflösung
der Stasi“ gegangen. Der Kontakt zu hoch-
rangigen Geheimnisträgern des Ministeri-
ums für Staatssicherheit war hilfreich, als
es um die Enttarnung der in der DDR unter-
getauchten RAF-Terroristen ging – bei ei-
ner spektakulären Pressekonferenz konn-
te Diestel die Festnahmen verkünden.
Sein Unwillen, sich von der DDR-Vergan-
genheit entschieden abzugrenzen, hat sei-
nem Ruf im Westen geschadet. Das weiß er
selbst. Zu den offiziellen Feiern zur deut-
schen Einheit sei er noch nie eingeladen
worden. Im Osten erfreut sich der frühere
Präsident des Fußballvereins Hansa Ros-
tock dagegen großer Beliebtheit, wie ein
Auftritt im MDR-„Riverboat“ im Septem-
ber zeigte: Da gab es tosenden Beifall, als
Diestel über die Verteidigungsministerin
Annegret Kramp-Karrenbauer lästerte,
die „noch nie ’nen Schuss gehört“ habe.
Mitten in der Sendung klingelte sein Han-
dy – mit der DDR-Hymne als Melodie, die
ihn daran erinnert, „woher ich komme“. In
der Sendung verblüffte er die Moderato-
ren mit einer Selbsteinschätzung, die man
wahlweise als Selbstkritik oder als Über-
mut deuten kann: „Meine Arroganz, meine
Überheblichkeit und mein Drang, erfolg-
reich zu sein“, das habe ihm schon 1990 ge-
holfen. „Wir haben das größte Glück er-
lebt, das ein Volk erleben kann – die Ein-
heit“, sagte Diestel im „Riverboat“.
Nach einer guten Flasche Rotwein
wiederholt er den Satz auch zu Hause in
Zislow. Und klingt dabei dann doch ganz
versöhnlich. christian mayer
DEFGH Nr. 259, Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019 30 JAHRE FALL DER MAUER 55
Noch Jahrzehnte nach der
Wende wusste man nicht, wer die
Mädchen auf dem Bild sind
Die eine zieht in die Schweiz,
die andere nach Gießen. Sie
finden sich lange nicht wieder
Wo bleibt die Anerkennung?
Peter-Michael Diestel war als letzter Innenminister der DDR eine schillernde Figur. Heute kritisiert er die westdeutschen Eliten für ihre Ignoranz
Das Foto der „Mauermädchen“
wurdeins Weltdokumentenerbe
der Unesco aufgenommen
Rosemarie Badaczewski (li.) und Kriemhild Meyer sind Symbol dafür, was die Teilung für das Leben vieler Menschen bedeutete. FOTO: LANDESARCHIV BERLIN / HORST SIEGMANN
SZ-Grafik: Sara Scholz; Quelle:Deutscher Olympischer Sportbund
OLYMPISCHE
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IN SEOUL
Gold
Silber
Bronze
Ostdeutschland
1988
Gold
Silber
Bronze
Westdeutschland
11
37
14
15
35
30
Berlin, Harzer Straße,
Ecke Mengerzeile:
Im Juni 2019 reichen
sich die Freundinnen,
heute beide 73, die
Hand – genau so, wie
sie es vor 58 Jahren
taten.
FOTO: VERENA MAYER