Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

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Gesellschaft


»Wir verabredeten, uns nie wiederzusehen.«‣S. 56

DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019

Glaube


Sind bald alle Priester


verheiratet, Herr Schüller?


Thomas Schüller, 58, ist Professor für
Kirchenrecht an der Universität Münster.


SPIEGEL: Die große Mehrheit der Bischö-
fe aus dem Amazonasgebiet hat bei ihrer
jüngsten Synode dafür plädiert, das Pries-
teramt in entlegenen Regionen des Regen-
waldes für verheiratete Männer zu öffnen.
Wird es dazu kommen?
Schüller:Bis Weihnachten will Papst
Franziskus über die Empfehlung entschei-
den. Weil er den Bischöfen aber als erster
Papst überhaupt erlaubt hat, sanktions-
frei, also ohne Tabus und Scheuklappen,
über dieses Thema zu diskutieren, wird er
ihr Votum verbindlich machen.
SPIEGEL:Werden in Zukunft alle deut-
schen Priester verheiratet sein?


Schüller:Es wird mit Sicherheit einen
Dominoeffekt geben. Bischofskonfe -
renzen aus allen Teilen der Welt, in
denen ebenfalls Priestermangel herrscht,
werden sagen: Was im Amazonasgebiet
gilt, muss auch bei uns erlaubt sein.
Deutschland gehört dazu. Für bereits
geweihte Priester gilt der Beschluss übri-
gens nicht, für sie bleibt der
Zölibat Pflicht.
SPIEGEL: Ein Priester, der hei-
raten will, könnte auf Gleich-
behandlung klagen wollen.
Schüller:Kann er nicht. Als
rechtsstaatlich sozialisierter
Bundesbürger geht man vom
Gleichheitsprinzip aus – das ist
sympathisch. Aber das kirch -
liche Selbstbestimmungsrecht
ist ein Recht mit Verfassungs-
rang, das eine Einmischung
des Staates in kirchliche An -
gelegenheiten ausschließt.

SPIEGEL: Und wenn sich ein Priester,
der heiraten will, in den Regenwald nach
Südamerika versetzen lässt?
Schüller:Ändert das nichts. Spannend
wird es, wenn ein verheirateter Priester
aus dem Amazonasgebiet die Diözese
wechselt, zum Beispiel nach Europa. Das
wird Auswirkungen auf die Kirche haben.
Schon die ersten Berichte
in den Medien über verhei -
ratete Priester werden eine
Dynamik entwickeln. Das
ist der Grund, warum eine
kleine Gruppe von Kirchen-
oberen Panik hat und die
Neuerung verhindern will.
SPIEGEL:Kann der nächste
Papst den Plan wieder kip-
pen?
Schüller:Ein Papst darf
alles. Das Amt ist aufgebaut
wie eine absolutistische
Wahlmonarchie. MAG

Früher war alles schlechter


Nº 200: Schlusswort


200 Argumente – das muss reichen. Wer jetzt noch glaubt, dass
früher alles besser war, dem ist nicht zu helfen. Nach 200 Folgen
(und fast vier Jahren) ist hier Schluss für diese Rubrik, die vom
Fortschritt handelt – von den vielen kleinen und großen Ent-
wicklungen, die belegen, dass es auf Erden in vielerlei Hinsicht
niemals eine bessere Zeit gab als die Gegenwart. Sie handelte
meist von grundlegenden Dingen wie sinkender Armut, längerer
Lebenserwartung, selteneren Kriegen, schwindender Kriminali-
tät, geringerer Kindersterblichkeit und verbesserter Bildung – ab
und zu aber auch von kleineren Erfolgen wie dem Sieg gegen die
Karies, verfeinerten Tischmanieren oder der Rettung des Panzer-
nashorns. Dieser optimistische Blick auf die Verhältnisse rief
bei Lesern Wider- und Zuspruch hervor, insgesamt aber – danke


schön! – deutlich mehr Liebe als Hass. Dass die Beiträge als
»abgehobener Mist« aufgefasst wurden, dass man als Autor als
»Populist«, »Lügner« oder »Dummkopf« bezeichnet wurde,
blieb die Ausnahme. Letztlich ging es darum: zu zeigen, dass die
Zahlen und Daten zu vielen Bereichen mensch lichen Lebens
besser aussehen, als es die meisten Leute glauben. Natürlich, die
Herausforderungen werden eher größer als kleiner: der neue
Nationalismus, das ungelöste Energieproblem, das Klima – das
vor allem. Lassen sie sich meistern? Sicherlich nur dann, wenn
man versteht, welche gewaltigen Probleme wir bereits gelöst
haben. Wie weit wir gekommen sind. Wenn man sich vor allem
für das Gelingen interessiert, nicht nur für das Scheitern. Also
für die ganze Wahrheit. [email protected]

FILIPPO MONTEFORTE / GETTY IMAGES
Priesterweihe
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