Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1

Terminlich wäre es eine Punktlandung ge-
worden, hätte die Unvorhersehbarkeit der
Politik nicht wieder einmal zugeschlagen:
Die Rückkehr der preisgekrönten Sketch-
ShowLittle Britain, zu BBC Radio 4, wo sie
von 19 Jahren Premiere feierte, sollte an
dem Tag erfolgen, an dem das Vereinigte
Königreich die EU zu verlassen plante.
Dass dieser Ausstieg auch im zweiten
Anlauf nicht klappte, machte den 31. Okto-
ber als Sendedatum für dasLittle Brexit
betitelte Radiospecial einer der prägends-
ten britischen Sketch-Shows der jüngeren
Vergangenheit zwar etwas weniger bedeut-
sam. Aber die Idiotie des gesamten Brexit-
Prozesses schien schließlich trotzdem wie
gemacht für das Panoptikum von Freaks,
die das Autoren- und Darstellerduo David
Walliams und Matt Lucas für ihre Comedy-
Serie erdacht hatten.
Tatsächlich ist dann in der Sendung,
die im Internet abrufbar ist, die Beschrei-
bung von Boris Johnsons wetterwendi-
scher Brexit-Position durch Unterschicht-
Teenager Vicky Pollard mit ihrem Stan-
dardspruch „Ja, aber nein, aber ja, aber“
durchaus zutreffend. Die Namensverball-
hornung von Brexit-Protagonisten wie
„Joris Bonson“ und „Nigel Frog“ dagegen
wirkt ziemlich zahnlos.
Der Waliser Daffyd Thomas gibt sich,
entsprechend dem Großteil seines Lan-
des, als Leave-Wähler zu erkennen. Er be-
fürchtet, der Zuzug freizügiger europäi-
scher Homosexueller könnte seinen Sta-
tus als „einziger Schwuler im Dorf“ bedro-
hen. Auch die Abwandlung der Catchphra-


se der passiv-aggressiven Reisekauffrau
Carol Beer „Computer sagt nein“ zu „Bre-
xit sagt nein“ – nämlich zu Reisen ins euro-
päische Ausland – ist dann doch recht be-
rechenbar.

Dabei gibt es keinerlei Zweifel, auf wel-
cher Seite der Brexit-Debatte die Macher
Walliams und Lucas selbst stehen: Den
Rollstuhlfahrer Andy Pipkin lassen sie im
Brexit-Special 100 Bände von David Came-
rons Memoiren kaufen, weil, wie er an-
merkt, „wir kein Klopapier mehr haben“.
Im zweifellos schärfsten Segment muss
die Rassistin Maggie Blackamoor sich
übergeben, als sie im Krankenhaus er-
fährt, dass ihr soeben das Herz einer vom
Bus überfahrenen Anti-Brexit-Demons-
trantin eingepflanzt wurde. Statt damit

weiterzuleben, lässt Maggie lieber den Ste-
cker ziehen.
Der sich exzentrisch gebende schotti-
sche Pensionsbetreiber Ray McCooney
sagt einem osteuropäischen Angestellten,
der sich Sorgen über sein Bleiberecht nach
dem Brexit macht: „Ich hoffe doch, dass
ihr bleibt – ihr seid so viel billiger als die
Leute von hier.“ Und der in den – auch in
dieser Radioversion von Michael Head ge-
sprochenen – fiktiven Premierminister
Michael Stevens verliebte Sebastian Love,
der nach einer Traumsequenz erkennen
muss, dass in Wirklichkeit Boris Johnson
das Land regiert, wirft diesem voll Verach-
tung hin: „Ich würde mich nicht mal in die
Nähe von deinem Backstop trauen!“
Viele der Sketche des halbstündigen
Specials erwecken den Eindruck, als hät-
ten sie in fast jeder beliebigen vorherigen
Folge auftauchen können. Das Brexit-The-
ma wirkt oft nachträglich eingefügt oder
den Hörererwartungen an die Verhaltens-
muster der bekannten Figuren unterge-
ordnet. Die Sorge der BBC-Oberen, mög-
lichst unparteiisch zu erscheinen, dürfte
manch schärferem Witz die Spitze ge-
raubt haben. Insgesamt erweist sich die
Ungeheuerlichkeit des ganzen Brexit-Vor-
gangs aber einfach als eine Nummer zu
groß für ein Format, das, eingeschränkt
durch die berechenbare Exzentrik und Ste-
reotypie seiner Charaktere, letztlich sel-
ten wirklich beißende satirische Treffer
setzte. alexander menden

Little Brexit, abrufbar online unter BBC Sounds.

Das Hochamt des bürgerlichen Hedonis-
mus istder Wochenmarkt und wie es auf
Märkten nun mal ist, gilt es auch hier, Ent-
scheidungen unter Unsicherheit zu tref-
fen. Wer hat nur Kisten aus dem Großhan-
del ausgepackt und ihren Inhalt neu ar-
rangiert? Wer hat die Kartoffeln wirklich
liebevoll umsorgt in regionaler Erde auf-
wachsen lassen? Es geht um Anschein
und Sein und in diesemTatortaus Müns-
ter fällt beides weit auseinander. Auf ei-
nem Tablett landet die aktuelle Ausgabe
desWestdeutschen Anzeigers, zu lesen ist,
dass „der ehrenwerte Marktmeister Wag-
ner“ seinen Vertrag um fünf Jahre verlän-
gert habe. Die Haushälterin balanciert
dieses Tablett mit Frühstück und Früh-
stückslektüre nach nebenan, sie kommt
nicht mit weit, auch nicht mit Worten:
„Morgen Herr Wagner ... Herr Wagner?“
Im Hintergrund ist „Don’t leave me
this way“ von Harold Melvin & The Blue
Notes ist zu hören, und der Weg, auf dem
Wagner die Welt verlassen hat, war eine
Abkürzung: Tod durch Vergiftung. „La-
kritz“ ist der zweite von erstmals drei Fäl-
len, in denen in diesem Jahr Kommissar
Thiel (Axel Prahl) und Rechtsmediziner
Boerne (Jan Josef Liefers) in Münster er-
mitteln. Lakritz ist auch die klebrige Kau-
masse, die diesen Film und seine Verzwei-
gungen durchaus genießbar zusammen-
hält. Boerne und Thiel kalauern seltener
als sonst und verlieren sich nicht so oft in
Slapstick, ohne aber auf beides gänzlich
zu verzichten. Das Buch von Thorsten
Wettcke ist stimmig und die Regie von
Randa Chahoud, die einst die tolle Scifi-
Satire „Ijon Tichy: Raumpilot“ dirigiert
hatte, ebenso.
So gelingt es Chahoud in diesem in
Summe guten Film vor allem, eine zweite
Zeitebene sinnig mit der Gegenwart zu
vernähen. Zurück geht es phasenweise
ins Jahr 1979, als der sehr junge und
schon beschlipste Karl-Friedrich als
Nachhilfeschlumpf für die etwas ältere
Monika Maltritz seinen ersten Auftritt
hatte. Monikas Mutter hing bald auf dem
Dachboden, Monikas damaliger Freund
Bernhard ist heute Altenpfleger in einer
Einrichtung, in der auch Monikas Vater
untergebracht ist, der wiederum als Kun-
de von Thiels Vater und dessen Hasch-Ta-
xi auftritt. Der gemeinsame Sohn von Mo-
nika und Bernhard ist seinerseits liiert
mit der Tochter des holländischen La-
kritz-Händlers Bellekom, der zuletzt
überraschend eine Marktlizenz vom nun
toten Wagner erhalten hatte. Mit anderen
Worten: Die Lakritze verbindet vieles mit
vielem und wie es ihre Art ist, klebt sie
auch im übertragenen Sinne hartnäcki-
ger fest, als es den handelnden Personen
lieb sein kann.


Das Erste, Sonntag, 20.15 Uhr.


von harald hordych
und jürgenschmieder

U

nd dann passiertes, das Unge-
heuerliche in diesem Nacht-
club in West Hollywood, der
zwischen den legendären Stra-
ßen Sunset Boulevard und San-
ta Monica Boulevard liegt. Es ist kurz vor
Mitternacht, auf der Bar bewegt sich eine
Burlesque-Tänzerin zu den Klängen der
Live-Band, der Alkohol wird in Flaschen zu
den Gästen gebracht – da läuft doch tat-
sächlich jemand mit einer Plastiktorte
durch „The Next Door Lounge“, dahinter Be-
sitzer Daniel Kolenitchenko mit einer Kon-
fettikanone. Und seine Frau Oksana filmt
alles mit dem Handy.
Es ist ungewöhnlich dass Oksana Kole-
nitchenko diesmal selbst die Kamera hält.
Sonst ist sie es, die gefilmt wird, als eine Art
Reality-Soap-Star, der in Sendungen auf-
tritt, Sendungen, die sie Anfangs beim Sin-
gen, Einkaufen oder Umziehen zeigten,
und die nun sogarOksanas Traum vom
Glück(RTL) heißen.
Gratulationen sind die mäßig aufregen-
de Zäsur einer Partynacht, weil das „Happy
Birthday“ nur die interessiert, die wegen
des Geburtstages da sind – alle anderen
langweilen sich. Nur: Es feiern sehr viele
Leute Geburtstag an diesem Abend, jeder
bekommt ein Ständchen, eine eigene Tor-
te, eine eigene Show, und plötzlichen wer-
den die vielen kleinen Partys zu einer riesi-
gen Feier wie schon eine Woche davor, als
die Geburtstagsparty der Sängerin Bella
Thorne mit Gästen wie Paris Hilton auch
nur Teil der großen Fete waren.
Das Ungeheuerliche daran: Es geht in

dieser Stadt immer ein bisschen mehr ums
Gesehenwerden als ums Sehen, und das be-
deutet, dass es sich nicht ziemt, mal so rich-
tig die Sau rauszulassen. Coolness ist alles.
Dieses Ehepaar aus Deutschland will das
nun ändern, und es stellt sich die Frage:
Sind die verrückt?
Und, wenn man schon mal dabei ist: War-
um lassen sich die beiden dabei filmen? Sie
haben es nicht nötig, in einen Container, ei-
ne Liebesvilla zu ziehen oder im Dschungel
auf Plattitüden über das Lebensglück her-
umzukauen, während ihnen ein Teller mit
Kakerlaken serviert wird. Sie sind auch
nicht auf das Honorar angewiesen, nein:
Sie tun das,obwohlsie mit ihren Kindern
Milan und Arielle ein finanziell offensicht-
lich ordentlich ausgestattetes Leben füh-
ren. Was treibt einen dazu, sich dauernder
Kamerabeobachtung auszusetzen – vor al-
lem wenn man doch eher reich als arm ist?
Gerade noch Konfettikanone in den
USA, jetzt sitzt die platinblonde, stets mun-
ter drauflosredende 32 Jahre alte Berline-
rin in einem Café am Rande Münchens.
Das Café ist plüschig, es wirkt in dieser cha-
rakterlosen Vorstadt derart künstlich, als
wäre es nur für dieses Gespräch als Kulisse
hingezimmert worden. Hier sagt Oksana
Kolenitchenko gleich ohne falsche Traurig-
keit und mit noch weniger falschem Bedau-
ern: „Die beste Sängerin auf der Welt werde
ich in diesem Leben nicht mehr. Mich fil-
men lassen, ist einfach das, was ich am bes-
ten kann. Und was mich glücklich macht
und Spaß bringt.“
Einfach vor der Kamera existieren: so
könnte man diesen Arbeitsauftrag am bes-
ten umschreiben. „Ich liebe es, gefilmt zu
werden“, sagt Oksana Kolenitchenko. Sie

mag es, schlichtweg immer auf Sendung zu
sein, als Schauspielerin ihres eigenen Le-
bens. Fast immer. Allzu intime Momente
bleiben ausgespart.
Mit ihren Reality–Dokus machen Oksa-
na und Daniel Kolenitchenko so ziemlich
das Gleiche wie die Carmen und Robert
Geiss mit ihren Töchtern Davina Shakira
und Shania Tyra, die mit ihrem Wohl-
standsleben seit acht Jahren auf RTL 2 zu
sehen sind alsDie Geissens – eine schreck-
lich glamouröse Familie.

Die Familie aus Köln lässt sich beim Jet-
set mit stets zu viel Glitzer und Bling-Bling
zwischen Monaco, Saint-Tropez, Kitzbühel
und Valberg begleiten. Und immer wieder
auch bei ziemlich miserablen Umgangsfor-
men. Robert Geiss, von seiner Frau „Rooo-
bärt“ genannt, hat Mitte der Achtziger mit
seinem Bruder das Sportklamottenlabel
„Uncle Sam“ gegründet und soll die Firma
Mitte der Neunziger für geschätzte 140 Mil-
lionen Mark verkauft haben.
Die Kolenitchenkos sind etwas leiser un-
terwegs, jünger sowieso, und bei Weitem
nicht so rheinisch-trashig. Sie und ihr
Mann haben in Berlin den Club „The Pearl“
geführt, die Presse schreibt von Millionen
Euro Gewinn. Oksana Kolenitchenko er-
zählt: „In der Berliner Highclass-Szene wa-
ren wir auf jeden Fall die Nummer 1. Wir
hatten die höchsten Abverkaufszahlen von
Champagner in Deutschland.“ Und dann ha-
ben sich die beiden gesagt: „Jetzt räumen

wir hier mal ein bisschen die Stadt auf.“
Nicht Essen oder Leipzig, sondern Los An-
geles.
Für die Zuschauer halten die Aufsteiger-
familien Geiss und Kolenitchenko den Zau-
ber des Umstiegs von normal auf super be-
reit, aber gewiss auch die Befriedigung dar-
über, dass man trotz all des finanziellen
Glücks nicht frei von Fehlern und Punktlan-
dungen in Fettnäpfchen sein muss. Der
Reiz liegt sicher aber auch darin, dass über
das Leben im Reichtum in Deutschland we-
nig bekannt ist. Über Geld spricht man hier
nicht und wer es hier zu Wohlstand ge-
bracht hat, genießt und schweigt.
Das ist dann der Oksana-Moment, wie
man ihn nennen könnte. Der Moment, in
dem Kolenitchenko die Welt, speziell die
deutsche überhaupt nicht versteht. „In
Deutschland tun sich alle so schwer damit,
weil die Leute so ängstlich und verklemmt
sind. In Amerika ist das vollkommen nor-
mal, da hat keiner ein Problem damit.“
In Los Angeles ist laut Oksana Kolenit-
chenko nichts so normal, wie ein Leben in
der Frontalöffentlichkeit. Auch Künstler
wie der Rapper Snoop Dogg haben dort ihre
eigene Reality-Show. In der Folge For
Schnitzleseiner SendungFather Hoodhat
er mal so getan hat, als könne man in ganz
München keine Chicken Wings auftreiben.
Das ist ja sowieso immer die Frage: Wie viel
ist echt an Formaten, die angeblich das ech-
te Leben zeigen?
Na dann, Reality Check in Los Angeles.
„The Next Door Lounge“, das neue Restau-
rant der Kolenitchenkos, wirkt wie ein Spea-
keasy aus den Zwanzigerjahren, außer dem
goldenen Schlüssel am schwarzen Gebäu-
de deutet erst einmal nichts darauf hin,

dass drinnen eine Party stattfindet. Das Pu-
blikum ist zwischen 25 und 45 Jahre alt –
jung genug, um eine rauschende Party zu
feiern, indes auch kultiviert genug, dass es
kein Studentengelage wird. Wer die Gast-
geber einen Abend lang beobachtet, der
merkt, dass sie ihren Club so betrachten,
als wären sie selbst Gäste: Oksana Kolenit-
chenko sitzt irgendwann an der Bar und löf-
felt Tomatensuppe, dann läuft sie mit ei-
nem Champagnerglas zu den Tischen und
stößt mit Gästen an, später tanzt sie.
Oksana Kolitschenko hat begriffen, dass
ihr Leben für sie am besten funktioniert,
wenn sie es als eine Art Nonstop-Perfor-
mance zelebriert. Sie hat sich ihre Insta-
gram- und Facebook-kompatible Haltung
nicht antrainiert: Als sie mit ihren Eltern
mit zwei Jahren von Moskau nach Berlin
kam, standen von Anfang zwei Punkte of-
fenkundig weit oben auf dem Programm:
Erstens Überleben. Zweitens das
Überleben inszenieren.

Von klein auf sang die kleine Oksana auf
Bühnen; mit zwölf bei derMini-Playback-
Shows, mit 17 wurde sie beim „Casting-
Day“ im Filmpark Babelsberg zur „besten
Sängerin“ gekürt, ihre Band hieß„Oxana &
Julia G., die SingelHeaven. Am Ende aber
würde sie kein Star werden, das merkt sie ir-
gendwann. Da hatte sie die Schule längst ab-
gebrochen. Scheiß Jobs habe sie gemacht,
erzählt sie in München, wobei sie die Lei-
tung einer Hostess-Agentur ausdrücklich
ausnimmt, immer mit einem prüfendem
Auge auf dem Gesprächspartner, ob er
überhaupt willens ist, sie ernst zu nehmen.
Oksana Kolenitchenko fand schließlich
einen anderen Weg ins Fernsehen, zumin-
dest wo das Fernsehen offen ist für Men-
schen, die was riskieren. Mit 26 war sie eine
von 20, die in der CastingshowDeutsch-
land sucht den Superstarvorsingen durf-
ten, schaffte es aber nicht nach ganz oben.
DieBuntenannte sie deshalb mal DSDS-
Star, mal DSDS-Sternchen, aber
immerhin. Ihr unbefangenes Auftreten,
selbstbewusst, aber nicht affektiert, spon-
tan, aber weder aufdringlich noch vulgär,
verhalfen ihr schließlich zu einer Karriere
als Reality-TV-Star.
Ihr Mann Daniel Kolenitchenko leitete
unterdessen „The Pearl“, machte offenbar
Millionen, bis er etwas Neues wollte. Er war
es, der das Abenteuer in Amerika suchte.
Nicht seine Frau. Das erzählt Oksana Kole-
nitchenko ganz am Ende des Gesprächs in
München, auf die Frage, wie denn ihr
Mann zu der Lebensmitfilmerei stehe: „Na
ja, es war schon ein bisschen mehr Daniels
Traum, nach L. A. zu gehen als es mein gro-
ßer Traum gewesen ist. Und weil ich gern
mitgemacht habe, war er sofort bereit, bei
meinen Sachen mitzuspielen. Das ist nun
mal nicht ganz so sein Ding wie bei mir. Ich
mache Fernsehen seit 17 Jahren. Mein
Mann kennt mich nicht anders.“ Nach sol-
chen Sätzen schaut sie einen ein bisschen
herausfordernd an. Wo ist das Problem?
Es ist nun weit nach Mitternacht in L. A.,
„The Next Door Lounge“ ist noch immer
gut gefüllt. Oksana Kolenitchenko hat gera-
de die neuen Räume gezeigt, in denen sie
bald eine Burlesque-Lounge einrichten
will, mit einem alten Beichtstuhl, in dem je-
mand den Gästen die Beichte abnehmen
soll. Jetzt stehen Oksana und Daniel Kole-
nitchenko neben dem DJ-Pult und begut-
achten, was so los ist. Drüben, auf der grü-
nen Couch, vergnügen sich drei junge Frau-
en miteinander, und auf der anderen Seite
tanzen die Gäste wild.
Das Ehepaar sieht zufrieden aus. Frank
Sinatra hat mal darüber gesungen, dass es
jemand, der es in New York geschafft hat,
überall schaffen kann, aber: Wer es schafft,
die immercoolen Leute in Los Angeles dazu
zu bringen, mal so richtig die Sau rauszulas-
sen, der hat es geschafft in dieser Stadt.
Und kann es vermutlich überall schaffen.

Oksanas Traum vom Glück, zu sehen auf TVnow.

Die drei großen kulturellen Errungen-
schaften, dieEisenbahn, das Kino und die
Psychoanalyse, wurden im 19. Jahrhun-
dert erfunden. Wenn Hitchcock am
Schluss desUnsichtbaren Drittenden Zug
in den Tunnel einfahren lässt, konnte er
sich auf die Vorarbeit der Mssrs. Freud
und Eisenstein verlassen. Doch kein Film
führt die drei Formen näher zusammen
alsLa Roue(Das Rad), den allerdings bis
jetzt kein heute Lebender sehen konnte.
Das verschollene Meisterwerk von Abel
Gance kam 1923 ins Kino, war den Zeitge-
nossen zu lang, zu aggressiv, zu eisenbah-
nerfeindlich, zu musikalisch, zu opern-
haft und sowieso zu lang, wurde also vom
Regisseur gekürzt, von anderen verstüm-
melt, verschwand dann komplett aus dem
Menschheitslangzeitgedächtnis und ist
jetzt wundersamerweise wieder zusam-
mengesetzt auf kleinerem Bildschirm zu
sehen – Arte sei Lob und Dank.
Der verwitwete Lokführer mit dem et-
was aufdringlichen Namen Sisif rettet bei
einem Eisenbahnunglück das Waisenmäd-
chen Norma und gibt es als seine Tochter
aus, die er gleichauf mit seinem Sohn auf-
zieht. Als die Kinder erwachsen werden,
sind sie ineinander verliebt, was sie nach
bürgerlichem Recht nicht sein dürfen. Ein
Verführer kommt dazu, luchst Sisif sein
Geheimnis ab, und der verliebt sich zu al-
lem Überfluss selber in seine vorgebliche
Tochter. Die Botschaft ist überdeutlich,
bestes Melodram: Das „heimtückische Ge-
fühl“, das Sisif in sich aufsteigen fühlt, ent-
zündet sich an den Beinen seiner schau-

kelnden Adoptivtochter. Wenn er seinen
Sohn und Norma auseinanderreißt, weil
sie ihn an seine eigene Begehrlichkeit erin-
nern, fährt eine Lokomotive durch den
Bildhintergrund. Nachts drängt es ihn vor
ihre Schlafkammer, in der – so drastisch
war nicht einmal Buñuel – ein Ziegenbock
Wache hält. Das kann nur ganz böse enden
und tut es doch nicht so schnell, dennLa
Rouedauert fast siebeneinhalb Stunden,
die Arte auf zwei Séancen aufgeteilt hat.
Diese Vierecksgeschichte ist nur Lock-
speise, und es wird kräftig femmefatali-
siert, augengerollt, gebebt und gebangt,
aber es ist das Kino, wie es einst leibte, leb-

te und bei dem alle Menschen guten Wil-
lens mitlitten. D. W. Griffith brauchte den
Ku Klux Klan und den ganzen Bürger-
krieg, umBirth of a Nationdarzustellen, Ei-
senstein war 1923 noch beim Theater, als
Gance vorführte, wie ein Film durch den
Schnitt entsteht. Der Regisseur, der mit
Napoleonberühmt wurde, prunkt mit sei-
nen Erfindungen und zeigt, wie viel sich
mit Kreisblenden, Farbfiltern, Nahaufnah-
men und seinen Hauptdarstellern, den
französischen Zügen der Zwischenkriegs-
zeit, erzählen lässt. willi winkler

La Roue, Teil 2 am Dienstag, 0.05 Uhr/ Mediathek.

Legendär: David Walliams
und Matt Lucas in ihrer
ShowLittle Britain.FOTO: BBC

von cornelius pollmer

Kleben und Tod


Folge30/2019
Kommissare: Thiel/Boerne

Die Schule hat sie abgebrochen,
und dann manchmal
„scheiß Jobs“ gemacht

Die neue Reiche


WerGeld hat, genießt und schweigt: Diesen deutschen Grundsatz bricht Oksana Kolenitchenko


gerade genüsslich mit ihrer Reality-Doku. Ein Kennenlernen in München und Los Angeles


Verbotenes Begehren


„La Roue“: Arte zeigt ein verschollenes Meisterwerk aus dem Jahr 1923


Zahnlos


Überdie Rückkehr der Sketche von „Little Britain“ in „Little Brexit“


TATORTKOLUMNE


Sie und ihr Mann sind mit
einem BerlinerNachtclub zu
Geld gekommen

44 MEDIEN HF2 Samstag/Sonntag,2./3. November 2019, Nr. 253 DEFGH


„Und dann haben wir uns gedacht: Wir räumen jetzt mal ein bisschen die Stadt auf.“ Oksana Kolenitchenko meint L. A. – gesagt hat sie das in München. FOTO: HARALD HORDYCH

Das Findelkind und der Lokomotivführer: Ivy Close und Séverin-Mars im meister-
haften StummfilmLa Roue. FOTO: JÉRÔME SEYDOUX/ARTE
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