DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019 59
Gesellschaft
wendete. Gerade solche Berichte, schrieb
er, stärkten den Willen der DDR-Bürger
zu bleiben: »Verschweigen und Informa -
tionsrückhalt kann nicht im Sinne des Auf-
baus einer sozialistischen Demokratie sein.
Statt restriktiver Maßnahmen staatlicher
Stellen sollten wir lieber gemeinsam über-
legen, wie mit ... ausreisewilligen Bürgern
unseres Landes ein Gespräch möglich
wird, nach ihren Motiven fragen und ver-
suchen, diese Gesellschaft auch für sie at-
traktiv zu machen.«
Die Stasi hat Jürgens Eingabe archiviert.
Eine Antwort erhielt er nicht.
Unseren Abschied erinnere ich wie eine
Szene aus einem Film. Die Natriumdampf-
lampen am Grenzübergang Bornholmer
Straße tauchten unser Auto in gelbes Licht,
während Jürgens Parka in der Dunkelheit
verschwand. »Oh nein, es sind nicht nur
die drüben, die unter der Mauer leiden«,
schrieb ich zu Hause in mein Tagebuch.
»Wir sind es auch – nur noch viel subtiler:
Wir wissen gar nicht, was für Menschen
uns vorenthalten werden ... Jürgen hat sich
in mein Herz gebrannt. Es ist die geistige
Anziehungskraft, die mich in Atem hält
und so sehnsüchtig macht.«
Ich verließ meinen damaligen Freund.
Für Jürgen nähte ich ein Seidentuch und
schickte es ihm. Wortlos.
Der Plan
Ein Vierteljahr später klin gelte das Telefon.
»Hier ist Jürgen.« Pause. »Willst du jetzt
doch in den Westen?« »Nein.« »Stasi hört
mit, klar.« Wir verabredeten ein Treffen.
»Die Vernunft sagt nein«, notierte ich,
»aber das Herz, das Herz kann nicht
schweigen, es schreit und weint.« Ich war
damals 21. Jürgen schien mir ein Held, ein
Freiheitskämpfer. Meine Verliebtheit be-
ruhte auf Bewunderung.
Unser Wochenende wollten wir abge-
schieden in Potsdam verbringen. Da ich
nur ein 48-Stunden-Visum für Ost-Berlin
hatte, borgte mir eine Freundin von Jürgen
ihre Identität: Constanze Cyrus, geboren
am 17. September 1964 in Greifswald,
Theologiestudentin. Immer wieder sagte
ich mir nervös diese Daten auf. Doch kei-
ner kontrollierte mich.
Ich hatte am Telefon richtig geraten: Jür-
gen glaubte nicht mehr an eine »bessere«
DDR. Über das Angebot, ihn zu heiraten,
hatte ich lange nachgedacht. Obwohl ich
verliebt war, war mein Motiv nicht Liebe.
Zum Heiraten fühlte ich mich zu jung. Ich
wollte Jürgen ermöglichen, im Westen zu
leben. Er, der meine Ideale teilte, sollte
die gleichen Möglichkeiten haben, sich zu
bilden, zu reisen. Für die Entscheidung
hatte er ein Jahr: So lange würde ich in
Barcelona als Assistenzlehrerin arbeiten.
Ob Jürgen sofort zustimmte, darüber
steht nichts in meinem Tagebuch. Es be-
richtet stattdessen über leuchtende Zwei-
samkeit: »Blau eines unzerteilbaren Him-
mels. Blautrunken. Leicht wie das Blau der
fliegenden Träume ... Ich hätte ihn immer-
zu küssen können. Und habe unablässig
seine Hand gehalten, seine warmen Füße
massiert, seinen Nacken gekrault. Haben
gesummt und gesungen, getanzt und ge-
schwommen.« Später dann leiser Zweifel:
»Hab ihm den Schlüssel zu unserer frag-
würdigen Freiheit versprochen, eine Frei-
heit, die auch an einer Mauer endet. Doch
sollte ich sie ihm verwehren? Aus Angst
vor der Verantwortung?«
Abends kletterten wir auf die Ruine des
Potsdamer Schlosses Belvedere auf dem
Pfingstberg. Zu seinen Füßen lag das »KGB-
Städtchen«, wie der Volksmund die sowje-
tische Militärspionage-Zentrale in der DDR
nannte. Ein ungewöhnlicher Ort: hier der
Neue Garten mit Schloss Cecilienhof, dort
der weite Blick über den Wannsee bis nach
West-Berlin. Ich staunte, wie selbstverständ-
lich sie hier standen, rauchten und redeten,
obwohl sie dort, wo sie hinschauten, nicht
hinkonnten.
Trafen wir unterwegs auf Jürgens Freun-
de und Bekannte, sagte er nie, wer ich sei,
noch, woher ich kam. Mir gefiel das: Man
gab sich einfach die Hand und redete los.
Keiner fragte mich nach Studium, Beruf,
Herkunft. Man taxierte in der DDR nicht
den sozialen Status – vielleicht auch, weil
es keine freie Berufswahl gab.
Unser letztes Treffen vor meinem Ab-
flug nach Spanien war ein doppelter Ab-
schied. Wir verabredeten, doch kein Lie-
bespaar zu sein, sondern bloß Freunde.
Ich hatte, gerade wegen des Heiratsplans,
zu starke Ängste vor einer derart festen
Bindung. Jürgen war enttäuscht und zu-
gleich erleichtert. Wie ich erst jetzt weiß,
quälten ihn Zweifel an seiner sexuellen
Orientierung. Obwohl er mich liebte.
»Ich wollte sein wie du«, beschreibt Jür-
gen heute die Anziehung, die ich auf ihn
ausgeübt hatte: »Widerständig und erfolg-
reich, polyglott und welterfahren.«
Das Aufgebot
Während ich in Barcelona Deutsch unter-
richtete, lehnte sich Jürgen noch einmal
gegen die Verhältnisse auf. Anlass war das
Verbot der sowjetischen Monatszeitschrift
»Sputnik«. Sie hatte über den Hitler-Sta-
lin-Pakt informiert. In der DDR war es ein
Tabu, darüber zu berichten, wie Kommu-
nisten und Nazis 1939 gemeinsame Sache
gemacht hatten.
Ende November 1988 schrieb Jürgen auf
ein Stück Packpapier: »Stoppt die Zensur /
Gegen das Verbot des Sputnik ... Wer seine
Geschichte verleugnet, verleugnet sich
selbst.« Mit dem Plakat vor der Brust stellte
er sich in die Unterführung am Alexander-
platz, allein. Erst ab drei Teilnehmern galt
eine Protestversammlung nämlich als
verbotene »Zusammenrottung«. Einige
Passanten lächelten, sagten aber nichts.
Schon bald kam ein Polizist, zerriss das Pla-
kat und zog Jürgen mit sich. Der schrie »Pe-
restroika« und »Glasnost«, wie die Stasi-
Akte festhält.
Durch unterirdische Gänge ging es ins
Revier Keibelstraße, dann in die sechste
Etage. Dort saß die Stasi. Bis in den frühen
Morgen befragten ihn die Vernehmer. Wäh-
rend Jürgen, der damals im Krankenhaus
als Nachtwache arbeitete, immer müder
wurde, waren seine Gegenüber hellwach.
Irgendwann gab er Namen von Bekannten
preis – Bekannte, bei denen er hoffte, dass
die Nennung ihrer Namen ihn reinwaschen
würde von jeglichem Verdacht.
Heute schämt sich Jürgen dafür, obwohl
er sicher ist, niemandem geschadet zu ha-
ben. Ich verstehe diese Scham, begreife
aber auch seine Not. Wer konnte schon im
Überwachungsstaat DDR ganz und gar
sauber bleiben?
Dass Jürgens Protest glimpflich ausging,
könnte daran gelegen haben, dass der
West-Berliner Radiosender Hundert,6 da-
rüber berichtete. Wie die Information in
den Westen gelangt war, wusste die Stasi:
»Am 22. 11. 1988 informierte Bettina Ra-
thenow um 21.44 Uhr den Roland Jahn
darüber ... wie im Fußgängertunnel am
Alex ein junger Mann verhaftet wurde.«
Roland Jahn, heute Leiter der Stasi-Unter-
lagenbehörde, war nach seiner Zwangsaus-
bürgerung 1983 ein wichtiger Westkontakt
für Regimekritiker wie Rathenow.
Weihnachten war ich bei meinen Eltern.
Im Schimmer der Kerzen erzählte ich, dass
ich einen jungen Mann aus der DDR he-
rausheiraten wollte. Mein Vater ist Ostfrie-
se, »Lever dood as Slaav«, lieber tot als
Sklave, heißt es in seiner Heimat. »Das
ist ja sehr christlich von dir«, sagte er.
»Nein!«, rief meine Mutter, »das ist zu ge-
fährlich!«
Es war dann mein Vater, der in Ost-Ber-
lin den Schwiegersohn in spe in Augen-
schein nahm. Es war meine Schwester, die
die nötigen Papiere für die Hochzeit bei-
brachte. Schizophrene Verhältnisse: Die
Heirat war zwar erlaubt. Nicht gestattet
war aber, eine DDR-Geburtsurkunde über
die Grenze zu bringen, um das Einver-
ständnis der westdeutschen Behörden zu
erlangen. Meine damals 20-jährige
Schwester schmuggelte für uns die Papiere
in ihrem Anorakfutter von Ost nach West.
Den Eheantrag stellte Jürgen am 3. Mai
1989, seinem 25. Geburtstag. Der Beamte
vermerkte: »Herr Bohl hinterließ einen
schleimigen, unterwürfigen, nicht offenen
Eindruck.« Jürgen hatte alles darangesetzt,
die Sache nicht zu vermasseln – aber man
nahm ihm nicht ab, dass er allein aus Liebe
seine Heimat verlassen wollte. »Herr Bohl
zeigte sich nicht bereit, seine Gründe für
die ständige Ausreise darzulegen«, kriti-
siert der Bericht. »Er beteuerte immer wie-