Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1
heute, mit Ito gesehen zu werden, aus
Angst vor den Reaktionen der Mitmen-
schen. Freunde haben sich von Ito abge-
wandt.
Im Frühjahr 2019 werden Itos Angst -
zustände schlimmer. Eine Anhörung mit
Yamaguchi rückt näher: Ein Treffen im
Gericht ist unvermeidlich, doch die Aus-
sicht nährt Itos Trauma. Kurz vor dem Ter-
min versucht sie in einer Panikreaktion,
sich das Leben zu nehmen.
Sie schreibt Briefe, bevor sie die Schlaf-
tabletten schluckt. Einen an ihre Familie.
An ihre Mutter. Die letzte Notiz ist an
Yamaguchi gerichtet. »Wenn ich gehe, be-
deutet das nicht, dass du erlöst bist.« Sie
erwacht im Krankenhaus, angeschlossen
an Schläuche.
Die öffentliche Auseinandersetzung mit
Yamaguchi hat Itos Existenz zerstört.

Trotzdem besteht sie auf dem Prozess.
»Ich tue das für mich, aber auch für andere
Frauen«, sagt Ito.
Denn ihr Fall bringt auch etwas in Gang.
Zwischen die Beleidigungen, die sie erhält,
mischen sich immer öfter Briefe von Frau-
en, die schreiben, sie hätten Ähnliches er-
lebt. Eine von ihnen ist Nanami.
Nanami ist 18 Jahre alt, doch sie sieht
aus wie ein Kind. Sie trägt eine karierte
Schuluniform und eine riesige Hornbrille,
von der ihr an diesem drückenden Tag im
Juli 2019 der Schweiß tropft.
Nanami war 14, als ihr auf dem Heim-
weg ein Mann auflauerte. Sie sagt, er habe
sie nicht eingeholt, als sie losrannte. Aber
sie sagt auch, dass sie niemandem die
ganze Wahrheit über diesen Tag erzählen
könne.
Sexualität ist in Japan allgegenwärtig –
und gleichzeitig ein Tabuthema. Einerseits


verkaufen Kioske pornografische Manga,
es gibt Cafés, in denen die Kellnerinnen
eine Hausmädchenuniform tragen und
Gäste mit »mein Gebieter« ansprechen.
Andererseits leben in kaum einer Groß-
stadt der Welt so viele Singles wie in Tokio.
Viele junge Japaner kennen Sex ausschließ-
lich aus überzeichneten Manga. Wie er
zwischen zwei Menschen passieren sollte,
darüber wird in Japan wenig gesprochen.
Nanami hatte in der Schule zwar ge-
lernt, wie ein Kondom funktioniert. Aber
dass eine Berührung einvernehmlich sein
muss, erklärte ihr niemand. Das Wort
»Vergewaltigung« war Nanami unbekannt.
Nachdem der Mann sie verfolgt hatte,
fehlten Nanami die Worte, um zu beschrei-
ben, was geschehen war. Also schwieg sie.
Lag tagelang im Bett, schwänzte die Schu-
le. Ihren Eltern sagte Nanami, sie sei krank.

»Ich wollte ihnen keinen Kummer berei-
ten«, sagt sie. Dann sah das Mädchen im
Fernsehen die Bilder von Itos Pressekon-
ferenz. »Plötzlich hatte ich das Gefühl,
nicht mehr allein zu sein.«
Nanami ist durch die ganze Stadt gefah-
ren, um Ito zu danken. Sie verbeugt sich,
drückt Itos Hand, notiert jeden Satz, den
Ito sagt, ehrfürchtig in einem Notizbuch.
»Ich weiß jetzt, dass ich keine Schuld tra-
ge«, sagt Nanami. Zum Abschied umarmt
sie Ito wie eine Freundin.
»Schreiben Sie, dass es mit Shiori ange-
fangen hat«, sagt Nanami. »Seit sie aufge-
taucht ist, nimmt man uns ernster.«
Ito hat in Japan viele Feinde. Doch je
länger der Prozess dauert, desto mehr Zu-
spruch erhält sie.
Am Tag nach dem Treffen mit Nanami
findet eine Veranstaltung von Ito und ih-
ren Anwälten statt.

Kein Schild weist auf den Termin hin.
Er kostet Eintritt, mit dem Itos Prozess
unterstützt wird. Trotzdem ist der Raum
überfüllt. Viele junge Frauen sind gekom-
men, aber auch Rentnerinnen mit ergrau-
ten Kurzhaarfrisuren und einige Männer.
Die Sitzplätze reichen nicht, viele Besu-
cher stehen an die Wand gedrängt. »Shio-
ris Fall ist revolutionär, er könnte vieles
verändern«, sagt Itos Anwältin. »Aber wir
müssen sie stärker unterstützen.« Die Be-
sucher klatschen laut Beifall. Es wirkt, als
wollten sie wiedergutmachen, dass sie jah-
relang geschwiegen haben.
Als die Veranstaltung für Fragen geöff-
net wird, meldet sich eine Professorin zu
Wort. Sie erzählt, dass sie an ihrer Univer-
sität nun einen Workshop zu sexueller
Selbstbestimmung anbiete. Ein Abgeord-
neter des japanischen Parlaments ver-
spricht, sich dafür einzusetzen, dass Itos
Fall aufgeklärt wird. Besucherinnen fragen:
Wie können wir Ito helfen? Später bildet
sich eine Schlange vor der Journalistin.
Frauen umarmen sie, überreichen ihr
Grußkarten oder Blumen.
Shiori Ito ist nicht mehr der einzige
Nagel, der heraussticht. Im Frühjahr 2019
erregt ein Gerichtsprozess landesweite
Aufmerksamkeit. Ein Vater, der jahrelang
seine Tochter vergewaltigt hat, wird frei-
gesprochen. Die Richter erkennen zwar
an, dass der Sex mit dem Mädchen nicht
einvernehmlich war. Doch es sei nicht er-
wiesen, dass die Tochter keine Möglich-
keit gehabt habe, sich zu wehren. Der Fall
wird nicht als Vergewaltigung gewertet.
Nach dem Urteil ruft die Autorin Minori
Kitahara landesweit zu Demonstrationen
auf. Sie rechnet mit 20 Teilnehmerinnen.
Es kommen mehr als 400. Als Zeichen ih-
rer Zugehörigkeit hält jede Demonstrantin
eine Blume in der Hand.
Seitdem findet die »Flower Demo« je-
den Monat statt, in neun japanischen
Städten. Die Frauen haben zwei Forde-
rungen: Missbrauchsopfer sollen besser
geschützt werden. Und: Erzwungener
Sex soll auch dann als Vergewaltigung
gelten, wenn der Täter das Opfer nicht
körperlich verletzt.
Im September 2019 zählen die Proteste
rund tausend Teilnehmer. Eine von ihnen
ist Shiori Ito.
Wann das Urteil im Zivilprozess gegen
Yamaguchi fallen wird, ist unklar. Sollte
Ito verlieren, könnte sie dazu verurteilt
werden, Schadensersatz zu zahlen. Yama-
guchi fordert 130 Millionen Yen, mehr als
eine Million Euro. Das Zehnfache von
dem, was Ito verlangt. »Falls ich verliere,
werde ich das in meinem ganzen Leben
nicht bezahlen können«, sagt Ito.
Wenn man sie fragt, ob sie ihre Klage
bereue, sagt Ito trotzdem: »Nein.«
Twitter: @aRojki

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JEREMIE SOUTEYRAT / THE NEW YORK TIMES / LAIF
Reporter Yamaguchi: Verbindungen in die Politik
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