Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

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Ehepaar Bruhns in den Flitterwochen in Polen 1989,
Auszug aus Jürgen Bruhns’ Stasi-Akte
»Wir waren uns unendlich vertraut«

er bei der Reichsbahn an, wo er nagelneuen
Fahrdraht zerschneiden musste, um das
Schrott-Plansoll zu erfüllen. 1984 schmug-
gelte er Liedtexte an der Zensur vorbei auf
ein Betriebsschulfest und stimmte »Sind so
kleine Hände« von Bettina Wegner an. Die-
ser harmlose subver sive Akt war der Aus -
löser für seine OPK-Observierung durch die
Stasi. Erklärtes Ziel: ihn in der Schule zu iso-
lieren und seine Westkontakte hinsichtlich
politischer Untergrundtätigkeit abzuklopfen.
Die »Zersetzung« begann. Jürgen wuss-
te davon nichts, wurde aber vorgeladen
und mit dem Angebot konfrontiert, für die
Stasi als IM zu spionieren. Seine Ableh-
nung wurde schriftlich festgehalten.
Nach der Lehre wollte er Pfarrer werden,
doch die Universität Halle verweigerte ihm
auftragsgemäß den Theologiestudienplatz.
Die Stasi hat den Ablehnungsvorgang ar-
chiviert, jemand hat »Wunderbar!« an den
Rand gekritzelt. Als wir uns kennenlernten,
war Jürgen Gasthörer am evangelischen
Sprachenkonvikt. Zuvor hatte der Theolo-
gieprofessor Heinrich Fink sich bei der Sta-
si für sein Studium eingesetzt – jener Mann,
der 1991 als IM »Heiner« aufflog. Jürgen
hat ihn als zutiefst solidarisch erlebt.
Am Tag unseres Ausflugs, Sonntag nach
Ostern, herrschte Aprilwetter; es schneite
sogar. Als wir die Ostsee erreichten, zog

Jürgen sich trotzdem aus und sprang ins
Wasser. Mich beeindruckte dieses abgehär-
tete »Anbaden«. Später, im Münster von
Bad Doberan, stimmte er ein Lied an, das
ich aus meiner Kirchengemeinde daheim
in Niedersachsen kannte, »Dona nobis pa-
cem«. Gemeinsam sangen wir den Kanon,
lauschten der Resonanz unserer Stimmen
in dem alten Sakralbau und fühlten uns ei-
nander unerwartet nahe. Auf dem Rückweg
nach Berlin lag mein Kopf in Jürgens Schoß.
Wir verabredeten, uns nie wiederzu -
sehen. Eine Liebesbeziehung schien un-
möglich; ich wollte nicht in die DDR, er sie
nicht verlassen. Im Jahr zuvor war Jürgen
beim Olof-Palme-Friedensmarsch dabei ge-
wesen. Niemand hatte die Teilnehmer ge-
hindert, den verbotenen Slogan »Schwerter
zu Pflugscharen« zu tragen. Würde sich die
DDR doch Gorbatschows Reformen an-
schließen, »Glasnost« und »Perestroika«?
Vieles, was danach passiert war, sprach
gegen diese Hoffnung. Die Stasi hatte eine
kircheneigene Redaktion gestürmt, die
»Umweltblätter« herausgab; Bürgerrecht-
ler waren ausgewiesen worden. Doch Jür-
gen wollte noch nicht aufgeben.
Kurz nach meinem Besuch, am 26. April,
schickte er eine Eingabe an den Minister-
rat, in der er sich gegen die Einschränkung
der Berichterstattung in Kirchenzeitungen

Ärzten alte medizinische Geräte für Nica-
ragua gesammelt hatte, unterstützte ich
mit einer Bürgerinitiative Menschen in
Südamerika, die sich gegen die Ausbeu-
tung der Umwelt wehrten.
Mit 17 Jahren verweigerte er den Wehr-
dienst mit der Waffe. »Was haben Sie sich
dabei gedacht?«, habe ihn sein Schuldirektor
in Jüterbog angeschnauzt. »Ihre Posi tion
ist konterrevolutionär und spielt den Kriegs-
treibern im Westen in die Hände.« Der Di-
rektor meldete seinen pazifistisch gesinnten
Schüler der Stasi, am 4. November 1981.
Es ist der erste Eintrag in Jürgens Akte.
Den Mitschülern verkündete der Direk-
tor, Jürgen werde nicht studieren dürfen.
Einige entschuldigten sich danach bei
ihm, weil sie ihn nun nicht mehr zum Klas-
sensprecher (»FDJ- Sekretär«) wählen
könnten. Mein Ex-Mann ist ein sozialer,
hilfsbereiter Mensch, wenn ein Freund um-
zieht, schleppt er die Möbel. Der Vertrau-
ensentzug seiner Klassenkameraden traf
ihn. Einige begannen sogar, Jürgen zu be-
spitzeln, in der Akte heißen sie »Bob«
oder »Ute«. Ute war nur der Stasi-Name
der Mitschülerin, sie sei IM gewesen, In-
offizielle Mitarbeiterin, sagt Jürgen. Heute
ist sie Ärztin.
Seinen Berufswunsch Fotojournalist
musste er aufgeben. Statt zu studieren, fing

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