Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1

An heißen Sommertagen stand auch in die-
sem Jahr in vielen Großstädten die Hitze in
den Straßenschluchten. Die Menschen ge-
hen dann, wenn möglich, nur kurz vor die
Tür und eilen von kühlem Raum zu küh-
lem Raum. Angesichts der Erderwärmung
müssen Stadtplaner umdenken, damit das
Leben in den Städten im Sommer auch in
Zukunft erträglich bleibt. Dafür müssen
sie derzeit übliche Bauweisen hinter-
fragen, aber auch bei Neubauten stärker
berücksichtigen, welche Folgen diese für
die Temperaturen in der Stadt haben. Ar-
chitekten sind gefordert, die geschickt die
Vorteile verschiedener Materialien kombi-
nieren und die Physik berücksichtigen.
Viel Zeit bleibt nicht. Wissenschaftler
der ETH Zürich haben veranschaulicht,
wie warm es bereits 2050 in Großstädten
weltweit werden wird. Basis ist die Annah-
me, dass bis zu diesem Zeitpunkt die durch-
schnittliche Erwärmung der Erde 1,4 Grad
Celsius beträgt – ein eher optimistisches
Szenario. In München herrschten dann Be-
dingungen wie heute in Mailand und Tu-
rin. London würde nicht mehr wochenlang
im Regen versinken, im Gegenteil, es müss-
te wahrscheinlich sogar Wasser importie-
ren. Denn dort ginge es dann zu wie heute
in Istanbul und Barcelona. Die Spanier
müssen Wasser zukaufen, um die Versor-
gung zu gewährleisten.
Grundsätzlich gilt: Die Stadtbevölke-
rung leidet stärker als die Menschen auf
dem Land, denn Städte heizen sich stärker
auf. Weniger Grün, höhere Gebäude, ein
engmaschiges, dunkles Straßennetz, Kli-


maanlagen, Verkehr und vieles mehr tra-
gen dazu bei. In Städten mit Mangel an be-
zahlbarem Wohnraum wird zusätzlich
nachverdichtet, mehr und höher auf die
gleiche Fläche gebaut. Das heizt diese Städ-
te noch weiter auf.

Forscher des Instituts für Raumord-
nung und Entwicklungsplanung der Uni-
versität Stuttgart haben die Situation in
Ludwigsburg untersucht. Dort klagen be-
reits heute mehr als drei Viertel der
Menschen über eine hohe gesundheitliche
Belastung durch Hitze in der Innenstadt
und im öffentlichen Personennahverkehr.
„Neue Ansätze sind erforderlich, um Hitze-
stress sowie Risiken für besonders anfälli-
ge Bevölkerungsgruppen zu mindern und
die Lebensqualität der europäischen Stadt
zu erhalten“, sagt Institutsleiter Jörn Brink-
mann.

New Yorks Bürgermeister preschte die-
ses Jahr mit der Forderung vor, Glasfassa-
den bei Wolkenkratzern zu verbieten. Die
Fassaden ließen zu viel Wärme durch. Im
Sommer müssten die Klimaanlagen auf
Hochtouren laufen, im Winter die Heizun-
gen. Glas reflektiert Licht aber auch. Ste-
hen auf beiden Seiten einer Straße Hoch-
häuser mit geraden Glasfassaden, wird so
ein Teil des Lichts dazwischen hin- und
hergespiegelt und so auf die Straße weiter-
geleitet. Dort erwärmt es den Asphalt.
Eine Möglichkeit zur Abhilfe wäre, gebo-
gene Fassaden zu errichten. Ein Beispiel
ist das Gebäude 20 Fenchurch Street Lon-
don. Hier mussten Lamellen nachträglich
Reflexionen unterbinden. Die gekrümmte
Architektur hatte reflektiertes Sonnen-
licht so gebündelt, dass Kunststoffteile an
geparkten Autos auf der Straße schmol-
zen. „Vielleicht ist das ein unglückliches
Beispiel, aber wenn schon, dann sollten Ge-
bäude Sonnenstrahlung zurück ins All re-
flektieren“, sagt Franz Damm, Mitglied im
Vorstand der Bayerischen Architektenkam-
mer in München.
Auch auf Windverhältnisse sollten
Stadt- und Gebäudeplaner achten. So lei-
ten Windfänger den Wind durch Gebäude
und kühlen dadurch. Innenhöfe wirken
wie Kamine und transportieren warme
Luft nach oben weg. „Es ist eher sinnvoll,
die Physik zu nutzen, als Energie für Klima-
anlagen zu verwenden“, erklärt Damm.
Denn die bringen oft Wärme aus den Häu-
sern hinaus in die Stadt. Wichtig sind auch
Einfallschneisen für eine kühle Brise.

Wenn große Häuserriegel genau in der
Hauptwindrichtung stehen, blockieren sie
den Wind. Stattdessen sollte kühle Luft
vom Land gezielt in die Straßen der Städte
geführt werden. „Frischluftschneisen“
nennt Damm solche Elemente im Stadt-
plan: „Enge Straßenzüge kanalisieren die
Luft zusätzlich.“ Ebenfalls wichtig sind aus-

reichend Grünflächen. Laut Birkmann
empfinden Menschen die Hitze in Parks
und Gärten erträglicher. „Daher ist es zwin-
gend erforderlich, in Wohngebieten küh-
lende Grünflächen und blaue Infrastruk-
tur wie Seen zu schaffen“, betont er.
Wasser verdunstet. Das kühlt Körper
und Luft. Damm rechnet vor, dass ein

Baum pro Quadratmeter und Jahr 500 Li-
ter Wasser verdunstet, Rasen zwischen
300 und 400 Litern: „Daher sollten wir un-
nötig versiegelte Flächen vermeiden und
beispielsweise Parkplätze stapeln oder un-
ter die Erde verlegen.“ Ganze Straßenzüge,
die heute seitlich zugeparkt sind, könnten
dann Grünstreifen erhalten. Die techni-
sche Entwicklung ist weit genug, um den
Pflanzen gezielt Oberflächenwasser zuzu-
führen. Statt Starkregen über die Kanalisa-
tion abzuleiten, kann er in Pufferspei-
chern in den Grünanlagen gesammelt wer-
den.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist für
Damm, beim Bau von Gebäuden das richti-
ge Material einzusetzen. Holz speichert bei-
spielsweise weniger Energie als Beton und
Stein. Das bedeutet, im Sommer entziehen
Beton und Stein der Umgebungsluft Wär-
me und geben sie nachts wieder ab. Der Ar-
chitekt fordert daher, verschiedene Materi-
alien miteinander zu kombinieren. So
könnte ein Gebäude auf der Westseite eine
massive Beton- oder Steinwand haben, die
Wärme von der Abendsonne speichert und
nachts wieder abgibt. Eine große, verschat-
tete Glasfassade an der Südfront lässt tags-
über Licht hinein und im Winter, wenn die
Sonne tiefer steht, auch Wärme. Die Ost-
wand hingegen besteht aus gut dämmen-
dem Holz.
Experte Damm erklärt: „Das wirklich
Smarte liegt darin, physikalische Eigen-
schaften der Materialien zu nutzen statt
technisch gegenzusteuern, wenn man sie
nicht genutzt hat.“ jochen bettzieche

von joachim göres

D

ie Kamera folgt in schnellen
Bewegungen einer Betontrep-
pe, deren Stufen schon mit
ziemlich viel Unkraut bewach-
sen sind. Die grau-grüne Trep-
pe schlängelt sich immer weiter nach oben



  • und endet plötzlich im Nichts. Ein klei-
    ner Ausschnitt aus einem Video, das der-
    zeit in der Ausstellung „Incompiuto“ zu se-
    hen ist, auf Deutsch: unvollendet. Die
    Künstlergruppe Alterazioni Video hat sich
    in Italien auf die Spur von öffentlichen Bau-
    werken begeben, die nicht zu Ende errich-
    tet wurden. Sie ist auf etwa 700 Bauruinen
    gestoßen, die vor allem in den Siebziger-
    und Achtzigerjahren entstanden sind.
    Schwimmbäder, Parkhäuser, Brücken,
    Sportzentren, Bahnstationen, Kranken-
    häuser. Das Italienische Kulturinstitut in
    Hamburg präsentiert erstmals in Deutsch-
    land außer dem Video rund 20 großforma-
    tige Fotoaufnahmen.
    Da ist in einer grünen Landschaft ein
    grauer Betonklotz zu sehen, in der Mitte
    ein Loch, das für die Tür vorgesehen war.
    Wer näher an das Bild herantritt, liest in
    kleiner Schrift „Planetarium, Lucca“. War-
    um in diesem Ort in der Toskana das Bau-
    werk nicht vollendet wurde, erfährt man
    nicht. Immerhin gibt es im Begleitband ei-
    nige weitere Informationen: Baubeginn
    2005, Größe fast 6000 Kubikmeter, Kos-
    ten 1,5 Millionen Euro, die aus Mitteln des
    Staates aufgebracht wurden. Die Künstler


haben eine Skala von eins bis zehn entwi-
ckelt, um zu kennzeichnen, wie weit der
Bau fortgeschritten war. In Lucca – Stufe
drei – war das Planetarium demnach noch
im Anfangsstadium.
In Penne in der Region Pescara haben
die Künstler die hohen Außenmauern ei-
nes Gebäudes abgelichtet. Im Inneren wur-
de mit den Arbeiten noch nicht angefan-
gen, hier wächst Gras. Eigentlich sollte an
diesem Ort 1985 ein Gefängnis entstehen –
ob nach den investierten 1,4 Millionen Eu-
ro das Geld dafür ausgegangen oder die
Zahl der Straftäter plötzlich rapide zurück-
gegangen ist, bleibt offen. In Lamezia Ter-
me in Kalabrien ragt eine 700 Meter lange
Seebrücke seit 1971 ins Meer hinein – die
man aber nicht betreten kann, weil es kei-
nen Aufgang zur Brücke gibt und zwischen-
durch auch Brückenteile fehlen.
Die abgebildeten Motive sind meist
menschenleer, der Blick wird auf die nutz-
los errichteten Bauwerke gerichtet, die
sich die Natur langsam zurückerobert.
Man kann die Bilder aus verschiedenen
Blickwinkeln betrachten. Als Anklage ge-
gen die Verschwendung von Steuergeldern


  • für die 700 dokumentierten Ruinen wur-
    den fast 7,4 Milliarden Euro ausgegeben.
    Als Kritik an der Verschandelung von schö-
    nen Landschaften – 2200 Hektar wurden
    dafür verbaut. Oder als Brechen eines Ta-
    bus – über Jahrzehnte hatte sich niemand
    um diese Bauten und die Hintergründe ih-
    rer Nichtvollendung gekümmert. Auffällig
    ist die Häufung solcher Bauwerke im wirt-


schaftlich schwächeren Süditalien. Korrup-
tion, Mafia, Misswirtschaft, politische
Spiele oder Planungsfehler: Die Geschich-
ten hinter den Ruinen sind vielfältig.
Die Künstler können den unfertigen
Bauten aber auch etwas Positives abge-
winnen. Sie sprechen von einem eigenen
italienischen Baustil und erkennen die Rui-
nen als „künstlerisch-kulturelles Erbe an“,
das ebenso wertvoll wie andere historische
Sehenswürdigkeiten sei. Dahinter steckt

nicht nur Ironie: In der Kleinstadt Giarre
auf Sizilien, mit neun unvollendeten öffent-
lichen Bauten die Hauptstadt der Unvollen-
deten, organisierte die Künstlergruppe im
halb fertigen Polo-Stadion mit den zu stei-
len Zuschauertribünen ein umjubeltes Tur-
nier mit Reitern auf Steckenpferden. Die
Bewohner kamen in schicker Abendgarde-
robe und staunten über ein Bauwerk, das
sie vorher nie betreten hatten. Das Ziel:
Den Menschen die Hoheit über den öffent-
lichen Raum zurückgeben.
Salvatore Settis spricht nicht nur wegen
der vielen öffentlichen nicht vollendeten
Bauwerke von einem eigenen italieni-
schen Baustil. Der Archäologe und Kunst-
historiker sieht in seiner Heimatregion Ka-
labrien eine Vielzahl von Privathäusern,
die innen mit Marmor ausgelegt sind, de-

ren Fassade aber nicht verkleidet wurde,
sodass sie von außen wie Rohbauten wir-
ken. „Ging es darum, Geld zu sparen? Oder
wurde entschieden, dass die Verkleidung
überflüssig ist und dass es nicht wirklich et-
was ausmacht, wenn etwas vergessen
wird“, fragt Settis im Begleitband und fügt
hinzu: „Liegt es einfach an unserer Unfä-
higkeit, etwas zu Ende zu bringen? Ist un-
ser Wunsch, sie so zu lassen wie sie sind,
ein positiver Ausdruck für eine neue Form
von Kreativität? Oder ist es eher ein Aus-
druck von Faulheit und fehlender Voraus-
sicht?“
In einer Art Tagebuch haben die Künst-
ler von Alterazioni Video ihre Erlebnisse be-
schrieben, die sie beim Besuch der Ruinen
hatten. In Accadia in Apulien treffen sie
den Bürgermeister, der sie durch ein un-
vollendetes Gefängnis führt. Er vertraut ih-
nen an, dass er hier künftig die Disco Sing
Sing errichten will. Die Künstler umarmen
ihn. „Es ist das erste Mal, dass ein lokaler
Verantwortlicher vor uns steht, dessen
Blick über die allgemeine Entrüstung und
Scham hinausgeht.“ Nicht in Selbstmitleid
über planerische Unfähigkeit und fehlen-
des Geld für die Vollendung öffentlicher
Bauwerke versinken, sondern sich etwas
Neues ausdenken – eine Haltung, die die
Künstler mit ihrem ungewöhnlichen Pro-
jekt befördern möchten.

Zu sehen ist die Ausstellung „Incompiuto“ vom 11.
bis 15. 11. im Foyer der Hafencity-Universität, Über-
seeallee 16,geöffnet von 8 bis 19 Uhr.

New Yorks Bürgermeister
will Glasfassaden bei
Wolkenkratzern verbieten

In einem halbfertigen Stadion
veranstalten die Bewohner heute
Turniere mit Steckenpferden

Die Unvollendeten


Eine Künstlergruppe zeigt Gebäude in Italien,


die nie fertiggestellt wurden. Manche können den Mahnmalen


der Misswirtschaft sogar Positives abgewinnen


Grün und krumm


Die heißen Sommer setzen den Bewohnern von Großstädten zu. Stadtplaner und Architekten müssen daher umdenken


46 BAUEN & WOHNEN Samstag/Sonntag,2./3. November 2019, Nr. 253 DEFGH


Oasen wie der Englische Garten in München dienen der Erholung und verbessern
zudem das Klima. FOTO: MARTIN SIEPMANN / IMAGEBROKER / SÜDDEUTSCHE ZEITUNG PHOTO

Ruinenstätten:
Obendie Brücke San
Giacomo dei Capri in
Neapel, links ein
Straßenabschnitt
zwischen Empoli und
Castelfiorentino,
unten eine
Landungsbrücke im
Hafen von
Lamezia Terme.
FOTOS: ALTERAZIONI VIDEO
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