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Kino
Berückend böse
Ein solches Frauenporträt ist selten im
deutschen Film, kraftvoll, furchterregend,
aberwitzig und von schneidender Schär-
fe. Corinna Harfouch spielt in dem Psy-
chothriller »Lara« (Kinostart: 7. Novem-
ber) eine Frau von berückender Bösartig-
keit. Regisseur Jan-Ole Gerster, der
2012 mit seinem Regiedebüt »Oh Boy«
auf sich aufmerksam machte, folgt der
pensionierten Beam-
tin Lara Jenkins von
morgens bis abends
durch ihren 60. Ge -
burtstag. Gleich in
der ersten Szene
scheint sie sich aus
dem Fenster stürzen
zu wollen, doch dann
fällt ihr ein, dass es
noch ein paar Men-
schen gibt, denen sie
das Leben schwer
machen könnte. Zum
Beispiel ihrem Sohn
Viktor (Tom Schil-
ling), der zu ihrem
Leidwesen besser
Klavier spielt als sie
selbst. Wie sie ihn
vor einem Konzert, bei dem er eigene
Kompositionen aufführen will, völlig ver-
unsichert, wie sie bei ihm im richtigen
Moment die richtigen Tasten drückt, das
ist ein großes, düsteres Vergnügen.
Harfouch, 65, spielt so fein moduliert,
dass der Zuschauer ihrer Figur trotz der
Unausstehlichkeit nicht von den Fersen
weichen mag. Mit präzise komponierten
Bildern schaffen Gerster und sein Ka -
meramann Frank Griebe für Harfouchs
Darstellung den perfekten Rahmen. LOB
Nils MinkmarZur Zeit
Schwieriger Begriff
Als am Montagabend in Mün-
chen der Theodor-Herzl-
Preis an Angela Merkel ver-
liehen wurde, war oft vom
»Zivilisationsbruch der
Schoa« die Rede, wenn die
Verbrechen der Deutschen an
den europäischen Juden angesprochen
wurden. Es schien, als wäre dies die
neue Formel, um öffentlich über diese
Dinge zu reden – umfassend, gravi -
tätisch und doch abstrakt genug, um
nicht zu schockieren.
Tatsächlich ist der Begriff kompli-
ziert, er geht auf den Historiker Dan
Diner und den Philosophen Jürgen
Habermas zurück. Er weist auf die
umfassende, tief reichende und einmali-
ge Qualität des Verbrechens hin und
bildet seitdem einen Ausgangspunkt
für das wissenschaftliche und kulturelle
Nachdenken über den Holocaust.
Falsch ist er nicht – aber wenn sich
mehrere politische Redner seiner routi-
niert bedienen, verliert er an Trenn-
schärfe, verwandelt sich in einen Code.
Wenn man Schülerinnen, Passanten,
Müßiggänger in der Fußgängerzone
befragt – was würden sie sich wohl
unter dem »Zivilisationsbruch
der Schoa« vorstellen? Ein Bruch der
Zivilisation könnte doch heilbar sein,
durch Gips und Bänder. Oder er ver-
spricht weitere Ressourcen, wie dem
Steinbruch die Steine nicht ausgehen,
so müsste doch auch der Zivilisations-
bruch über sicheren Nachschub ver -
fügen. Ein Einbruch in der Decke der
Zivilisation, so was lässt sich doch
re parieren? Das alles führt assoziativ
in eine falsche Richtung.
Die Eleganz der Formel umgeht den
krassen Horror, den sie bezeichnen
möchte und muss. Nun eignet sich nicht
jede Rede, nicht jeder Anlass, um in
aller Deutlichkeit den Schrecken und die
Verzweiflung der Opfer des Nationalso-
zialismus zu beschwören. Man hält es ja
gar nicht aus. Noch die weitestgehenden
Darstellungen der Verbrechen jener Zeit
in Film und Literatur sind eigentlich Ver-
niedlichungen. Man mag von Massen-
mord reden, von den tausend Wegen, in
denen Verbrechen an Juden angekün-
digt, geplant und begangen wurden, und
wie daraus ein großes Verbrechen
gegen die Menschlichkeit wurde. Es gibt
keine geeignete Formel, keine guten
Wörter, wir müssen sie immer wieder
neu finden, neu verwerfen.
An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und
Elke Schmitter im Wechsel.
Streaming
Anspruchsvolle
Couch-Potatoes
Die Tübinger Medienwissenschaftlerin
Susanne Marschall, 55, über den
Start des Streamingdienstes Apple TV+
am 1. November und den Medien -
umbruch, der sich gerade vollzieht
SPIEGEL:Frau Marschall, der Technolo-
giekonzern Apple wird mit teuren Eigen-
produktionen in den stetig wachsenden
Streamingmarkt einsteigen. Serien und
Filme gab es für die Presse vorab nicht zu
sehen. Lässt sich dennoch sagen, wohin
der Konzern mit Apple TV+ will?
Marschall:Entscheidend wird sein, ob
Apple es schafft, wirklich originelle Filme
und Serien zu entwickeln. Natürlich
müssen alle Mitspieler im Streaming-
markt innovativ sein. Aber für Apple gilt
das ungleich mehr, weil der Konzern
sich mit Eigenproduktionen erst etablie-
ren und Zuschauer gewinnen muss.
Bisher ist er ja ausschließlich als Tech -
konzern bekannt.
SPIEGEL:Warum macht sich Apple
überhaupt plötzlich an ein solches
Abenteuer?
Marschall: Weil der Streamingmarkt
zwar schon riesig, erstaunlicherweise
aber noch immer nicht gesättigt ist –
auch wenn sich erst zeigen muss,
welche Anbieter in diesem harten
Kampf am Ende übrig bleiben.
SPIEGEL:Wir erleben derzeit mit
dem rasanten Aufstieg von
Streamingangeboten einen Um -
bruch in der Medienwelt. Wie ändert
sich unser TV-Konsumverhalten
dadurch?
Marschall:Im Moment ist dieser
Umbruch so dynamisch, dass niemand
vorhersagen kann, wie wir in Zukunft
fernsehen werden. Alle, von den Produ-
zenten über die TV-Sender bis zu den
Zuschauern und uns Filmlehrenden, sind
davon überrollt worden. Wir müssen
sehr vieles neu lernen.
SPIEGEL: Was zum Beispiel?
Marschall:Lange ging man davon
aus, das Publikum bestünde aus lauter
Couch-Potatoes, die bespaßt werden
wollen. Das war falsch. Zuschauer
wählen heute mehr komplexe Inhalte
als je zuvor, das machen Streaming -
anbieter wie Netflix vor. Das gilt übri-
gens auch für die Generation 50 plus,
die sich inzwischen ebenfalls massiv
in Richtung Streaming bewegt. Damit
hatte niemand gerechnet. KAE
FREDERIC BATIER / STUDIOCANAL
Harfouch (M.) in »Lara«