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m Ortsausgang von Worcester, einer Kleinstadt in den
britischen Midlands, südwestlich von Birmingham ge-
legen, steht am Straßenrand eine gelbe Säule, eine
Radarfalle des Herstellers Gatso. 30 Meilen in der Stunde
sind hier erlaubt, wer deutlich schneller fährt, bekommt
Post von der Stadt.
Richard Keedwell, der sein Leben lang als Ingenieur ge -
arbeitet hat und mittlerweile Rentner ist, passierte die gelbe
Säule am 30. November 2016, gegen vier Uhr am Nachmittag.
Keedwell lebt in Yate, einem Vorort von Bristol, 90 Kilometer
von Worcester entfernt. Er war mit seiner Frau zum Einkau-
fen in Worcester gewesen, jetzt wollten sie nach Hause. Keed-
well ist 71 Jahre alt. Er fährt einen SUV von Nissan und hält
sich für einen besonnenen, vor-
sichtigen Fahrer. Er achte schon
deshalb auf seine Geschwindig-
keit, sagt Keedwell, weil er Ben-
zin sparen wolle.
Drei Monate später brachte
ihm der Postbote einen Bußgeld-
bescheid. Er sei mit 36 Meilen
in der Stunde geblitzt worden,
6 Meilen mehr als erlaubt. Die
Buße über 100 Pfund sollte er
überweisen.
Keedwell ärgerte sich. Dann
aber fiel ihm ein Gespräch ein,
das er ein paar Monate zuvor mit
einem Mann namens Tony Glas-
tonbury geführt hatte. Glaston -
bury war ebenfalls geblitzt wor-
den und hatte gegen den Be-
scheid erfolgreich Einspruch ein-
gelegt. Dadurch, behauptete er,
sei er zum Experten für Tempo-
messungen geworden. 138 Kläger habe er vor Gericht un-
terstützt, 135 Fälle seien gewonnen worden. Einmal, hatte
Glastonbury behauptet, habe ihn sogar ein Mann aus Aust-
ralien angerufen, weil er Rat brauchte.
Glastonbury vermittelte ihn an Tim Farrow, einen ehe-
maligen Techniker der britischen Luftwaffe, der seit einigen
Jahren bei Gerichtsprozessen als Experte auftritt. Farrow
sah sich die Aufnahmen an, sein Urteil klang vielverspre-
chend: Keedwell, sagte er, sei wahrscheinlich das Opfer einer
Besonderheit des Dopplereffekts geworden.
Den Dopplereffekt kennt jeder aus dem Alltag: Obwohl
beispielsweise die Sirene eines Krankenwagens nur eine
Tonhöhe hat, scheint sich der Ton zu verändern, sobald sich
der Krankenwagen bewegt – für einen Passanten klingt die
Sirene eines sich nähernden Krankenwagens höher als die
eines sich entfernenden Wagens. Grund dafür sind die Schall-
wellen, die erst gestaucht und danach gestreckt werden.
Radarfallen arbeiten mit dem Dopplereffekt. Sie senden
Signale aus, die von dem vorbeifahrenden Auto zurück -
geworfen werden. Da die Bewegung des Wagens die Sig-
nale staucht beziehungsweise streckt, lässt sich die Ge -
schwindigkeit aus der Differenz zwischen beiden Signalen
errechnen.
Kompliziert wird es, wenn ein zweites Fahrzeug die Mes-
sung stört. In Keedwells Fall war es möglicherweise ein VW
Golf, den er an jenem Novembertag in Worcester überholt
hatte – das jedenfalls ist die Erklärung, auf die Keedwell
seine Hoffnung stützt. Würden zwei Autos gleichzeitig vom
Radar erfasst, so erklärt er sich das, dann könne es passieren,
dass die Messung nicht mehr eindeutig einem Auto zuge-
rechnet werden kann. Es sei also nicht auszuschließen, dass
die Geschwindigkeit für Keedwells Nissan höher berechnet
wurde, als sie tatsächlich war.
Keedwell legte Einspruch ein. Sein Fall landete zunächst
beim Amtsgericht in Kidderminster. Als das Gericht seinen
Einspruch ablehnte, ging Keedwell in Berufung. Er fand
seine Argumente überzeugend, von dem Richter fühlte er
sich nicht ernst genommen.
Die Frage, um die es ging, ist ebenso einfach wie an-
spruchsvoll: Kann man sich in jedem Fall auf Kontroll -
systeme verlassen, die mit dem Dopplereffekt arbeiten?
Oder hätte der Straf befehl an Keedwell nie rausgehen dür-
fen, weil der Verkehrsverstoß, der ihm vorgeworfen wurde,
zwar möglich, aber eben nicht zweifelsfrei war?
Im August 2019 wurde Keed-
wells Fall schließlich vor dem
Strafgericht in Worcester verhan-
delt. Fast drei Jahre waren ver -
gangen, seitdem er geblitzt wor-
den war. Er hatte ein paarmal vor
dem Amts gericht gestanden, in-
zwischen war er finanziell deut-
lich in Vorleistung gegangen. Zu
den Gerichtskosten in Höhe von
rund 7000 Pfund waren etwa
21 000 Pfund Anwaltshono rar ge-
kommen. Dazu noch Reisekosten.
Anstatt ein Bußgeld über 100
Pfund zu bezahlen, hatte Keed-
well fast 30 000 Pfund investiert.
Im August entschied auch das
Strafgericht gegen ihn. Außer Far-
row war ein weiterer Gutachter
befragt worden, der zu einem an-
deren Ergebnis kam. Trotzdem
will Keedwell weitermachen, es
darf nur kein Geld mehr kosten. Außerdem hofft er, wenigs-
tens einen Teil der Summe zurückzubekommen. Er will gegen
formale Fehler klagen. Hat er sich verrannt? »Hat sich Martin
Luther King in seiner Sache verrannt?«, fragt Keedwell zu-
rück. »Was ist mit Nelson Mandela? Oder Gandhi?« Hat ihn
die Sache ruiniert? Er habe sein Leben lang gespart, sagt
Keedwell, vermutlich hätte er das Geld irgendwann seinen
drei Söhnen vererbt. Die Söhne wiederum, versichert er,
trügen ihm den Gerichtsstreit nicht nach, er habe ihnen bei-
gebracht, die Entscheidungen anderer zu respektieren.
Die meisten Autofahrer seien der Meinung, sagt Keedwell,
dass eine Klage gegen Strafzettel aussichtslos sei, weil die
Messgeräte keine Fehler machten. Keedwell sieht das anders.
Er will einen Präzedenzfall schaffen. Er hofft, dass er am
Ende gewinnt und dass sein Erfolg eine Klagewelle gegen
Bußgelder auslöst – immerhin stehen die Gatso-Geräte so
gut wie überall in Großbritannien.
»Mir ist es nie um die 100 Pfund gegangen«, sagt er. »Ich
wollte Gerechtigkeit.« Benedikt Herber
In der Falle
Warum ein Brite ein Vermögen ausgibt,
anstatt ein Bußgeld
über 100 Pfund zu bezahlen
Eine Meldung und ihre Geschichte
QUELLE : YOUTUBE
Keedwell
Von der Website Merkur.de