Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

Milieu weit verbreitet. Der Dialog mit
Rechten sei verpönt, weil er angeblich de-
ren politische Inhalte salonfähig mache.
»Ich wäre der Letzte, der sagen würde,
dass das rechte Denken nicht durchaus
eine Gefahr beinhaltet«, sagt Nassehi,
»aber es ist doch sehr naiv zu glauben, man
könne die Macht falscher Ideen begrenzen,
indem man sie sich vom Leibe hält.«
Die Behauptungen der neuen Rechten,
sie spreche Tabus als Einzige offen an, zö-
gen Wähler an. Dabei werde in Deutsch-
land niemand daran gehindert zu sagen,
was er denke, findet Nassehi. Aber das Pro-
blem sei das Internet, das zwei widersprüch-
liche Dinge produziere: »Die freie Möglich-
keit, alles zu sagen. Und die unbegrenzte
Möglichkeit, für alles auf den Deckel zu be-
kommen. Auch für vernünftige Einlassun-
gen.« Daher das Gefühl der Unfreiheit.
Vielleicht veranschaulicht der Fall des
Verlegers Stefan Kruecken, wie es zu die-
sem Gefühl kommt. Kruecken betreibt ge-
meinsam mit seiner Frau Julia einen klei-
nen Literaturverlag in Norddeutschland.
Vor drei Wochen hätte er die Allensbach-
Frage, ob man in Deutschland aufpassen
muss, was man sagt, mit Kopfschütteln be-
antwortet. Ein Facebook-Eintrag zu Bernd
Lucke auf seiner Verlagsseite Ankerherz
hat diese Gewissheit erschüttert.
Nach Luckes gescheiterter Antrittsvor-
lesung schrieb Kruecken: »Was heute an
der Hamburger Universität passiert ist,


sollte jedem, der unsere Demokratie lebt,
Sorge bereiten. Bernd Lucke als ›Nazi-
Schwein‹ zu beschimpfen, ihm das Wort
zu verbieten, ihn niederzubrüllen unter
der Fahne der Antifa, das ist zutiefst un-
demokratisch.«
Ankerherz ist kein Verlag, der der AfD
nahesteht. Im Gegenteil: Das bislang er-
folgreichste Buch »Sturmwarnung« ist die
Biografie eines Hamburger Kapitäns, der
als Kind überzeugter Nazis in Kriegstrüm-
mern aufgewachsen ist und heute Tole-
ranz und Weltoffenheit in Gefahr sieht.
Seit Jahren publiziert Ankerherz Kom-
mentare gegen AfD und Pegida, die dem
Verleger Morddrohungen einbrachten.
Doch nun, so Kruecken, sammelten sich
in 72 Stunden mehr als 5000 Kommenta-
re unter seiner Warnung, die Demokratie
sei in Gefahr.
Kruecken wurde als »Nazi-Kuschler«,
oder »Lucke-Ficker« beschimpft, der sich
eine schwarze Uniform kaufen und Blitze
ans Revers pinnen sollte. »Mitte mich nicht
an« und »Du Mitte-Extremist« lauteten
zwei der Beschimpfungen, die Kruecken
oft zu lesen bekam, so als wäre der gefähr-
liche Feind längst schon in der politischen
Mitte zu finden.
Was ihn besonders beunruhigt habe,
sei gar nicht so sehr das »Hassgebrüll aus
dem Facebook-Urwald« gewesen, sagt
Kruecken, sondern Einträge von Unter-
stützern, die beteuerten, sie sähen die

Proteste gegen Luckes Vorlesung so kri-
tisch wie er, trauten sich aber nicht, das
offen zu sagen.
Aber vielleicht hat sich gar nicht so sehr
der Ton verändert, vielleicht ist nur die
Sehnsucht nach Harmonie und Sicherheit
größer geworden. Denn die politische Aus-
einandersetzung war schon immer rau, ge-
pöbelt wurde immer. Der langjährige CSU-
Vorsitzende Franz Josef Strauß etwa fabu-
lierte 1974 von »roten Ratten«, die man
dorthin jagen müsse, »wo sie hingehören –
in ihre Löcher«. Joschka Fischer rotzte
1984 den stellvertretenden Bundestagsprä-
sidenten Richard Stücklen (CSU) an, die-
ser sei, mit Verlaub, ein »Arschloch«.
Seit je erfreuten sich Nazi-Vergleiche
besonderer Beliebtheit. Friedensnobel-
preisträger Willy Brandt bezeichnete 1985
den CDU-Politiker Heiner Geißler als
»schlimmsten Hetzer« seit Joseph Goeb-
bels; Helmut Kohl ätzte 2002 über den da-
maligen Bundestagspräsidenten Wolfgang
Thierse, dieser sei der »schlimmste Präsi-
dent seit Hermann Göring«.
In den Fünfzigerjahren wurden Redner-
bühnen und Versammlungen gestürmt,
Plakate abgerissen, sogar mit Rücken -
deckung von oben. CDU-Kanzler Konrad
Adenauer dankte der Parteijugend nach
seinem Wahlsieg 1953 dafür, dass sie »oft
unter Einsetzung ihrer Fäuste den Plakat-
krieg geführt« habe. In der hochpolitisier-
ten Atmosphäre der späten Sechzigerjahre
eskalierte die Gewalt auf beiden Seiten.
Im Wahlkampf 1969 gab es mehr als 200
Verletzte.
Und doch hat sich verändert, was wir
heute unter Politik verstehen. Die großen
Konflikte, so beschreibt es der Berliner
Autor und Mitarbeiter der Friedrich-
Ebert-Stiftung, Marc Saxer, seien nicht
mehr materieller Art, sondern kulturell
geprägt. Statt Verteilungskonflikten
würden Haltungsfragen verhandelt. Ge-
schlechtergerechtigkeit? Im Kern sei das
der Konflikt darum, dass Frauen mehr
wollen: mehr Einfluss, mehr Macht, mehr
Geld. Und dass Männer abgeben müssen.
Verhandelt aber werde vor allem die
Sexualmoral. Klimawandel? Eigentlich
ein Konflikt um große materielle Fragen,
wie man das Wachstum begrenzt und
wie viel das kostet, aber besprochen wer-
den persönliche Haltungsfragen wie
Fleischverzicht und Flugscham, es geht
um Lebenswandel und die persönliche
Haltung. Das Private ist so politisch wie
lange nicht mehr.
Klassische materielle Verteilungskon-
flikte sind, zumindest theoretisch, leichter
lösbar. Der eine will mehr haben, der an-
dere weniger geben, idealerweise einigt
man sich irgendwo in der Mitte. Bei kultu-
rellen Konflikten indes gibt es keine Kom-
promisse. Erst recht, wenn die Pole dieser
politisch-kulturellen Konflikte, der liber-

16 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019

CHRISTIAN THIEL

Der Druck des öffentlich Unausgesprochenen sei


gewachsen wie in einem Dampfdrucktopf.


In Potsdam kam es 2010 zu Protesten

gegen den umstrittenen

Bestsellerautor Thilo Sarrazin.

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