nen Zahlen nicht!«, antwortete ich: »Das
sind deine Zahlen.«
SPIEGEL:Wenn es so einfach wäre, müsste
es um die transatlantischen Beziehungen
besser stehen.
Juncker:Man muss schon auch bestimmt
auftreten. Trump hat mir in Washington
erzählt, wer aus Europa schon alles vor
mir im Oval Office war – die Kanzlerin,
Präsidenten, Premierminister –, und ich
habe ihm gesagt: Die sind alle wichtig,
aber du hast mit den Falschen geredet. Die
Kommission ist zuständig für Handels -
politik, nicht die Mitgliedstaaten. Das hat
ihn schon beeindruckt. Trump sagte da-
raufhin: Ich möchte überhaupt keine Eini-
gung mit der Europäischen Union, ich
möchte eine Einigung mit dir. Ich erwider-
te: In Handelsfragen ist die Europäische
Kommission allein zuständig. Eine Eini-
gung mit mir ist eine Einigung mit der EU.
SPIEGEL:Als Geschenk hatten Sie bei Ih-
rem Besuch in Washington ein Foto eines
amerikanischen Soldatenfriedhofs in Lu-
xemburg dabei.
Juncker:Dort ist auch General George
Patton beerdigt. Ich wusste, Trump hält
große Stücke auf erfolgreiche Generäle.
Ich habe ihm erklärt, dieses kleine Fleck-
chen Land in Luxemburg, wo 5000 tote
Soldaten liegen, ist amerikanisches Staats-
gebiet. Das haben wir in Luxemburg nach
dem Krieg so beschlossen. Das hat Trump
sehr berührt. Das sind so kleine Dinge, die
die Herzen öffnen.
SPIEGEL:Ist das die richtige Strategie, das
Herz eines in seiner Unbeständigkeit doch
gefährlichen Menschen zu öffnen?
Juncker:Ich bin ja mit vielen Entscheidun-
gen Trumps nicht einverstanden, aber ich
respektiere ihn. Er ist auch ein Mensch.
Ihm ohne Respekt zu begegnen, öffnet
nicht die Türen zu belastbaren Einigungen.
SPIEGEL:Lassen Sie uns zu Ihrem Aufruf
»Vive l’Europe« zurückkommen. Sie sind
Jahrgang 1954, haben also auch dank der
EU ein Leben in Frieden verbracht. Inwie-
weit sind Sie von den Erlebnissen der
Kriegsgeneration geprägt?
Juncker:Mein Vater, er ist vor drei Jahren
verstorben, ist in einem Dorf aufgewach-
sen, die nächste kleine Stadt war fünf Kilo -
meter entfernt. Weiter ist er nie gekom-
men, bis er im Zweiten Weltkrieg plötzlich
von der Wehrmacht zwangsrekrutiert wur-
de. Drei, vier Tage später war er an der
russischen Front. Man muss sich diesen
Kulturschock vorstellen! Ich las eben erst
in seinem Nachlass, dass er an seinem ers-
ten Tag in der Wehrmacht an einem Er-
schießungskommando teilnehmen musste.
Er hat sich natürlich keine Mühe gegeben,
hat niemanden erschossen. Aber was für
ein Trauma: Jemand ist nie mehr als fünf
Kilometer gereist, und dann ist er in einer
fremden, einer verhassten Uniform an der
Ostfront und muss auf Menschen schießen,
ohne zu wissen, weshalb.
SPIEGEL:Mit dieser Familiengeschichte
hätten Sie und Ihre Familie sich nach dem
Krieg auch mit Fug und Recht von
Deutschland abwenden können.
Juncker:Mein Vater hat mir immer gesagt:
Es gab unter den Soldaten viele Dreck -
säcke, aber es gab auch liebe Menschen,
die mich aus dem Dreck gezogen haben,
die mir das Leben gerettet haben. Er hatte
ein nuanciertes Bild der Wehrmacht. Wir
sind dann relativ früh nach Deutschland
in die Ferien gefahren, so ab 1966, vorher
hatten wir kein Geld.
SPIEGEL:Sie sind vielsprachig. Träumen
Sie manchmal auf Deutsch?
Juncker:Das wird die Luxemburger jetzt
sehr enttäuschen, aber ich muss hier be-
kennen: Ich weiß nicht, in welcher Sprache
* Markus Becker, Susanne Beyer und Peter Müller in
Brüssel.
ich träume. Ich weiß es einfach nicht. Und
wenn ich hier in der Kommission den gan-
zen Tag rede, mit meinen Mitarbeitern aus
allen EU-Ländern, dann vermengen sich
die Sprachen. Ich verstehe Italienisch, weil
ich mit Kindern italienischer Gastarbeiter
im Sandkasten spielte ...
SPIEGEL:... Sie wuchsen in einer Stahl -
arbeitergegend auf, in der viele Migranten
lebten ...
Juncker:... auch Portugiesisch verstehe
ich aus diesem Grund ganz gut. Als Pre-
mierminister haben die Luxemburger Por-
tugiesen mich oft auf dem Bürgersteig ge-
stoppt und gesagt: Herr Juncker, es ist alles
gut in Luxemburg, aber es gibt zu viele
Ausländer. Das ist eigentlich gelungene In-
tegration, oder?
SPIEGEL:Sie haben als aktiver Politiker
drei deutsche Kanzler erlebt, Helmut Kohl,
Gerhard Schröder und Angela Merkel.
Wer war am europäischsten?
Juncker:Das war mit Abstand Kohl, weil
er Historiker war. Er hat sich selbst und
anderen vieles in historischen Zusammen-
hängen erklärt. Außerdem war er jemand,
der sehr behutsam mit kleinen Ländern
umgegangen ist. Kohl konnte zum Beispiel
die Luxemburger Widerstandskämpfer
namentlich aufzählen, die in den letzten
Tagen in den deutschen Konzentrations-
lagern ermordet worden sind.
SPIEGEL:Ernsthaft?
Juncker:Ja, ernsthaft.
SPIEGEL:Warum hat er sich dieses Wissen
angeeignet? Haben Sie ihn gefragt?
Juncker:Kohl hatte Europa im Bauch.
Und wenn es um deutsche Interessen ging,
hatte er plötzlich Deutschland im Kopf.
Man tut immer so, als wäre Kohl so ein
gefühlsduseliger Hurra-Europäer gewesen.
Das war er nicht. Er hat deutsche Interes-
sen martialisch zu vertreten gewusst. Ger-
hard Schröder, den ich auch sehr schätzte,
hatte Europa überhaupt nicht im Bauch.
Er hatte es im Kopf. Es war für ihn ein lo-
gisch-rationaler Einigungsprozess, zu dem
es keine Alternative gab. Zum Ende seiner
Amtszeit hatte er Europa auch im Herzen.
SPIEGEL:Herr Juncker, Sie haben jetzt fast
40 Jahre Politik hinter sich, in dieser Zeit
hat sich der Alltag von Politikern sehr ver-
ändert. Durch Social Media stehen Sie un-
92
JEROME BONNET / DER SPIEGEL
Juncker, SPIEGEL-Redakteure*
»Kleine Dinge, die die Herzen öffnen«
Brüsseler SpitzeJean-Claude Junckers europäische Karriere
2006
Juncker erhält
den Aachener
Karlspreis für
sein Engagement
als Vordenker
und Motor der
europäischen
Integration.
2014
Bei der Europawahl im Mai
siegt Juncker als Spitzenkandidat
und wird Kommissionspräsident.
Kaum ist er im Amt, hat er mit
Vorwürfen zu kämpfen, er hätte
als luxemburgischer Premier
Großkonzernen Steuervorteile
verschafft (»Luxleaks«).
2015
Nach 13 EU-Beitritten in
zehn Jahren und mehreren
Zerreißproben wie der
Flüchtlingskrise plädiert
Juncker für ein »Europa
der unterschiedlichen
Geschwindigkeiten«, um die
EU handlungsfähig zu halten.
2005 bis 2013
»Mr Euro«:
Erster ständiger Vor-
sitzender der »Euro-
Gruppe«. Das informelle
Gremium koordiniert
Finanz-, Währungs-
und Wirtschaftspolitik
der Mitgliedstaaten.
1991
Luxemburg übernimmt
den Vorsitz im Rat der
Europäischen Gemeinschaft.
Jean-Claude Juncker leitet
als Präsident der Regierungs-
konferenz den Prozess,
der im Maastrichter
Vertrag mündet.
1996
»Held von Dublin«:
Dank der Vermittlung
des luxemburgischen
Premierministers Juncker
auf dem irischen EU-Gipfel
kommt der umstrittene
Stabilitäts- und Wachs-
tumspakt zustande.