einem Wettkampf der Meinungen das zu
bekommen, was man früher einmal Deu-
tungshoheit nannte. Es ist der Kampf da-
rum, welche Auslegung relevant ist und
welche nicht.
Die Debatte um Meinungsfreiheit selbst,
ihr Umfang und ihre Wirkmächtigkeit zei-
gen ziemlich exakt, wie sich heute Öffent-
lichkeit konstituiert, vom politischen Wett-
kampf bis hinunter in die Gefühlswelten
der Bürger, die verunsichert sind und da-
mit politisch labil. Sie zeigt die Macht der
sozialen Netzwerke und der Onlineplatt-
formen, aber auch das Chaos, das die digi-
talen Zeiten in der Sphäre der vierten Ge-
walt angerichtet haben. Unsere Öffentlich-
keit, so scheint es, ist ein Tollhaus der Mei-
nungen und Beschimpfungen, Weltan-
schauungen und Zumutungen.
Und tatsächlich hat sich sehr real etwas
verändert, Rechtspopulisten stehen in fast
allen Weltregionen an der Spitze von Re-
gierungen, sie haben ein Faible dafür, sich
die Wirklichkeit so hinzubiegen, wie sie
ihnen passt. Donald Trump und Boris
Johnson sind nur die bekanntesten, in
Polen, in Brasilien oder auf den Philippi-
nen ist es nicht viel anders. Und auch in
Deutschland hat das Erstarken der AfD
die öffentliche Debatte massiv beeinflusst.
Es gibt eine Reihe von Umfragen und
Studien, die zeigen, wie sich das Mei-
nungsklima verändert hat, und die andeu-
ten, welche Folgen das haben könnte.
Zwei Drittel der Bürger, so das Allensbach-
Institut für Demoskopie im Mai, seien
überzeugt, man müsse heute aufpassen,
zu welchen Themen man sich wie äußere.
Gemeint sind Themen wie Flüchtlinge, Is-
lam, Nazizeit und Juden, Rechtsextremis-
mus und AfD. Allerdings bewerten Ale-
xander Gaulands Spruch, dass Hitler und
die Nazis nur »ein Vogelschiss in über
1000 Jahren erfolgreicher deutscher Ge-
schichte« seien, 76 Prozent als inakzep -
tabel. Mehr als die Hälfte sagt aber auch,
»dass es ihnen auf die Nerven geht, dass
einem immer mehr vorgeschrieben wird,
was man sagen darf und wie man sich zu
verhalten hat«.
Die Shell-Studie, eine gerade veröffent-
lichte Untersuchung über die Vorstellun-
gen und Gedankenwelt von mehr als 2500
jungen Menschen zwischen 12 und 25 Jah-
ren, stellt Ähnliches fest. Zwei Drittel der
Befragten glauben, man dürfe in Deutsch-
land nichts Schlechtes über Ausländer sa-
gen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu
werden. Mehr als die Hälfte findet, »die
Regierung verschweigt der Bevölkerung
die Wahrheit«. Immerhin noch ein Drittel
fürchtet, die Gesellschaft werde »durch
den Islam unterwandert«.
Das sind keine Zufallstreffer, die Empirie
macht einen robusten Eindruck: Als Infra-
test Dimap vor den Landtagswahlen in
Sachsen und Brandenburg die Bürger be-
fragte, stimmten 64 Prozent der Branden-
burger und 69 Prozent der Sachsen der
Aussage zu, man werde »bei bestimmten
Themen heute ausgegrenzt, wenn man sei-
ne Meinung sagt«. Laut der »Mitte-Studie«
der Friedrich-Ebert-Stiftung beklagen sich
55 Prozent der Befragten, es gebe ein Mei-
nungsdiktat in Deutschland. Und bei einer
Umfrage des PEN-Zentrums unter Autoren
und Journalisten waren es 75 Prozent, die
sich besorgt zeigten über die Situation der
freien Meinungsäußerung in Deutschland.
Schweigespirale nannte man das in den
Siebzigerjahren; damals hieß es, viele kon-
servative Menschen wagten nicht, ihre An-
sichten offen auszusprechen, weil diese
vom über Massenmedien vermittelten
Meinungsklima zu stark abwichen. Inzwi-
schen sind es die Empörungsrhetoriker, die
Entfacher von Shitstorms, die manchen
12 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019
HANNES JUNG / LAIF
Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort,
Schrift und Bild frei zu äußern.
Das Verwaltungsgericht Meiningen hat
entschieden, dass man den AfD-Politiker
Björn Höckeeinen Faschisten nennen darf.