Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

SPIEGEL: Geht es konkreter?
Scholz:Nehmen Sie die Banken-
union, also einen einheitlichen Ban-
kenmarkt für die Eurozone. Das
klingt sperrig. Aber das wird ein
Riesenthema. Es geht darum, ob
wir irgendwann nur noch das
Marktfeld für den global agieren-
den Kapitalismus aus anderen Län-
dern sind. Das will ich verhindern.
Oder die faire Besteuerung vor al-
lem digitaler Konzerne. Stichwort:
globale Mindestbesteuerung. Sie
ist auch ein Signal, dass wir in
Europa einen internationalen Steu-
ersenkungswettbewerb nicht mit-
machen. Wir können doch nicht un-
ser Bildungssystem, die Infrastruk-
tur, unseren Sozialstaat aufs Spiel
setzen, nur um irgendwie im glo-
balen Steuerwettbewerb mitzuhal-
ten. Dann muss sich auch niemand
wundern, wenn sich Bürger von
der Politik abwenden.
SPIEGEL: Herr Schulz, sind Sie mit
der Europapolitik von Olaf Scholz
zufrieden? Mit dem Tempo, in dem das
Europakapitel des Koalitionsvertrags um-
gesetzt wird?
Schulz:Nein. Die Bankenunion ist ja wun-
derbar. Aber was wir verlernt haben als
SPD, ist, Dinge auch mal zu vereinfachen.
Man kann die Bankenunion im Detail er-
klären, oder man sagt: Wir beenden den
Spekulationskapitalismus des vergange-
nen Jahrzehnts. Wir müssen viel mutiger
auftreten und zeigen, dass wir wirklich
einen Aufbruch in Europa wollen. Es gibt
viele Punkte, wo die Bundesregierung viel
zu passiv ist, inklusive der SPD-Seite. Wir
brauchen viel mehr Investitionen in Bil-
dung und Forschung. Das Eurozonenbud-
get ist zu klein. Und der europäische Fi-
nanzminister muss kommen. Ich weiß, das
ist nicht nur deine Aufgabe. Aber ich
erwarte da schon mehr Tempo, Olaf.
Scholz:Na ja. Mit dem Eurozonenbudget
ist uns ein wichtiger erster Schritt gelun-
gen. Auch bei der europäischen Arbeits -
losenrückversicherung sind wir schneller
vorangekommen, als viele dachten. Das
findet überall in Europa Unterstützung,
auch bei der neuen Kommissionspräsiden-
tin. Das sind echte Fortschritte. Natürlich
wäre es schön, wenn es noch schneller gin-
ge, aber wir haben nicht nur viele EU-Part-
ner, sondern nun mal auch so einen Koali-
tionspartner, der gerade mit anderen Din-
gen beschäftigt ist.
Schulz:Okay. Aber ich rede vor allem
auch von größeren Prinzipienfragen in der
EU. Wie soll es angesichts ernsthafter Dif-
ferenzen, die wir im Inneren haben, wei-
tergehen? Nehmen wir die Problemfälle
Ungarn oder Italien. Ungarn, eines der
Hauptnettoempfängerländer, wirft sich
jetzt Putin an den Hals und nimmt keine


Flüchtlinge auf. Wir brauchen deshalb eine
Solidaritätsklausel im EU-Haushalt. Es
kann doch nicht sein, dass wir als Deutsche
solidarisch sind gegenüber Ländern, die
uns gegenüber unsolidarisch sind.
Scholz:Ja, ich finde, es zahlt sich aus, dass
wir in der europäischen Politik nicht mehr
wie in der Vergangenheit mit dem erhobe-
nen Zeigefinger agieren. Gegenüber Grie-
chenland zum Beispiel. Die Debatte da -
rüber, dass wir da noch mal viele Milliar-
den an Unterstützung mobilisiert haben,
hat ganz leise stattgefunden. Ich finde es
gut, dass wir so unaufgeregt agiert haben
und es nicht für eine innenpolitische Pro-
filierung genutzt haben. Ich will nicht, dass
wir die Lehrmeister Europas sind.
SPIEGEL: Herr Scholz, können Sie es sich
leisten, im Falle eines Sieges auf einen Ge-
neralsekretär Martin Schulz zu verzichten?
Schulz:Ihre Frage ist völliger Unsinn.
Scholz:Das ist nun wirklich kein Job, den
man einem ehemaligen Parteivorsitzenden
empfehlen sollte. Martin Schulz hat uns
ein Erbe hinterlassen, das niemand von
uns vergessen darf. Nachdem er Vorsitzen-
der geworden war, hat die SPD einen rie-
sigen Sprung in den Umfragen gemacht.
Das hatte mit den Hoffnungen zu tun, die
viele in ihn gesetzt haben. Das hat gezeigt:
Ein solcher Sprung ist möglich. Wir kön-
nen mitspielen, wenn es um die Führung
des Landes geht. Das können wir uns ruhig
häufiger sagen.
Schulz:Bist du auch Notar? Oder nur
Rechtsanwalt?
Scholz:Nur Rechtsanwalt.
Schulz:Siehste. Notare verwalten das
Erbe. In der Regel ist das der Nachlass von
Verstorbenen. Ich bin aber noch da, und
ihr werdet mich auch nicht los.

Scholz:Das war anders gemeint,
wie du weißt.
Schulz:Weiß ich. Das finde ich
auch schön mit dem Erbe. Vor al-
lem unsere 20,5 Prozent bei der
Bundestagswahl. Dahin und da -
rüber hinaus wollen wir ja auch
wieder kommen.
SPIEGEL: Das wird uns jetzt etwas
zu harmonisch zwischen Ihnen.
Schulz:Finde ich nicht. Sie können
doch nicht erwarten, dass sich zwei
führende Sozialdemokraten hier in
so einem Interview die ganze Zeit
aufs Maul hauen. Das ist genau der
Grund für die Krise der SPD. Wir
gewinnen nur das Vertrauen der
Menschen, wenn wir selbst zusam-
menhalten. Auch deswegen gehe
ich auf Olaf zu.
SPIEGEL: Was sagen Sie den Mit-
gliedern, die von Olaf Scholz die
Nase voll haben?
Schulz:Dass die SPD sich von
ihrem engen Blick lösen muss. In
anderen europäischen Staaten
schaut man mit Spannung auf die Entwick-
lung in der SPD. Die Wahlentscheidung
unserer Mitglieder sollte sich auch daran
orientieren, dass wir eine stolze inter -
nationale Partei sind, die nicht nur nach
innen blicken darf.
SPIEGEL: Sie haben einen steilen Aufstieg
und einen sagenhaften Absturz hinter sich.
Trotzdem sind Sie immer noch dabei. Gibt
es eine Sucht nach Politik?
Schulz:Nee. Ich habe in jungen Jahren
eine Suchterfahrung in meinem Leben
gemacht. Deshalb kann ich ganz klar
sagen, dass Politik für mich keine Sucht
ist. Ich bin ein leidenschaftlicher Politiker,
der glaubt, dass er mit seinen Fähigkeiten
dazu beitragen kann, die Welt und das
Leben der Menschen besser zu machen.
Das ist mein Motiv, daran glaube ich. Und
deshalb bin ich auch immer noch aktiv
mit dabei.
Scholz:Dieses Pathos trägt einen ja auch.
SPIEGEL: Hatten Sie ebenfalls mal einen
Moment, in dem Sie ganz unten waren in
der Politik, Herr Scholz?
Scholz:Ich bin ja mit 17 Jahren in die SPD
eingetreten und habe dann bei den Jusos
Politik gemacht. Danach bin ich eine Zeit
lang ausgestiegen. Ich habe 13 Jahre lang
als Anwalt gearbeitet. Diese Zeit gibt mir
bis heute eine Sicherheit und Unabhängig-
keit, die Dinge, die einem in der Politik
begegnen, mit einer gewissen Gelassenheit
zu nehmen. In der Demokratie wird man
auf Zeit gewählt, und man muss immer
mit im Blick haben, dass man abgewählt
werden kann. Man darf sich nie für unver-
zichtbar halten.
SPIEGEL: Herr Scholz, Herr Schulz, wir
danken Ihnen für dieses Gespräch.

DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019 49


DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL

»Ich weiß, Europapolitik ist nicht


nur deine Aufgabe. Aber ich erwarte


da schon mehr Tempo, Olaf.«


Martin Schulz
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