Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1
B

eim Einparken vor dem Bahn-
hof Kassel-Wilhelmshöhe nie-
tet Hannes Wader mit der Stoß-
stange seines alten Renaults ei-
nen Baumschutzpfosten um. Er
beachtet weder den Schaden an dem Stahl-
pfosten noch den an der Stoßstange seines
Wagens. Erstens hat das Auto bereits jede
Menge Schrammen, zweitens hat Wader
ganz andere Probleme: Seine Welt ist aus
den Fugen geraten. „Aber das Buch wird
rechtzeitig fertig.“
Knapp zwei Jahre zuvor, im Dezember
2017, schwört Hannes Wader, seine Gitarre
nicht mehr anzufassen. Am 30. November
2017 hatte er vor 3000 Zuhörerinnen und
Zuhörern im Berliner Tempodrom seinen
Abschied vom Tourneeleben gefeiert. Ei-
ner der bekanntesten Liedermacher des
Landes knipst mit 75 Jahren das Bühnen-
licht aus, elegant und selbstbestimmt.
Feuilleton-Analysten spüren einen
„Hauch von Unendlichkeit“ und loben ein
„Ende ohne Pathos“. Seinen Fans bleibt
nur, zu Hause den Mitschnitt des Ab-
schiedskonzerts einzulegen – dessen Titel:
„Macht’s gut“ –, und beim Zuhören Melan-
cholie und Nostalgie in erträglichem
Gleichgewicht zu halten. Für viele selbst-
ernannte „Waderianer“ sind seine Lieder
nicht nur poetischer Gitarrenfolk, sondern
so etwas wie die Begleitmusik ihres Le-
bens. Oft genug auch Soundtrack einer See-
lenwandlung vom kritisch betrachteten
Gammler der frühen Sechzigerjahre zum
diskursbereiten K-Gruppen-Aktivisten ih-
rer Studentenzeit zum linksbürgerlichen
Merlot-Kenner von heute. Wader-Lieder
sind auch deshalb so bekannt, weil jede
und jeder sie singen kann, am Lagerfeuer
ebenso wie am Ende eines Parteitages: Mit-
pfeif-Klassiker wie „Heute hier, morgen
dort“ und „Schon so lang“, Kriegsdienstver-
weigerer-Hymnen wie „Es ist an der Zeit“,
Klassenkampf-Gassenhauer wie „Bella
Ciao“ und „Der Rattenfänger“, Volkslied-
Romantik wie „Ade zur guten Nacht“.


Wader ist froh, dass es vorbei ist. „Ich ha-
be kein sentimentales Verhältnis zu mei-
nen Liedern, zu meinem Instrument auch
nicht“, sagt er nach seinem Abschiedskon-
zert. „Und meinem Publikum habe ich im-
mer misstraut. Eigentlich hatte ich auf der
Bühne nie etwas verloren.“ Seine Gitarren
stellt er ins Arbeitszimmer seines Hauses
in Kassel. Dann schaltet er die Grubenlam-
pe ein, nimmt Spitzhacke und Schaufel zur
Hand und steigt in das Bergwerk seiner Le-
bensgeschichte hinab: „Gegen sechs Uhr
morgens, am 23. Juni 1942, werde ich in Be-
thel bei Bielefeld im Hause Gilead, der Ent-
bindungsstation, mit einem Haarkringel
über der Stirn geboren. Dem diensthaben-
den Arzt, der mich hochhebt, schiffe ich
laut schreiend ins Gesicht. Er tauft mich,
auf meine Stirnlocke anspielend, spontan
‚Napoleon der Bogenpisser‘ ...“
Es geht langsam voran: Er schreibt eine
halbe Seite pro Tag, an guten Tagen gelingt
eine ganze. Pausen gewährt er sich nicht.
Die Arbeit ist mühsam, die Quellenlage
dünn: Tagebuch hat Wader nie geschrie-
ben, Briefe nur selten verschickt und
kaum welche aufgehoben, überhaupt
schreibt er nicht gern. Er hat nur seine Erin-
nerung und seine Lieder. Wer ihn in den fol-
genden zwei Jahren zu Hause in Kassel be-
sucht, spürt die Anstrengung bei jedem
Treffen deutlicher. Was er damals, zu Be-
ginn der Arbeit an seiner Autobiografie im
Winter 2017, vielleicht schon ahnt, aber
noch nicht sicher wissen kann: Die Arbeit
über sein Leben wird sein Leben verän-
dern, nicht zum Besseren. Er schreibt den-
noch weiter. Sein Buch, das am kommen-
den Montag erscheint, heißt nicht um-
sonst wie eines seiner bekanntesten Lie-
der: „Trotz alledem“.
Ein Spätsommernachmittag wie ein Ril-
ke-Gedicht, Mitte September 2019. Han-
nes Wader schreibt mit dickem Filzer „Bin
im Wald“ auf ein Blatt Papier, betrachtet
das Ergebnis kritisch, so als bewerte er ei-
ne komplexe Zeichnung, nickt dann zufrie-
den und legt das Blatt seiner Ehefrau Cor-
dula zur Kenntnis bereit, sie ist bei der Ar-
beit. Durch die Gartentür sind es nur ein
paar Schritte in den Habichtswald von Kas-
sel. Kein Wort zu dem Schaden am Auto.
Sein Schritt ist forsch, er geht aufrecht und
zugleich leicht vornübergebeugt, wie ein
Mann, der zu tun hat. Allerdings schlottert
ihm die Jeans um die Beine, der Ledergür-
tel ist ins letzte Loch geschnallt.
Es ist zwei Jahre her, dass er mit seinem
Buch begonnen hat, nun ist es fast fertig,
und zwei Jahre Selbstbespiegelung haben
ihren Preis. In den vergangenen Monaten
hat er fünfzehn Kilo verloren. Die Arbeit an
dem Buch hat in seiner Familie einiges zer-
rüttet, so sehr, dass seine zwei Kinder in
der Autobiografie nun nur noch am Rande
auftauchen, sein Sohn darin namentlich
gar nicht genannt ist. „Ich war wohl auch
kein guter Vater“, umschreibt Wader das
Problem schon in einem früheren Inter-
view, mehr mag er dazu nicht sagen. Seine
Frau hat Verständnis für die Kinder. In sei-
nem Buch erinnert sich Wader, dass er die
Aufforderungen seiner Ehefrau, sich doch
aktiver in die Familie einzubringen, früher
recht barsch beantwortet habe: „Ich schen-
ke der Welt meine Lieder, das muss rei-
chen.“ Kocht er heute in seiner Küche – ja-
wohl, getrennte Küchen – ein paar Kno-
chen für eine Brühe aus, kann das rasch zu
Grundsatzdiskussionen mit der Vegetarie-
rin an seiner Seite führen. Wenigstens
funktioniert Waders neues Hörgerät ein-
wandfrei, dafür sei die Brille scheiße. Auch
sein Geschmacks- und Geruchssinn lassen
nach, „vielleicht hab’ ich mir die mit 80 Gi-
tanes am Tag aber auch schon früher ver-
saut“. Ohne Schlafmittel ist an Nachtruhe
kaum zu denken. Auf dem Kalender in sei-
nem Wohnzimmer sind alle paar Tage Arzt-
termine eingetragen. „Seine Autobiografie


zu schreiben heißt, dem Tod ins Auge zu bli-
cken“, zitiert Wader beim Spazierengehen
den Schweizer Soziologen Jean Ziegler.
1966 ist aus bundesdeutschen Radios
vor allem musikalische Frontromantik
oder Obstkuchengedudel zu hören. Die
deutschsprachigen Hits des Jahres: Fred-
dy Quinn singt „Hundert Mann und ein Be-
fehl“. Roy Black singt „Leg dein Herz in mei-
ne Hände“. Ronny singt „Eine kleine Trä-
ne“. Cliff Richard singt „Du bist mein erster
Gedanke“. Auf einem kleinen Festival auf
Burg Waldeck im Hunsrück hört man
Pfingsten 1966 andere Lieder. Es riecht
nach muffigen Schlafsäcken, Erbsensuppe
vom Roten Kreuz und Revolution. Vor den
Zelten singen die jungen Besucherinnen
und Besucher Dylan und Baez, in den Zel-
ten wird ohne Trauschein geknutscht.
Franz Josef Degenhardt ist da, Hanns Die-
ter Hüsch auch, Andreas Merkel singt sei-
nen „Abtreibungs-Blues“.
Die drei Lieder, die Hannes Wader am
Pfingstsonntag auf der Bühne spielt, ver-
wandeln den verkrachten Studierenden –
Sohn einer Putzfrau und eines kriegsver-
sehrten Fabrikarbeiters, Schulabgänger
mit 13, gekündigter Dekorateur in einem
Schuhgeschäft in Bielefeld, mäßig interes-
sierter Kunststudierender aus Berlin – in
die Symbolfigur einer ganzen Generation.
Er singt von den „Blumen des Armen“:
„Ich kam mit einem kleinen Strauß / Ins
Haus der Schönen / Fand alle Kristalle ge-
füllt mit Nelken / So eitel, als bräuchten sie
nie zu welken / Geschnitten im Garten des
Reichen / Kein Platz für die Blumen eines
Armen, die nur nach Jugend duften“. Der
Musiker Reinhard Mey steht damals vor
der Bühne und schließt mit Wader lebens-
lange Freundschaft. Er erinnert sich: „Das
Lied traf mich wie ein Schlag. Ich ahnte bei
den ersten Tönen und Zeilen: Da haben wir

einen großen Dichter und Sänger, wie ich
ihn uns immer gewünscht hatte. Ich habe
mich nicht geirrt.“ Als das Publikum jubelt,
flüchtet Wader verunsichert in den nächs-
ten Wald und beginnt zu weinen. „Ich war
mir sicher, die wollen mich verarschen.“
Wollen sie nicht. Sie wollen ihn lieben.
Um ihn gleich darauf mit Verehrung und
Erwartungen zu beschweren. Und Wader,
der dünne, große, zähe Typ mit Gitarre
und Zigarette, 24 Jahre alt, der so ernst
blickt und so aufrecht steht, der so ernst
und so aufrecht spricht, lässt es gesche-
hen. Von der Burg Waldeck aus breitet sich
sein Ruhm in Studentenkneipen und Vorle-
sungssälen des Landes aus. Als er ein Jahr
später am selben Ort wieder auftritt, ist er
ein Star, mehr noch: eine Ikone. Dass er die
Idee zu den „Blumen des Armen“ bei
Georges Brassens geklaut hat, behält er
erst mal für sich. Und die Politik? „Wenn
mich damals etwas gar nicht interessierte,
dann Politik. Aber ich fand, dass ich schei-
ße aussah, und ich wollte an Mädchen ran-
kommen. Also griff ich zur Gitarre.“
Im Habichtswald hat eine Rotte Wild-
schweine in der Nacht tiefe Furchen gezo-
gen. Hannes Wader, 77 Jahre alt, geht bei
gleichmäßigem Atem bergauf, zeigt kopf-
schüttelnd auf geschlagenes Holz, das nutz-
los verrottet. Er hält vor einem hohlen
Baum, aus dem er neulich einen toten
Waschbären gezogen hat, um ihn ein paar
Schritte weiter zu beerdigen. Wenn er
nichts gefragt wird, schweigt er. „Das Buch
hat diese verdammte Empfindsamkeit ge-
weckt. Mein Aufgewühltsein ist Routine ge-
worden. Das Leben dringt anders in mich
ein. Ich komme mir auf die Schliche. Ich
sehe Schweinereien, an denen ich in der
Vergangenheit beteiligt war. Ich sehe den
Verrat, den ich an anderen wie an mir
selbst aus einer zeitgeistbestimmten

Selbstverständlichkeit heraus begangen
habe. Mir stockt der Atem, wenn ich dar-
über nachdenke. ‚Der Strich, der das Gute
vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz ei-
nes jeden Menschen.‘ Gut, ne? Ist nicht von
mir. Alexander Solschenizyn.“
So viel Leben in einem einzigen Leben.
Wader, das Kriegsheimkehrerkind, das
Prügel vom Vater kassiert. Wader, den sie
in der Schule nur „Hans, der Träumer“
rufen. Wader, der vermeintliche Tauge-
nichts, der wegen „Unfähigkeit, Streit-
sucht und Musizierens während der Ar-
beitszeit“ seine erste Anstellung in einem
Schuhgeschäft verliert. Wader, der von
1963 an als Straßenmusiker in Berlin an gu-
ten Tagen zehn Mark macht und seine Lie-
der im Kleiderschrank üben muss, um den
Vermieter nicht mit seiner Musik zu verär-
gern. Wader, dem 1968, einen Tag nach

dem Attentat auf Rudi Dutschke, während
einer Demonstration vor dem Springer-
Hochhaus in Berlin die Vorderzähne ausge-
schlagen werden. Wader, die Ikone, die von
vielen geschätzt wurde, aber auch nie ge-
nügte. Sein Freund Konstantin Wecker hat
es aus der Nähe beobachtet: „Alle haben
ihn verehrt. Aber kaum jemand hat ihm je
aufrichtig zu einem Auftritt gratuliert. Ich
erinnere einen Abend im ‚Chez Margot‘ in
Schwabing, wo die ganz Politischen, die
ihn eben noch bei einem Konzert be-
klatscht hatten, über ihn gebeugt standen:
‚He, Hannes, was du machst, musst du viel
radikaler machen!‘ So war das bei ihm. Er
hat mir schrecklich leidgetan.“

Im Oktober 1971 überlässt Wader nach
einem Konzert in Karlsruhe einer angebli-
chen NDR-Radiojournalistin den Schlüssel
zu seiner Hamburger Wohnung. Die Frau
stellt sich als Hella Utesch vor. Wader
kennt sie kaum, aber „es war cool, jeden
bei sich pennen zu lassen, ohne Fragen zu
stellen“. Hella Utesch, findet Wader später
heraus, ist in Wirklichkeit die RAF-Mitbe-
gründerin Gudrun Ensslin, sie macht aus
der Wohnung ohne sein Wissen ein Waf-
fen- und Sprengstoffdepot. Vor dem Haus
in Hamburg wird am 22. Oktober 1971 der
Polizist Norbert Schmid erschossen – das
erste Opfer der Rote Armee Fraktion.
Als sich Wader beim Schreiben seines
Buches dem Trauma dieser Zeit stellt, „der
Baader-Meinhof-Scheiße“ oder „der Mör-
derbanden-Scheiße“, wie er es abwech-
selnd nennt, durchlebt er dunkle Tage,
nachts wacht er schweißgebadet auf. Im Fa-
milienalltag ist er kaum mehr zu gebrau-
chen. Er weiß nicht, ob er sich am Tod des
Polizisten Norbert Schmid schuldig fühlt
oder fühlen muss. Und er erinnert die teil-
weise absurden Vorwürfe der nervösen Be-
hörden, die Verhaftung nach einem Kon-
zert, den Lauf einer Dienstwaffe an seinem
Rücken, die vielen Jahre Observation
durch die Polizei, die Nachfragen einer
RAF-Sonderkommission, die Prozesse we-
gen „Unterstützung einer kriminellen Ver-
einigung“ und „Illegalen Waffenhandels“.
Einmal, so erzählt er es, habe ein Infor-
mant der Polizei gesteckt, Wader habe in
Hamburg mit dem RAF-Mitglied Ulrike
Meinhof den Verkauf von mehreren Ma-
schinengewehren besprochen. „Hannes
Wader, Waffenhändler!“, ruft er, als er da-
von erzählt, dabei sitzt er vor Erregung nur
noch auf der Kante seines Sessels. „An
dem Tag war ich tatsächlich in Hamburg.
Ich hatte ein Konzert mit Reinhard Mey

gespielt. Man hat mir absurderweise vorge-
rechnet, dass ich in der Konzertpause
durchaus Gelegenheit gehabt hätte, mit
einer Kalaschnikow im Gitarrenkoffer
vom Audimax zum Bahnhof Altona zu kom-
men und wieder zurück. Mir wird immer
noch ganz klamm vor dieser ... ich hab kei-
nen Ausdruck dafür ... so helfen Sie mir
doch! ... von dieser Art von Macht, dieser
Sturheit, diesem emotionslosen Racheprin-
zip, diesem Mahlen der Macht. Die Behör-
den machten das nicht, weil sie mir böse
waren. Die machten das, weil sie sind, was
sie sind. Weil sie genau dafür da sind: zu
mahlen, zu mahlen, zu mahlen. Bis sie ei-
nen Zipfel von dir erwischen und dich in
dieses Mahlwerk der Vernichtung und Ver-
geltung ziehen.“ Das Lied, das er über seine
Erlebnisse schrieb, erschien lange nur auf
Kassette. Es heißt: „Albtraum“.
Vielleicht ist unser Verstand nur eine
Geisterfabrik, die ein ganzes Menschen-
leben braucht, um einen einzigen Geist zu
erschaffen – uns selbst. Was ist wahr in
unserem Leben? Wie wahrhaftig ist unser
Blick auf die Welt und auf uns selbst?
Wader traut sich selbst nur noch bedingt,
auf biografische Wunderlichkeiten wie sei-
ne 15 Jahre Mitgliedschaft in der DKP
schaut er verunsichert zurück. Erst 1991 ist
er aus der Partei ausgetreten: „Wer früher
nicht in einer politischen Organisation ein-
gebunden war, galt als freischwebendes
Arschloch. Jetzt bin ich auch wieder ein
freischwebendes Arschloch. Und mit mei-
nen Zweifeln allein.“ Ohne seine Gitarre
um den Hals wirkt er verletzlich. Seine Mut-
ter hatte ihm immer zugeraten weiterzu-
singen: „Singen vertreibt das Leid.“ Aber er
singt nicht mehr.
Seine wenigen Freunde hat er in den ver-
gangenen zwei Jahren kaum gesehen. Er
war nie ein guter Kontaktepfleger, aber da-
für blieb jetzt neben dem Erinnern und
dem Schreiben noch weniger Zeit. Dabei
gibt es auch sehr schöne Geschichten: In
den Achtzigerjahren schreibt Hannes Wa-
der ein zartes Winterliebeslied: „Mit Eva
auf dem Eis“. Natürlich wisse er noch, wer
diese Eva sei. Nee, er habe ihr nie erzählt,
dass er Jahre nach der kurzen gemeinsa-
men Zeit ein Lied über sie und sich ge-
schrieben hat. Klar dürfe man ihr davon er-
zählen, allerdings sei sie schwer zu errei-
chen. Die Schauspielerin Eva Mattes freut
sich dann sehr, als sie erfährt, dass es ein
Lied über sie gibt. „Der Hannes war immer
von Menschen umgeben. Er schien mir
aber auch immer ein wenig einsam.“

Konstantin Wecker, Patenonkel von
Waders Tochter, war kürzlich zu Besuch in
Kassel und hat – nur halb im Spaß – ange-
mahnt, man müsse in „diesen dunklen poli-
tischen Scheißzeiten“ doch eigentlich
noch mal gemeinsam auf die Bühne. Wa-
der schlug als Bandnamen „Die zornigen
alten Männer“ vor, der Titel gefiel beiden,
aber es blieb bei der Idee. Wecker erinnert
sich an seine eigene Autobiografie und die
Beschwernis beim Schreiben. „Immer wie-
der denkt man im Leben: Jetzt weiß ich
endlich, wer ich bin. Und ein halbes Jahr
später ist man schon wieder ein ganz ande-
rer. Es hat mir auch nicht gefallen heraus-
zufinden, wer ich alles war. Aber ich glau-
be, es ist gut, dass man sich draufkommt.“
Reinhard Mey beschreibt es so: „Es ist
nicht leicht, wenn man in seinem eigenen
Brunnen bohrt.“ Einige Auftritte hatten die
drei alten Freunde früher gemeinsam, sie
sind auf dem Bildschirm herrlich anzuse-
hen: Wecker ist ganz und gar Italien, liebes-
tollkühn schwitzend und gierig danach,
dem Publikum zu gefallen. Mey ist ganz
und gar Frankreich, charmante Kopfwack-
ler, feinsinnig gehobene Augenbraue.
Wader ist ganz und gar Deutschland. Auf-
recht, seriös und ein wenig steif, das gebü-
gelte Hemd ordentlich in der Hose.
Zurück im Garten pflückt Wader die
Himbeeren von den Sträuchern. „Ich be-
reue nicht, dass ich das Buch geschrieben
habe. Aber hätte ich gewusst, was es alles
auslöst, hätte ich niemals damit angefan-
gen.“ Den Schwur, seine Gitarre nicht mehr
anzufassen, hat er natürlich gebrochen,
aber die Finger haben keine Hornhaut
mehr, die er für sein Spiel bräuchte. Die Ta-
ge verbringt er mit sich. „Ich neige dazu,
Gewohnheiten in mir verfestigen zu las-
sen. Gerade löse ich abends Kreuzworträt-
sel, und weil ich nun mal damit angefan-
gen habe, kann es gut und gerne sein, dass
ich das jetzt zehn Jahre lang so mache.“
Hannes Wader glaubt sein Leben aus
den Fugen, und er trägt viel Kummer in
sich: die Gesundheit, die Familie, das Alter.
Und was für ein großer Schritt sein Ab-
schied von der Bühne war, wird ihm viel-
leicht erst jetzt so recht bewusst, da er nach
über zwei Jahren auch die Arbeit an seiner
Biografie beendet. Aber er hat auch noch
viel Kraft, und in Wirklichkeit sind die
Trümmer, die er vor sich sieht, dieselben
Bruchstücke, auf die wir früher oder später
alle schauen und die sich kaum mehr zu ei-
nem Ganzen fügen lassen: all die verpass-
ten Chancen, die halben Sachen, die unge-
sagten Worte, die ausgeschlagene Hand,
das verschenkte Glück, die alten Lieder.
Er hat sich vorgenommen, „Bob Dylan’s
Dream“ noch einmal besser zu übersetzen,
ein nostalgisches Wunderwerk aus dem
Jahr 1964, in dem ein 23-jähriger Bob
Dylan wie ein erleuchteter Greis dichtet.
„How many a year has passed and gone /
And many a gamble has been lost and won
/ And many a road taken by many a friend /
And each one I’ve never seen again. / I
wish, I wish, I wish in vain / That we could
sit simply in that room again / Ten thou-
sand dollars at the drop of a hat / I’d give it
all gladly if our lives could be like that.“ Ei-
ne frühere Übersetzung von ihm sei nicht
schlecht gewesen, aber jetzt, sagt Hannes
Wader, spüre er die melancholische Sehn-
sucht dieser Zeilen auf ganz andere Art.

DEFGH Nr. 253, Samstag/Sonntag, 2./3. November 2019 DIE SEITE DREI 3


„Mein Aufgewühltsein ist Routine geworden“: Hannes Wader, 77, über das Schreiben an seiner Biografie. FOTO: RAMON HAINDL

Pfingstsonntag 1966, ein Festival


im Hunsrück, er singt drei Lieder.


Das Publikum jubelt. Wader weint


„Singen vertreibt das Leid“,
hatte seine Mutter ihm geraten.
Aber er singt nicht mehr

Vielleicht wird ihm erst jetzt klar,
was für ein großer Schritt das war:
der Abschied von der Bühne

Das Gewicht der Welt


Die Deutschen hingen an seinen Lippen und wollten die Wahrheit hören. Aber der


Liedermacher Hannes Wader sucht bis heute selbst nach Antworten auf die Fragen des Lebens


von michael ebert

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