Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

stattgespräch zur Flüchtlings-
politik bestand. Sie hielt das
Projekt für schädlich, weil es
das aus ihrer Sicht abgeschlos-
sene Kapitel der Flüchtlings-
krise unnötig wieder öffnete.
Tiefer wurden die Risse, als
in der CDU vor der Europa-
wahl Spekulationen über ei-
nen Rücktritt Merkels lanciert
wurden. In Zeitungen erschie-
nen Gedankenspiele, wonach
Kramp-Karrenbauer Merkel
im Falle eines schlechten Er-
gebnisses auf einer Vorstands-
klausur zum Rücktritt treiben
könnte. Die CDU-Chefin de-
mentierte die Gerüchte erst
nach einigen Tagen deutlich,
zu spät für den Geschmack
des Kanzleramts.
Prompt tauchten gegenläu-
fige Gerüchte auf: Merkel sei
enttäuscht von »AKK«, hieß
es, und habe sie als Nachfol-
gerin abgeschrieben. So wur-
den die Verbündeten immer
mehr zu Konkurrentinnen.
Den Preis der Reibereien
zahlten Kramp-Karrenbauer
und die CDU – nicht Merkel.
Die Kanzlerin konnte ihre
guten Umfragewerte nie in
Erfolge für die Partei ummün-
zen, doch seit ihrem Rückzug
vom Vorsitz scheint sie es
auch nicht mehr zu versuchen. Merkel
wirkt wie befreit von der Last, sich um die
CDU kümmern zu müssen, und agiert, als
ginge die Partei sie nichts an.
Kramp-Karrenbauer, das wurde klar,
steckte in einem Dilemma. Da es für sie
nicht mit Merkel voranging, musste sie sich
gegen Merkel profilieren. Doch Differen-
zen mit der Kanzlerin gehen stets zulasten
der Parteichefin aus.


Die schwache Performance der CDU in
der Regierungsorgt in der Partei flügel -
übergreifend für Missmut. Er ist fast so groß
wie beim Partner SPD und zieht sich durch
alle Bereiche, von der Klimapolitik über
die Migration bis zur Wirtschafts politik.
Und stets reibt sich die Basis an der Pas-
sivität der Kanzlerin. Merkel war nie eine
Frau für Machtworte. Sie glaubt, dass
Basta-Ansagen ihre Wirkung bald verlie-
ren, wenn sie zu oft kommen, und dass
vorschnelle Positionierungen sich rächen.
Es sind die Grundprinzipien ihrer Politik.
Aber seit die Kanzlerin nichts mehr zu ver-
lieren hat, verliert die Union mit diesem
Führungsstil die Geduld.
Am meisten leiden der CDU-Wirt-
schaftsflügel, die Verbände und die Unions-
klientel in den Unternehmen an der Gro-
Ko. BDI-Präsident Dieter Kempf jammer-


te in der »Frankfurter Allgemeinen«, dass
das schwarz-rote Klimapaket »die Wettbe-
werbsfähigkeit der Industrie ruiniert«. Die
Mittelstandverbände klagen, dass sie auf
die versprochenen Gesetze zur Steuersen-
kung oder zum Bürokratieabbau bis heute
warten.
Paradigmatisch für den Zustand der
Koalition ist aber der Streit um die Grund-
rente, in den sich Union und SPD in den
vergangenen Monaten verbissen haben.
Er wird auch deshalb so heftig geführt,
weil große Teile der Unionsfraktion der
SPD nicht länger entgegenkommen wol-
len, um die Koalition zu retten. Zumal die
meisten in der Union damit rechnen, nach
der Kür der SPD-Vorsitzenden wieder mit
neuen Bedingungen für den Erhalt der
Regierung konfrontiert zu werden.
Da Merkels oberstes Ziel der Fortbe-
stand der Koalition zu sein scheint, richtet
sich der Unmut der Abgeordneten primär
gegen sie – aber auch gegen die Parteiche-
fin. »Ich erwarte von Annegret Kramp-
Karrenbauer, dass sie der SPD zeitnah
deutlich macht, dass mit der CDU ein Ab-
weichen vom Koalitionsvertrag nicht zu
machen ist«, sagt der Hamburger Bundes-
tagsabgeordnete Christoph Ploß.
Es sind vor allem die Jungen, die aufbe-
gehren. »Bei der Grundrente geht es um

die Frage: Welche Politik ma-
chen wir als Union?«, sagte
der Chef der Jungen Gruppe
der Union im Bundestag,
Mark Hauptmann. Bei der
Frage einer Bedürftigkeitsprü-
fung »sollten wir uns keinen
Millimeter bewegen«.
Die Erwartung könnte ent-
täuscht werden. Mehrere
Stunden verhandelten Union
und SPD am Donnerstag bis
in die Nacht über die Grund-
rente. Man sei sich näherge-
kommen, hieß es. Das dürfte
die Unzufriedenheit nicht
schmälern.
Selbst Anhänger Merkels
wie der Parlamentarische
Staatssekretär im Wirtschafts-
ministerium, Oliver Wittke,
wollen deshalb »gewappnet
sein« und ähnlich wie die
SPD den Fortbestand der Ko-
alition an Bedingungen knüp-
fen – in erster Linie für die
Wirtschaftspolitik.
Das politische Vakuum,
das Merkels Führungsstil ge-
schaffen hat, konnte Kramp-
Karrenbauer nicht füllen. Ob-
wohl sie den Prozess für ein
neues Grundsatzprogramm
angestoßen hat, weiß die
CDU weniger denn je, wohin
sie strebt.
Dieses Vakuum nutzen die Konservati-
ven jetzt für einen Machtkampf. Sie for-
dern die Besinnung auf die alten Werte,
der Wirtschaftsflügel Vorrang für die
marktwirtschaftlichen Reformen. Die libe-
ralen Unionspolitiker wiederum ringen da-
rum, Merkels Erbe zu bewahren.
Was fehlt, ist das große Herzensthema,
das alle eint.

Goldene Zeiten also für Herausforderer.
Gleich vier Männer werden in der Union
gehandelt. Abgesagt hat vorerst CSU-Chef
Markus Söder. Er muss erst einmal in
Bayern liefern. Mit dem Ergebnis der letz-
ten Landtagswahl, bei der die absolute
Mehrheit verloren ging, ist kein Partei-
freund im Freistaat zufrieden.
Aber Söder hat immer verkündet, er
wolle maximal zwei Legislaturperioden
Ministerpräsident sein. Er wäre folglich im
Jahr 2028 frei für andere Jobs.
Jens Spahn ist der Jüngste im Kandida-
tenkarussell, und Geduld ist nicht seine
stärkste Eigenschaft. Doch er hat dazu -
gelernt. Am Mittwochabend nimmt Spahn
auf einer Bühne in einer ehemaligen In-
dustriehalle am Stadtrand von Düsseldorf
Platz, wo früher Stahl produziert wurde.
War die Attacke von Merz Nestbe-
schmutzung?, fragt die Moderatorin. »Das

DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019 33


DOMINIK BUTZMANN
Herausforderer Merz: Kritik eines Außenseiters
Free download pdf