Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

den war, in einer »Operativen Personen-
kontrolle« (OPK), der Vorgang lief unter
dem Namen »Konfirmant«. Da war Jürgen
gerade 20.
Der größte Teil seiner Stasi-Akte traf
Mitte Mai dieses Jahres ein, 233 von 282
Seiten mit Spitzelberichten über »den
Bohl«. Anfang der Neunzigerjahre hatte
Jürgen nur die ersten 49 Seiten erhalten;
wir hatten nicht mehr damit gerechnet,
alles zu bekommen. Seine Akte zeigt, wie
die DDR ihre Bürger drang salierte und
formte – und wie sie damit die Deutschen
in beiden Staaten einander entfremdete.
Die Zeit zwischen unserem Kennenler-
nen im April 1988 und unserer Scheidung
im März 1990 war für mich bewegend und
abenteuerlich. Für meinen Ex-Mann ging
es um mehr. Die Entscheidung, seine Hei-
mat aufzugeben, fiel ihm nicht leicht. Jür-
gen war ein DDR-kritischer Christ. Lange
hoffte er, dass sich die DDR doch noch
demokratisieren würde. Erst als er diese
Hoffnung verloren hatte, entschied er sich
für die Heirat mit mir. Für eine Ehe, die
ihm die Flucht in den Westen ermöglichte.
Damals begriffen wir wie nie zuvor, was
die deutsch-deutsche Mauer bedeutete:
Sie sperrte nicht nur ihn, den DDR-Bürger,


ein, sondern auch mich, die Westdeutsche,
aus. Sie trennte uns voneinander: zwei
Menschen, die dieselbe Sprache sprachen,
dieselbe Geschichte teilten und die beide
als Kinder »Ich geh mit meiner Laterne«
gesungen hatten.

Die Begegnung
Ich lernte Jürgen bei einer privat organi-
sierten Reise in die DDR kennen. Unser
Besuch begann damit, dass fünf Westler
am Samstag nach Ostern die Ost-Berliner
Freunde des jungen Organisators abklap-
perten. Wir luden sie zu einer Spritztour
an die Ostsee ein – Jürgen war einer der
wenigen, die zusagten.
Ich hatte Berlin als Studienort gewählt,
auch aus Neugier auf die DDR. Im Osten
der Stadt besuchte ich oft ein älteres Paar.
Einmal saß Anne, von Beruf Lehrerin, ge-
beugt in der Abseite ihrer Küche und schälte
Kartoffeln – eine Szene wie aus einem Nach-
kriegsfilm. Ihre Tochter und deren Mann
zogen mich derweil ins einzige Zimmer, das
keine gemeinsamen Wände mit den Nach-
barn hatte. Ich erwartete ein brisantes poli-
tisches Gespräch, doch die beiden fragten
mich bloß über Westcomputer aus. Damals
hielt ich meine Gastgeber für paranoid.

Aber paranoid waren nicht die DDR-
Bürger, sondern ihre Bewacher. In Jürgens
Akte meldet am 10. März 1988 eine »zu-
verlässige Quelle« der Abteilung VI der
Stasi-Bezirksverwaltung Berlin, dass »Bohl,
Jürgen« nun »im Rahmen der sogenannten
Friedensbewegung unter dem Deckmantel
der Kirche« aktiv sei. »Die Quelle bezeich-
net den B. als Intellektuellen«, steht da.
Und sie habe beobachtet, wie er »als Bei-
fahrer in einen weißen Pkw Mercedes ein-
stieg, dessen polizeiliches Kennzeichen mit
B ... begann«. Ein Westauto.
Was einen kritischen Bürger der Bun-
desrepublik auszeichnete, wurde ihm in
der DDR zum Verhängnis: Jürgen enga-
gierte sich für Frieden, Abrüstung und
Versöhnung und kooperierte dabei mit
Bürgern des »NSW«, des »Nichtsozialisti-
schen Wirtschaftsgebiets«. Konkret küm-
merte er sich zusammen mit West-Berliner
Studenten um den jüdischen Friedhof in
Weißensee. Besonders verdächtig: Als »In-
tellektueller« hatte er sozialismuskritische
Bücher gelesen, Werke des Nobelpreisträ-
gers Alexander Solschenizyn, des Bürger-
rechtlers Václav Havel.
Das hatte ich auch. Wir hatten vieles ge-
mein. Während Jürgen bei Brandenburger

DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019 57

Free download pdf