I
n der sehr ordentlichen Wohnung
von Marius Müller-Westernhagen
gibt es für die Vergangenheit einen
eigenen Tisch. Er ist mächtig und
rund, und darauf sind in wahllosem Ne-
beneinander alle wichtigen Trophäen sei-
ner langen Laufbahn versammelt, vom
Bambi bis zur Goldenen Kamera. Für eine
weitere Auszeichnung ist darauf kaum
Platz. Schiebt man den schwarzen Vor-
hang dahinter beiseite, fällt der Blick durch
Panoramafenster auf ein verwitterndes
Denkmal aus Kalkstein und Granit, den
Berliner Dom.
In wenigen Wochen wird Westernhagen
71 Jahre alt. Ein Alter, in dem sich die gro-
ßen Fragen stellen. Auch deshalb hat er in
den vergangenen Monaten ein eigenartiges
Experiment gewagt: Nach mehr als 40 Jah-
ren hat er das grundlegende Album seiner
Karriere noch einmal neu aufgenommen:
»Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz«.
Er spiele um sein Leben diesmal, sagt
er mit angemessenem Pathos. Denn »das
Leben ist verdammt kurz. Es geht nicht
um Ruhm. Wenn ich sterbe, bin ich in
20 Jahren vergessen, ganz einfach. Darü-
ber bin ich mir im Klaren, das finde ich
nicht schmerzlich. Aber deshalb versuche
ich, Dinge zu schaffen, die in ihrer Energie
vielleicht Bestand haben«.
Westernhagen ist etwas älter als die
Bundesrepublik, im Triumvirat mit Udo
Lindenberg und Herbert Grönemeyer ge-
hört er zu ihren wichtigsten Barden. Bei-
zeiten war er fast so etwas wie ihr Gesicht,
je nach Epoche. Was daran liegt, dass er
sich über die Jahrzehnte unterschiedliche
Masken aufgesetzt hat.
In den Achtzigerjahren ätzte er noch
gegen DDR-Liedermacher (»Jetzt hab ich
’nen westdeutschen Plattenvertrag«), eben -
so gegen den ergrünenden Zeitgeist (»Blö-
des Gelaber um saubere Luft«). Da war er
der Prolet in Jeans und Lederjacke, zwi-
schen Hochofen und Trinkhalle.
In den Neunzigerjahren, nach einem ab-
rupten Typwechsel 1987, schwenkten Hun-
derttausende ihre Feuerzeuge zu seiner Re-
vierfolkore (»Wieder hier«), zu seiner
Wendehymne (»Freiheit«) – und auf der
Heimfahrt liefen Hits wie »Sexy« oder
»Willenlos« im Autoradio rauf und runter.
Aber die Geschichte der Marke Western-
hagen ist eine Geschichte der Missverständ-
nisse. Nie war er »unser Marius«, für den
ihn viele hielten. Schon mit seiner Doppel-
rolle als Schauspieler und Musiker irritierte
er. Im Roadmovie »Theo gegen den Rest
der Welt« gab Westernhagen 1980 einen
Fernfahrer, den die Suche nach seinem ge-
stohlenen Lkw von Herne bis nach Genua
führte. Ein europäisches Roadmovie, in
dessen Mittelpunkt der Malocher aus dem
Ruhrpott stand. Bald war Westernhagen
von Theo kaum mehr zu unterscheiden.
Wenn der Schauspieler mit seiner Rolle
verwechselt wurde, dann deshalb, weil er
sie als Sänger bereits glaubhaft etabliert
hatte. Im selben Jahr wie »Theo gegen den
Rest der Welt« war das Album »Sekt oder
Selters« erschienen. Und »Mit Pfefferminz
bin ich dein Prinz« von 1978 entwickelte
sich vom überschaubaren Erfolg zum Kult-
album. Nicht nur im Repertoire des Künst-
lers, auch im Plattenschrank der Republik.
Am verhuschten Rock ’n’ Roll konnte
das nicht liegen. Es waren die Texte,
mit denen Westernhagen den Rotz und
die Zärtlichkeit der Musik auf das Wort
ausdehnte. Ausgedachtes, Abgelauschtes,
Aufgeschnapptes, zu dadaistischen Dra-
moletten gefügt und in Rollenprosa vor-
getragen. Was ihm damit glückte, war die
Anthologie einer Ära. Deutschland von
schräg unten. Milieu.
1978 waren Arbeitslose noch Drücke -
berger, Langhaarige noch Bombenleger
und Schwule noch Außenseiter. Auf »Mit
Pfefferminz bin ich dein Prinz« hatten sie
al le ihren großen Auftritt, vom bankrotten
Glücksritter (»Oh, Margarethe«) bis zum
Alkoholiker (»Alles in den Wind«). Mit »Gi-
selher« wagte Westernhagen das vermutlich
erste schwule Liebeslied für den deutschen
Mainstream, weil »gerade jemand, der das
nicht ist, es einfach mal machen musste«.
Aufgewachsen ist Westernhagen im
katholischen Rheinland. Er war Messdie-
ner. Die Mutter arbeitete als Beamtin im
Ernährungsministerium. Der Vater war
Mitglied im Ensemble von Gustaf Gründ-
gens, trank viel und starb früh. Später leb-
te Marius ein paar Wochen mit den Kom-
munarden Rainer Langhans und Uschi
Obermaier.
Beide Optionen seiner Generation, das
Beharren und den Aufbruch, wischte er
im Titellied mit einer Strophe beiseite:
»Glaubst du an den lieben Gott? Oder an
Guevara? Ich glaube an die Deutsche
Bank, denn die zahlt aus in bar, aaah!«
In »Mit 18« nimmt Westernhagen, noch
nicht einmal 30, sein heutiges Leben als
arrivierter Rockstar vorweg: »Ich hab ein
Luxusauto«, jammert er im Duett mit
einer Bluesharp, »und ich hab ’ne tolle
Wohnung, doch was mir fehlt, das ist ’ne
richtige Dröhnung«.
Jetzt, mit 70, sieht man ihn in der Video-
dokumentation zu seinem neuen Album
»Das Pfefferminz-Experiment«, das kom-
mende Woche erscheint, aus einem Cadil-
lac-SUV steigen. Ohrring, Sakko, breit-
krempeliger Sommerhut, auf eine kleine
Kirche in den USA zuschreitend. Als er die
Schwelle übertritt, wird der Film, der im
Frühjahr im Ersten läuft, schwarz-weiß und
die Kirche zum Studio. Darin erwartet ihn
die Band um Larry Campbell, der schon
mit Bob Dylan gespielt hat, mit Emmylou
Harris und Elvis Costello. Westernhagen
fragt: »Are you ready?«, und dann spricht
er mehr, als er singen würde, mit dunkler
Stimme die prophetische Selbstbeschrei-
bung von 1978. Auf »Dröhnung« liegt ein
wuchtiger, beinahe sakraler Hall.
In manchen Songs tritt eine Ironie und
Tiefe zutage, die dem Original nicht anzu-
hören war. Bei »Dicke« wird das Wort
»Blähungen« von einer perlenden Gitarre
umspielt. »Johnny Walker« wird noch
kenntlicher als das tieftraurige Lied über
Alkoholsucht, das es schon immer war.
Künstlerisch ist »Das Pfefferminz-Ex -
periment« geglückt. Keine Nostalgie, kei-
126 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019
Kultur
Was bleibt
PopMarius Müller-Westernhagen wagt ein Experiment: In einer Kirche
bei Woodstock hat er sein Erfolgsalbum »Mit Pfefferminz
bin ich dein Prinz« von 1978 noch einmal aufgenommen. Warum?
Albumcover, 1978
»Ich hab ’n Luxusauto«