Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1
DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019 27

Doktortitel

Kritik an Entscheidung


über Giffey


 Ein Plagiatsjäger von VroniPlag
Wiki äußert Unverständnis über die
Entscheidung der Freien Universität,
Bundesfamilienministerin Franziska
Giffey (SPD) nicht den Doktortitel zu
entziehen, sondern sie lediglich zu
rügen. Er habe die Berliner Hochschule
im Umgang mit Plagiaten bisher stren-
ger erlebt, sagt VroniPlag-Mitstreiter
Gerhard Dannemann. Der Wissen-
schaftler wies auf den hohen politi-
schen Druck hin. Für die erteilte Rüge
fehlt es nach Dannemanns Einschät-
zung an einer rechtlichen Grundlage.
»Die Rechtsprechung lässt eine solche
Rüge zu, wenn das in der Promotions-
ordnung vermerkt ist«, kritisiert der
Jurist. Dies sei an der Freien Universi-
tät (FU) aber nicht der Fall. Der eme -
ritierte FU-Professor und Sozialwissen-
schaftler Peter Grottian hat Giffeys
Arbeit nicht nur wegen etwaiger Fäl-
schungen kritisiert, sondern wegen
mangelnder wissenschaftlicher Distanz:
In der Auseinandersetzung mit ihrem
Promotionsthema, der Be teiligung
der Zivilgesellschaft an der EU-Politik
am Beispiel von Berlin- Neukölln,
habe Giffey als damalige Europabeauf-
tragte von Neukölln »direkt und in -
direkt über sich selbst« geschrieben,
hatte Grottian im April öffentlich
moniert. RED


Fall Jalloh

»Ungeheuerlicher Verdacht«


Der Bochumer Strafrechts-
professor Tobias Singeln-
stein, 42, über neue
Indizien im Fall des 2005
in Polizeigewahrsam
in Dessau verbrannten
Asylbewerbers Oury
Jalloh aus Sierra Leone

SPIEGEL:Bei der Auswertung einer Com-
putertomografie des Leichnams von Jal-
loh hat ein Radiologe jetzt festgestellt,
dass dieser neben einem Nasenbeinbruch
auch Frakturen des Schädels und einer
Rippe erlitten hatte – und dass er zu die-
sem Zeitpunkt noch gelebt haben muss.
Was bedeutet das für den Fall?
Singelnstein:Medizinisch kann ich das
nicht beurteilen, aber für die rechtliche
Aufarbeitung sind diese Befunde schon
eine kleine Sensation.
SPIEGEL:Jalloh soll ja in seiner Zelle mit
gefesselten Händen die Matratze ange -

zündet haben, auf der er lag. Wird diese
Annahme damit erschüttert?
Singelnstein:Da gab es schon bisher
viele Fragezeichen, nun kommen weitere
hinzu. Den Nasenbeinbruch soll er sich
ja selbst zugezogen haben, als er seinen
Kopf auf eine Tischplatte schlug – ein
Schädelbruch ist aber noch mal etwas
ganz anderes. Und wie es dann zu der
Rippenverletzung kam, erschließt sich
auch nicht ohne Weiteres. Das lässt noch
mehr daran zweifeln, dass er seine Ma -
tratze selbst anzünden konnte.
SPIEGEL:Das Oberlandesgericht Naum-
burg hat jetzt aber einen Antrag der Initia-
tive »Gedenken an Jalloh« auf neue
Ermittlungen abgelehnt ...
Singelnstein:... das war zu erwarten, die
Hürden dafür sind leider sehr hoch. Das
OLG hat das neue Gutachten offenbar
erst sehr spät erhalten und nur kurz
erwähnt, aber nicht für ausreichend erach-
tet, um die Staatsanwaltschaft zu Ermitt-
lungen zu zwingen.
SPIEGEL:Könnte die Staatsanwaltschaft
aufgrund der Befunde erneut ermitteln?

Singelnstein:Theoretisch ja. Dem letzten
Staatsanwalt, der weiterermitteln wollte,
wurde der Fall aber entzogen. Insofern
glaube ich nicht, dass das noch mal pas -
sieren wird.
SPIEGEL:Schließt sich damit die Akte?
Singelnstein:Der ungeheuerliche Ver-
dacht, dass hier Polizisten einen Men-
schen in Gewahrsam getötet haben, bleibt
ja im Raum. Ich meine daher, der Fall
sollte politisch aufgearbeitet werden, mit
einem parlamentarischen Untersuchungs-
ausschuss. Auch da kann man ja Zeugen
vernehmen und Akten anfordern.
SPIEGEL:Schon zuvor sind zwei Perso-
nen, die auf dieser Polizeiwache in
Gewahrsam waren, gestorben. Ist es wirk-
lich denkbar, dass es dort sogar drei
Todesfälle wegen Misshandlungen gab?
Singelnstein:Das wäre sicher extrem und
erscheint einem kaum vorstellbar. Aber
im Polizeigewahrsam gibt es besondere
Gefährdungen, und die Aufklärung ist
immer schwierig. Umso mehr sollte man
diesem Verdacht mit allen noch zur Ver -
fügung stehenden Mitteln nachgehen. HIP

KATJA MARQUARD / RUB

Mobilität

Bequemer buchen


fürs Klima


 Die Grünen-Bundestagsfraktion setzt
sich für eine Verbesserung der Mobilität
durch eine Vernetzung der Anbieter ein.
Dazu fordert sie die Einführung eines
»MobilPasses«: einer anbieterneutralen
Plattform für alle deutschen Mobilitäts-
Apps, die es Bürgern ermöglichen soll,
bequem ihre Reise von A nach B in ganz
Deutschland zu planen und zu buchen.
Vorbild ist die finnische App »Whim«,
die Nutzer darüber informiert, welche
Verkehrsmittel sie zu welchen Kosten in
welcher Zeit zu ihrem Zielort bringen –

und das passende E-Ticket bucht. »Wir
wollen, dass Bürger unkompliziert mobil
sind, ohne im Tarifdschungel stecken zu
bleiben«, erklärt Fraktionschef Anton
Hofreiter. Der neunseitige Antrag, der in
den nächsten Wochen im Bundestag dis-
kutiert werden soll, gibt nötige Schritte
für den Gesetzgeber vor. So soll dieser
die Anbieter von Mobil-Apps – also loka-
le Verkehrsbetriebe, Carsharing-Dienste
oder die Deutsche Bahn – verpflichten,
»Daten vollständig, zeitnah, maschinen-
lesbar, interoperabel, barriere-, kosten-
und lizenzfrei« bei einer Teilnahme an
MobilPass zur Verfügung zu stellen. Alle
öffentlichen Verkehrsunternehmen sollen
verpflichtet werden, einer Mobilitäts -
plattformgesellschaft beizutreten, sodass
»Netzwerkeffekte« ent-
stünden. Das Geld für
jede Reise soll beim
Fahrgast abgebucht
und anschließend an -
teilig an die einzelnen
Anbieter verteilt wer-
den. Für den Aufbau
von MobilPass fordern
die Grünen jährlich
fünf Millionen Euro aus
dem Bundeshaushalt.
»Im Ergebnis wären
Busse, Bahnen und
Sharing-Angebote bes-
ser ausgelastet«, sagt
der grüne Mobilitäts -
experte Stefan Gelb-
haar, »und der Klima-
schutz verbessert.« AB

JAN WOITAS / DPA
Straßenbahnhaltestelle in Chemnitz
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