hilft doch jetzt alles nicht«, sagt Spahn und
wird lauter. Die Regierung habe so viel er-
reicht, »aber gleichzeitig haben wir es ge-
schafft, dass das keiner merkt, weil wir
viel schlechten Streit haben«.
Dann kommt er zur Kanzlerin. Es gebe
»zwar Dankbarkeit und Wertschätzung«,
dass Merkel das Land viele Jahre durch vie-
le Krisen geführt habe. Und dennoch: »Wir
machen uns gerade auf den Weg in ein neu-
es Jahrzehnt, wo sind die neuen Ideen da-
für?« Es brauche Antworten auf die Frage,
wo man hinwolle mit Deutschland.
Angriffe als Sorge um das Land zu ver-
kleiden, das kann Spahn, ebenso wie Nie-
derlagen in Siege ummünzen. Den Partei-
vorsitz mag er vorerst an Kramp-Karren-
bauer verloren haben, dafür hat er an Pro-
fil gewonnen.
18 Gesetze und Entwürfe hat er bislang
vorgelegt, sein Gesundheitsministerium
überhöht er gern mit einer politischen Er-
zählung: Wenn die Politik Vertrauen zu-
rückerobern wolle, müsse es darum gehen,
den Alltag der Menschen spürbar besser
zu machen. Das sieht er auch als Rezept
gegen die AfD.
In Düsseldorf möchte die Moderatorin
wissen, ob Kramp-Karrenbauer nach dem
CDU-Parteitag im November noch Vorsit-
zende ist. »Ja«, presst Spahn heraus. Dann
nimmt er einen Schluck aus dem Wasser-
glas, das vor ihm steht, als müsste er sich
danach den Mund spülen.
Friedrich Merz dürfte in Gedanken
schon bei seinem Auftritt auf dem CDU-
Parteitag Ende November in Leipzig sein.
Er hat sich nach der Niederlage wieder
zurückgeboxt, wird gar als Kanzlerkandi-
dat der Union gehandelt. Besser als Mer-
kel würde er den Job als Regierungschef
allemal machen, davon gibt Merz sich in
kleinen Runden schon lange überzeugt.
Nur möchte er ungern selbst den Arm
heben.
Eine Urwahl des Unions-Kanzlerkandi-
daten, über die der Bundesparteitag auf
Antrag der Jungen Union entscheiden soll,
wäre aus Sicht von Merz und seinen Fans
das perfekte Vehikel: Die Mehrheit der
Basis würde sicher für ihn votieren, glau-
ben sie.
»Annegret Kramp-Karrenbauer ist nicht
nur ungeeignet als Kanzlerkandidatin, son-
dern auch als Parteivorsitzende«, sagt Lau-
renz Kiefer. Er ist Kreisvorsitzender der
Jungen Union München-Mitte und findet,
je früher die CDU-Chefin gehe, desto
besser.
Auf der Landesversammlung der baye-
rischen Jungen Union kam erstmals die
Idee für einen Urwahlantrag auf. Einen
Monat später war JU-Chef Tilman Kuban
beim Oktoberfest in München. Wie meh-
rere Quellen berichten, soll dort die Idee
besprochen worden sein, Merz zum JU-
Deutschlandtag einzuladen und ihm mit
34
Noch hat der Ministerpräsident Zeit,
mindestens bis zum 7. November. Dann
erst wird das endgültige Ergebnis der
Thüringer Landtagswahl verkündet. Da
die FDP nach den vorläufigen Zahlen
äußerst knapp über der Fünfprozent -
hürde in das Parlament eingezogen ist,
kann sie nach einer Kontrolle der Einzel-
ergebnisse noch rausfliegen. Regierungs-
chef Bodo Ramelow (Linke) verabschie-
det sich bis zur Verkündung des Ergeb-
nisses ziemlich lässig in den Urlaub.
Dabei hat Ramelows rot-rot-grüne
Regierung keine Mehrheit mehr, wenn
das Ergebnis so bleibt. Weiterregieren
kann er trotzdem. Nach der Landesver-
fassung bleibt der Ministerpräsident so
lange geschäftsführend im Amt, bis ein
neuer Regierungschef gewählt ist. Und
wenn sich Ramelow selbst im Landtag
zur Wahl stellt, genügt ihm im dritten
Wahlgang eine relative Mehrheit – er
muss nur mindestens eine Stimme mehr
bekommen als andere Bewerber. Auch
Thüringens CDU-Chef Mike Mohring
liebäugelt mit einer Minderheitsregie-
rung unter seiner Führung: Theoretisch
denkbar wäre ein Bündnis aus CDU,
SPD, Grünen und FDP.
Das Regieren ohne Mehrheit ist etwa in
skandinavischen Ländern nicht außerge-
wöhnlich, doch es gibt auch Beispiele aus
Deutschland. Mehr als 30 Minderheits -
regierungen gab es hier seit 1949. Oft hiel-
ten sie nur wenige Wochen, etwa nachdem
ein Koalitionspartner abgesprungen war,
nur manchmal funktionierten sie länger.
Den Langzeitrekord hält der verstorbe-
ne SPD-Mann Reinhard Höppner, der in
Sachsen-Anhalt von 1994 bis 2002 über
zwei Legislaturperioden hinweg Minder-
heitsregierungen anführte – toleriert von
der PDS, der Vorläuferpartei der Linken.
In Nordrhein-Westfalen hielt die Sozialde-
mokratin Hannelore Kraft ab Juli 2010
708 Tage lang ohne Mehrheit durch,
ebenfalls unterstützt von den Linken.
Solche stillen Verbündeten helfen Min-
derheitsregierungen bei wichtigen
Abstimmungen über Gesetze, Personal
oder den Haushaltsplan. Häufig genügt
dafür schon eine Stimmenthaltung.
Aber auch ohne Tolerierung können
Minderheitsregierungen überleben,
wenn die Opposition sich nicht auf eine
Regierungsübernahme einigen kann.
2008 hatten SPD, Grüne und Linke in
Hessen eine Mehrheit, dennoch über-
stand CDU-Ministerpräsident Roland
Koch 306 Tage im Amt, weil SPD-Chefin
Andrea Ypsilanti nicht alle ihre Abgeord-
neten hinter sich bringen konnte. Koch
wurde dafür kritisiert, dass er Mehrheits-
beschlüsse, die ihm nicht passten, allen-
falls schleppend umsetzte. Später sagte
er, das Land sei auch ohne Mehrheit »sta-
bil zu regieren« gewesen.
Die Gefechtslage in Erfurt sortiert der-
zeit Ramelows Staatskanzleichef Benja-
min Hoff (Linke). Er weiß, dass zwei
Drittel der Thüringer laut Forschungs-
gruppe Wahlen eine Minderheitsregie-
rung eher schlecht finden. Doch eine
Alternative gebe es nicht, meint Hoff.
Die Lage scheint gar nicht so ungüns-
tig, solange CDU und FDP auf Distanz
zur AfD bleiben. Hoff fand in einem
Buch des Göttinger Sozialwissenschaft-
lers Stephan Klecha die Empfehlung,
dass Minderheitsregierungen ihre Zustim-
mung im Parlament nicht offen, sondern
»durch zähe Debatten und Aushandlun-
gen im Verborgenen« suchen müssten.
Auf Hinterzimmerdeals dürfte auch
Ramelow setzen, dem vier Stimmen zur
Mehrheit fehlen. Den Koalitionsvertrag,
wenn es überhaupt einen gibt, will sein
Dreierbündnis knapphalten, das schafft
Spielräume für Zugeständnisse an FDP
oder CDU. Im Gegenzug spekulieren die
Koalitionäre auf Abweichler aus der
Opposition, etwa bei der Abstimmung
zum Landeshaushalt im nächsten Jahr.
Die Statistik spricht dafür, dass Rame-
low es bis dahin schaffen kann. Laut
einer Studie des Bundestags hielten sich
Minderheitsregierungen in Deutschland
im Schnitt immerhin 300 Tage.
Matthias Bartsch, Steffen Winter
WahlenIn Thüringen dürfte Ministerpräsident Bodo Ramelow
zu einer Minderheitsregierung gezwungen sein – das wird knifflig.
Stille Verbündete
CDU
Linke
SPD
GrüneFDP
AfD
Ferne Mehrheit
Sitzverteilung im thüringischen Landtag
Stand:
- Oktober 2019
29
21
Absolute
Mehrheit:
46 Sitze^22
5
8
5