Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

E


ine kleine Frau zwischen Bücher -
bergen im neuen Suhrkamp-Haus
in Berlin. Draußen wird noch ge-
baut, man muss sich an Bauzäunen ent-
lang ins Gebäude hangeln. Im großen
Konferenzraum steht an einer Wand ein
gigantisches Regal, noch ganz weiß und
leer. Isabel Allende, 77, sitzt zwischen
Exemplaren ihres neuen Buches an einem
Tisch und signiert. Ein paar Kartons voller
unterschriebener Allendes stehen schon
neben ihr. Sie unterbricht kurz, schaut auf,
und sofort ist diese positive Energie im
Raum: ihre großen Augen, ihre Wachheit,
Neugierde, Wärme.
Allende hat einen neuen Roman ge-
schrieben, »Dieser weite Weg«, eine Lie-
besgeschichte natürlich, aber auch eine
politische Geschichte Chiles, ein Einwan-
dererroman, ein Buch über den politischen
Dichter Pablo Neruda und den Staats-
mann Salvador Allende, der ein Cousin
von Isabelles Vaters war. Der Roman be-
ginnt 1938 in Katalonien und endet 1994
in Chile. Das Gespräch beginnt in der
politischen Gegenwart Chiles.
Denn dort brennt es gerade. Mindes-
tens 20 Menschen sind in den vergange-
nen Wochen bei Protesten ums Leben ge-
kommen. Mehr als eine Million Menschen
demonstrierten vergangenes Wochenende
auf den Straßen der Hauptstadt Santiago
gegen die Regierung, erst fuhr die Re -
gierung Panzer auf, dann tauschte der
Präsident alle wichtigen Minister seines
Kabinetts aus, will selbst aber im Amt
bleiben. Sogar den lange geplanten UN-
Klimagipfel musste der Präsident wegen
der Unruhen absagen.
Allende, 1942 geboren und, nachdem
ihr Vater die Familie verlassen hatte, im
Haus ihres vermögenden Großvaters in
Santiago aufgewachsen, ging 1975 aus
Chile weg, zur Zeit der Militärdiktatur un-
ter Augusto Pinochet. Sie ging nach Vene-
zuela ins Exil. Dort schrieb sie »Das Geis-
terhaus«, jenen Familienroman, der sie
weltberühmt machte. Jahre später zog sie
dann der Liebe wegen nach Kalifornien
und ist seit 1993 US-amerikanische Staats-
bürgerin. Sie sagt: »Ich habe ein Bein in
den Vereinigten Staaten, eines in Chile.
Ich muss mich nicht entscheiden.«


Isabel Allende: »Dieser weite Weg«. Aus dem Spa -
nischen von Svenja Becker. Suhrkamp; 382 Seiten;
24 Euro.


Ob sie überrascht war über die Proteste
in Chile? »Oh ja, ich war sehr überrascht.
Positiv überrascht. In den Nachrichten er-
scheint ja Chile immer als wohlhabendes,
politisch stabiles Land. Aber wovon man
nichts erfährt, das ist diese unglaublich
ungleiche Verteilung des Wohlstands. In
Chile wurde alles privatisiert. Das Wasser,
die Stromversorgung, die Verkehrsmittel,
das Gesundheitswesen, die Bildung. Für
alles müssen die Menschen bezahlen. Und
die Gehälter der Mehrheit sind niedrig.
Die Menschen können sich die einfachsten
Dinge nicht mehr leisten. Und diese Armut
wurde nie gezeigt.«
Jetzt zeigt sie sich, und der Protest ist
unüberhörbar laut. Allende verfolgt es
intensiv. »Die Eliten haben den Kontakt
zur Mehrheit des Volkes verloren. Die
›Besitzer von Chile‹ – ganz im Ernst, so
nennen sie sich selbst, ist das nicht ver-

rückt? –, sie werden zugeben müssen,
dass sich im Land etwas ändern muss.
Und es wird sich etwas ändern.«
Isabel Allende strahlt eine große Zu -
versicht aus. Die Menschen hätten keine
Angst mehr, glaubt sie. Es sind vor allem
junge Leute, die protestieren. Sie haben
die Zeit der Militärdiktatur, das Grauen,
die Gewalt, die Folter, das Verschwinden
von Menschen unter Pinochet nicht selbst
erlebt. Die Erinnerung an diese historische
Epoche verblasse.
»Sie erinnern sich nicht. Aber ich erinne -
re mich, wenn ich jetzt das Militär in den
Straßen von Santiago sehe«, sagt Allende.
Wie es weitergehen werde? »Vielleicht
wird der Präsident ein Referendum ausru-
fen. Es wird auf alle Fälle einen politischen
Wechsel geben. Und er wird friedlich sein.
Da bin ich mir sicher. Wir werden keinen
erneuten Militärputsch erleben.« Was sie
da so sicher mache? »Damals, 1973, hat
die Hälfte der Bevölkerung Lateinameri-
kas unter irgendeiner Diktatur gelebt. Es
gab überall Unterdrückung. Diese Zeiten
sind vorbei.« Eines fehle der Opposition
allerdings: ein politisches Programm. »Nie-

mand hat einen Plan. Diese Bewegung hat
keine Führer und keine Agenda.«
Wäre das nicht ihr Moment? Sie, die
populärste Chilenin der Welt mit ihren un-
gefähr 70 Millionen verkauften Büchern?
Die auch noch entfernt verwandt ist mit
dem legendären Salvador Allende? Dem
Sozialisten und Demokraten, der bis heute
für viele eine Lichtgestalt lateinamerika-
nischer Politik ist.
Isabel Allende muss herzlich lachen.
»Ich habe dazu überhaupt kein Talent. Ich
wäre als Politikerin ein Desaster.« Warum
denn das? Sie schüttet sich aus vor Hei-
terkeit: »Nun, ich bin sehr leidenschaftlich,
ich bin indiskret. Ich kann meine Zunge
nicht im Zaum halten. Und ich hasse Kom-
promisse.« Könnte man für die leidigen
Kompromisse nicht jemanden einstellen?
»Nein, nein, nein. Das würde niemals
funktionieren. Ich kann schreiben und
sonst nichts.«
Salvador Allende war von 1970 bis 1973
chilenischer Präsident. Er war ein enger
Freund von Isabels Stiefvater. Als Präsi-
dent ernannte er ihn zum Botschafter in
Argentinien. Sie waren häufig in Kontakt
damals, »wir hatten öfter Lunch oder Din-
ner mit ihm. Eine Familiensache. Er war
witzig, schlagfertig, wahnsinnig schnell, er
las viel und schlief wenig. Eine bewun-
dernswerte Person«.
In Isabel Allendes aktuellem Roman
kommen er und seine Politik allerdings
nicht sonderlich gut weg. Er veranlasste
zwar die Verstaatlichung zahlreicher Un-
ternehmen, um die soziale Lage der Be-
völkerung zu verbessern. Doch die blieb
schlecht, auch aufgrund der Einmischung
der USA. »Nicht bloß Lebensmittel ver-
schwanden vom Markt, auch Ersatzteile
für Maschinen, Autoreifen, Zement, Win-
deln ...« Sogar das Benzin wurde ratio-
niert. »Aber im Volk herrschte weiterhin
Aufbruchstimmung«, schreibt Allende in
ihrem Buch. »Oh ja«, sagt sie jetzt. »Die
soziale Situation war nicht nur schlecht.
Sie war schrecklich.«
»Dieser weite Weg« kreist um den chi-
lenischen Literaturnobelpreisträger Pa-
blo Neruda, einen Mann, der Poesie und
Politik verband. Er war Kommunist, der
selbst einmal, von seinen Parteifreunden
gedrängt, für das Amt des chilenischen
Präsidenten kandidierte, nachdem Allen-
de dreimal in Folge verloren hatte. Doch
er brach den Wahlkampf ab und unter-
stützte schließlich Allende bei dessen
viertem Anlauf, bei dem er schließlich Prä-
sident wurde.
Die wichtigste Rolle, die Neruda jetzt
im Roman spielt, ist die des Mannes,
der nach der Niederlage der Republi -
kaner im Spanischen Bürgerkrieg 1939
das Flüchtlingsschiff »Winnipeg« organi-
sierte und den chilenischen Präsidenten
von der Notwendigkeit überzeugte, die

130 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019


Kultur

»Ich wäre ein Desaster«


LiteraturChile wird von Unruhen erschüttert. Die Schriftstellerin
Isabel Allende, deren neues Buch eine politische Geschichte ihrer Heimat
ist, glaubt trotzdem, dass die Dinge sich zum Besseren wenden.

»Wir werden keinen
erneuten Militärputsch
erleben. Da bin ich mir
sicher.«
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