Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1
Handel

Sterbendes Kleingewerbe


 In Deutschland gibt es immer weni-
ger inhabergeführte Geschäfte. So sind
zwischen 2008 und 2018 im Bundes-
schnitt 30 Prozent der Fleischereien
verschwunden, die Zahl der Bäckerei-
en nahm um 29 Prozent ab. Im Zeit-
raum von 2009 bis 2017 schlossen
18 Prozent der Buchläden und 32 Pro-
zent der Bekleidungsfachhändler. Auch
Neugründungen tun sich oft schwer:
Mehr als die Hälfte aller Einzelhandels-
unternehmen mit weniger als fünf Mit-
arbeitern überleben die ersten fünf Jah-
re nach Gründung nicht, so eine Ana -
lyse der Initiative für Gewerbevielfalt
der Telefonbuch-Servicegesellschaft.
Dabei wurde der sogenannte Gewerbe -
vitalitätsindex ermittelt. Dieser be -
rücksichtigt neben neuen Gewerbe -
anmeldungen auch die Gewerbedichte,
die ab solute Zahl der vorhandenen
Betriebe sowie die der neu abgeschlos-
senen Ausbildungsverträge. Den höchs-
ten Schwund an Betrieben haben die
Bundesländer Sachsen-Anhalt und
Mecklenburg-Vorpommern. In Sach-
sen-Anhalt schlossen binnen zehn
Jahren 31 Prozent der Fleischer,
35 Prozent der Schuhmacher sowie
36 Prozent der Klempner ihren
Betrieb. Die größte Gewerbevielfalt
hat aktuell Bayern zu bieten. Auch
dort machten allerdings 29 Prozent der
Metzgereien dicht, 30 Prozent der
Schuhmacher gaben ihr Geschäft im
Freistaat auf.MUM

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Währungsunion

»Wie gegen Ronaldo«


Mário Centeno, 52, Euro-Gruppen-Chef
und portugiesischer Finanzminister,
fordert die Deutschen auf, mehr für ihre
schwächelnde Konjunktur zu tun.

SPIEGEL: Kaum ein Land wächst so lang-
sam wie die Bundesrepublik. Ist Deutsch-
land der kranke Mann der Eurozone?
Centeno: Nein. Wir alle haben Herausfor-
derungen, denen wir uns stellen müssen.
Aber die Eurozone wächst, die
Beschäftigungslage ist ziemlich
gut. Wir sind keineswegs im
Krisenmodus. Alle Prognosen
sagen für 2020 Wachstum
voraus, selbst in Deutschland.
SPIEGEL: Trotzdem fordern Sie,
Deutschland solle mehr tun.
Hört Olaf Scholz nicht auf Sie?
Centeno: Ich mische mich nicht
ein; aber es gibt Anzeichen,
dass sich die deutsche Politik bewegt.
Scholz weiß, welche Instrumente er hat,
um bei Bedarf reagieren zu können.
SPIEGEL: Sind Sie sicher, dass die Euro -
zone krisenfest ist?
Centeno: Ja, wir haben in der Eurozone
erhebliche finanzielle Reserven aufge-
baut. Wir sollten nun politisch auf die
Verlangsamung des Wachstums reagieren

und nach lohnenden Gebieten für
In vestitionen suchen. Zwei davon sind
offensichtlich: der Kampf gegen den
Klimawandel sowie mehr Ausgaben für
Forschung und Entwicklung.
SPIEGEL: Was genau schlagen Sie vor?
Centeno: Wir sind uns einig, dass Länder,
die über finanziellen Spielraum verfügen,
mehr tun sollten. Deutschland erlebt eine
Phase sehr niedrigen Wachstums. Es
sollte in erster Linie aktiv werden, um sei-
ne Wirtschaft zu unterstützen, nicht um
anderen zu helfen. Allerdings ist die
Eurozone eng vernetzt. Jedes
Land, das sich selbst hilft,
stärkt die Währungsunion.
SPIEGEL:Die Krise könnte sich
verschärfen, wenn Donald
Trump Autozölle verhängt.
Machen Sie sich Sorgen?
Centeno: Handelskonflikte
schwächen das Wachstum.
Wir erleben viel Hin und Her
der US-Regierung; manchmal
kommt es einem vor, als hätte der Ver -
teidiger einer Fußballmannschaft einen
extrem nervösen Stürmer vor sich.
SPIEGEL: Eine Art Cristiano Ronaldo?
Centeno: Wir müssen lernen, wie wir uns
gegen jemanden schützen, der so un -
berechenbar ist wie Ronaldo. Wir müssen
wachsam sein und freien Handel und
Multilateralismus fördern. MSA, BAZ

Pflege

Entlastung für Angehörige
 Der Deutsche Gewerkschaftsbund
(DGB) fordert, Kinder pflegebedürftiger
Eltern stärker zu entlasten, als die Bundes-
regierung dies bisher plant. Ein Gesetzent-
wurf sieht vor, dass Kinder künftig erst
dann für die Pflegekosten ihrer Eltern auf-
kommen müssen, wenn ihr Jahreseinkom-

men 100 000 Euro brutto überschreitet.
In einer Stellungnahme für den Bundestag
schreibt der DGB: »Die 100 000 Euro soll-
ten dynamisiert werden.« Der Betrag solle
jährlich angepasst werden und sich am
Anstieg der durchschnittlichen Löhne ori-
entieren. Eine Grenze von 100 000 Euro
habe schon gegolten, als im Jahr 2003
die Grundsicherung im Alter eingeführt
wurde. Nach Vorstellungen des DGB müs-

se sie heute eher bei 112 000 Euro liegen.
Im Grundsatz begrüßt der DGB die Neu-
regelung. Mit ihrem Gesetz will die Koali-
tion vermeiden, dass Pflegebedürftige sich
schämen, Sozialleistungen zu beantragen,
weil sie einen Rückgriff auf Einkommen
ihrer Kinder fürchten. Diese Dunkelziffer
sei »sehr hoch«, so der DGB. Die Neu -
regelung soll auch für Eltern erwachsener
Kinder mit Behinderungen gelten. COS

Atommüll

Regierung billigt


Export nach Russland


 Die Bundesregierung hat keine Sicher-
heitsbedenken bei der Ausfuhr von
Atomreststoffen nach Russland. Das geht
aus ihrer Antwort auf eine parlamentari-
sche Anfrage hervor, in der es um die
Ausfuhr von mindestens 6000 Tonnen
abgereichertes Uran der Gronauer Firma
Urenco an eine Tochter des russischen
Atomkonzerns Rosatom geht. Man habe
»keine nichtverbreitungspolitischen
Bedenken«, schreibt die Regierung darin.
Offenbar fürchtet sie also nicht, dass das
Material in die falschen Hände geraten


könnte. Der entsprechende Vertrag sei
schon 2018 unterzeichnet worden, heißt
es von der Regierung. Die Ausfuhr ist
insofern heikel, als dass das nukleare
Material zehn Jahre lang nicht nach
Sibirien ausgeführt wurde. Denn die vier
Lagerstätten im Osten Russlands ent -
sprachen laut einem Urteil der russischen
Atomaufsicht von 2004 »nicht modernen
Sicherheitsanforderungen«. Dennoch
sind bereits seit Mai dieses Jahres erste
Transporte aus Gronau nach Russland
gegangen. »Die Bundesregierung bagatel-
lisiert unsägliche Exporte, anstatt das
Gronauer Werk nach jahrelanger Kontro-
verse endlich stillzulegen«, sagt die Vor-
sitzende des Umweltausschusses, die
Grünenpolitikerin Sylvia Kotting-Uhl. GT

JULIEN WARNAND / EPA-EFE / REX
Centeno
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