Berliner Zeitung - 02.11.2019

(nextflipdebug5) #1

2./3. NOVEMBER 2019 3


LiebeAnja,


schon anderthalb Jahrelang geben wir
eineAr tWendespiegelfüreinanderab.Du
spiegelst dich inmitten meinerHeimat
und ich spiegele mich in deiner.Unsere
Briefe fliegen hin und her undwenden
das Bild wieder und wieder.Und ich ver-
suchezuverstehen,wasdaseigentlichbe-
deutet:Wasist diese„Heimat“, in die ich
derzeit, bei aller Liebe,nicht zurückkeh-
renmöchte? Wasist deine „Heimat“, in
der wir uns bald wieder auf einenKaffee
an der Straßenecke treffen können?Wie
wirkt all das darauf ein,welche Bedeu-
tungdasWort„Heimat“einmalfürmeine
Kinderhabenwird?
Ichbin in einem Dorf, fünfzehnKilo-
meternördlichvonTelAviv,geborenund
aufgewachsen, genau dort, wo auch
meineMuttergeborenwurdeundseitje-
her lebt: zwei hübsche Häuschen auf ei-
ner kleinen Anhöhe.Unseres stand auf
dem unterenTeil des Hofes,weiß gestri-
chen, mit einemFlachdach.Etwas ober-
halb stand das Haus der Großeltern,
ebenfallsweiß, aber mit rotem Ziegel-
dach.
Im Hofgibt es einenMangobaum mit
üppigenFrüchten,einenherrlichduften-
den Zitronenbaum und einen mächtigen
Pekannussbaum.ImWinteristerkahl,im
Frühling glänzend grün mit gelbenBlü-
ten, imSommer dunkelt seinGrün. Im
SpätsommeristderganzeHofübersätmit
Nüssen, und dieKinder kommen mit
Säckchen an, um sie aufzulesen, im
HerbstverschwindetderRasenvölligun-
ter einer bunten Laubschicht–und der
JahreslaufbeginntvonNeuem.
Meine Großelternerhielten den klei-
nen Pekannusssetzling vonFreunden,
nachdemMuttersältererBruder,Yossi,im
Jom-Kippur-Krieg umgekommen war.
Heute ist er ein gesunder und kräftiger
Baum, der genau zwischen den beiden
Häusernsteht und den ganzenHofein-
nimmt.AufdemRasenliegenundinden
guten Pekannussbaum hochgucken ist
eine meiner Lieblingsbeschäftigungen,
egalzu welcherJahreszeit.Esgibtauchei-
nen altenFicusbaum.Einmal kam je-
mand, um sein Alter zu bestimmen, und
sagteuns,ers ei400 Jahrealt.Mansiehtin
seinem Geäst noch dieReste des Baum-
hauses,dasYossials Kindgebauthat,und
darüber dieReste des Baumhauses,das
meinBruderundicherrichtethaben.Das
Neueste in derReihe ist dasBaumhaus,
das meinVater voreinigen Jahren für
seineerstenEnkelkindergezimmerthat.
AlsmeinBruderundichnochkleinwa-
ren, saßen wir in denPessach-Ferien auf
demBaumundließeneinKörbchenrun-
ter,dasMutterunsmitschokoladebestri-


chenen Matzen füllte.Das war einSpaß!
Hinter demHaus wachsen wildeFeigen-
kakteen.Sind die Feigen reif, setztVater
eineMützeauf,ziehtHandschuheanund
geht ernten.Danach müssen dieFeigen
gewaschen und aus ihrer stacheligen
Schalegelöstwerden.Schließlichtutman
sieineinegroßeSchüsselundstelltsiein
den Kühlschrank.Wenn die Kaktusfeigen
schönkaltsind,machensichalledarüber
her,derGeschmackisthimmlisch.
Ichhatte eine glückliche Kindheit,
fühlte mich als der sichersteMensch auf
Erden. Heute,rückblickend,erkenne ich,
dassdieLage,imVergleichzuanderenOr-
ten, etwas vielschichtiger aussah. Als ich
zwei Jahrealt war ,hat meinVater im ers-
ten Libanonkrieg gedient, und wir waren
allein mit unsererMutter.Ich erinnere
mich an denGolfkrieg und begreife,dass
icherstelfwar,alswirbeijedemGangdie
Gasmaske dabeihaben und nachts oft im
Luftschutzraumsitzenmussten,biskeine
Raketenmehrfielenundwirwiederschla-
fengehenkonnten.
IcherinneremichandieBusanschläge
inTelAviv,and enRabin-Mord,denkean
die Wachsamkeit, mit der ich jedenAuf-
enthaltsortnach verdächtigen Gegen-
ständenabsuche.Icherinneremich,dass
mein Vater als Reservesoldat einmal die
WocheeinenÜbungsflugableistete.Aber
damals,alskleinesMädchen,fandichdas
alles nicht besonders furchterregend. Es
wareinfachTeilmeinesLebens,dassonst
um Singen, Spielen, Familie,Strand und
gutesEssenkreiste.
BeidemWort„Heimat“ denke ich da-
her,ehrlichgesagt,nichtanIsraeloderan
TelAviv,jan ichtmalandasDorf,indem
ich aufgewachsen bin.DasEinzige,was
mirdazueinfällt,istdieFamilieundunser
Hof: DerPekannussbaum, der grasbe-
wachseneHang zwischen den Häusern,
meine Eltern. DasSchicksal wollte es,
dass dieFamilie und derHofsich mitten
imNahenOstenbefinden,mitallem,was
sich daraus ergibt.Aber für mich ist das
reinzufällig.
AußerhalbdesHortsderFamiliefühlte
ichmichimDorfnichtganzzugehörig.Es
gab eine einzige Schule,nur eine Klasse
proJahrgang.Ichwar beliebt, aber nicht
sowiealleanderen.AlleMädchenkamen
inweißenBodysindieBallettstundeund
ich in einem fliederfarbenen, in derWo-
che darauf trugen alle anderen schwarze
Leggingsundichweiße.Irgendwiepasste
ichnieganzindieLandschaft.VieleHäu-
serimDorfwaren riesig,gehörtenreichen
Leuten,aberunseresnicht.Mitdenmeis-
ten Kindernringsum fand ich kaumGe-
meinsamkeiten.Daher bat ich meineEl-
tern,aufeineSchuleinTelAvivwechseln
zudürfen.IchwollteeinmusischesGym-
nasiumbesuchen.

Damals konnte ich keinInstrument
spielen,Singenwarfürmichkeinemusika-
lischeBegabung.Deshalbsetzteichaufdas
Theater undwechselte im Altervonvier-
zehnJahrenaufdasGymnasium1mittenin
TelAviv.Icherinneremich,dassdieKinder
aus dem Dorfmeinen Schulwechsel nach
TelAviv als Fahnenflucht werteten, als
würdeichsieimStichlassen,alsgingemein
WeggangaufihreKosten.Ichhabedasda-
mals nichtverstanden, und ehrlich gesagt,
verstehe ich es bis heute nicht.Aber wenn
ichjetztaufähnlicheReaktionenbeiande-
renMenschen (ausIsrael) über unseren
Umzug nachBerlin stoße,überrascht es
michnichtmehr.
Es gibt einen unklarenVerhaltenskodex
in Israel, den viele hochhalten, anschei-
nend infolge derTraumata vonFlucht und
Migration, verbundenmitderMilitärerzie-
hung oder womit auch immer,und dieser
Kodexlautet:„Manläuftnichtweg.“
Vomersten Augenblick an fühlte ich
michinderneuenSchulewohl,vorallem,
weil meineMitschüler sehr unterschied-
lich waren.Einige jobbten nachmittags,
um zurErnährung derFamilie beizutra-
gen,einigekamenvonaußerhalbwieich,
manche waren irre, manche schüchtern,
einigehasstenihreElternundkifften.Ich
lerntedortmeinebesteFreundinkennen,
Shirley,diefürmichbisheutewieFamilie
ist, und dorttrafich erstmals auch den,
der schließlich die Liebe meines Lebens
werdensollte–Aharon. Wirallehattenet-
was gemeinsam.Ichspürte ,dass uns et-
wasWahres verband,etwas,wasüberden
„Ort“hinausreichte.
Nach dem Abitur trat ich meinen
Wehrdienst an und fühlte mich wieder
nicht zugehörig.Staunend sah ich, mit
welcherLeichtigkeitdiemeistenanderen
dieSpielregelnderisraelischenArmeeak-
zeptierten.Mirmachte diesesSpiel kein
Vergnügen,nichtspasstemirdaran:Uni-
formanziehen,michinderGrundausbil-
dunganbrüllenlassen,eineWaffetragen,
Kaffee für denVorgesetzten kochen–ich
konnte es nicht ausstehen.Ichdiente in
der Armee,weil ich musste,aber auch,
weil ich einen Piloten zumVater und ei-
nen Offizier zumBruder hatte undweil
meinOnkelmit21JahrenimKriegfürdas
Land gefallen war und ich es für meine
Pflichthielt.
Kurz nach derEntlassung aus dem
Wehrdienstzogich zumMusikstudium
nachNewYork. IchkamzweiWochenvor
BeginndesStudienjahresanunderinnere
mich,dassichmitderNewYorkerU-Bahn
nach Midtown fuhr,umm ir ein elektri-
sches Klavier zu kaufen, und unterwegs
dachte,dassnichts,wasichhiertunoder
lassen würde,irgendwie auf dieseMega-
stadt einwirken könnte.Ich kam mir so
kleinundunbedeutendvor.Dochüberra-

schenderweise machte dasFremdheits-
empfindenbaldeinemstarkenGefühlder
Befreiung Platz,unddamitkamauchder
Mut, ich selbst zu sein, ohne irgendwem
Rechenschaftablegenzumüssen.Letzten
Endes genoss ich jedenAugenblick.Und
doch wusste ich, dass ich nach demStu-
diumheimkehrenwürde.
Mit24J ahrenkamichzurücknachTel
Aviv,diesmal in eineWohnung für mich.
IchwarverrücktnachTelAviv,lernteneue
Leute kennen, arbeitete an meinem ers-
tenAlbum,trathäufigauf–imK ellerdes
Nationaltheaters,der heute nicht mehr
existiert. Es war ein guter Ort.Zuerst
wohnte ich allein, dann mit Aharon, und
ehewir ’s unsversahen,warenwir35Jahre
alt mit zwei kleinenKindern, nach zwei
schrecklichenJahren mit Krankheit und
Chemotherapien,Geldproblemen,Glut-
hitze,Verkehrsstaus,Luftverschmutzung,
Raketenalarm,Bibi –und genug!Wirzo-
gendie Reißleine.
Da ich schon früher einigeZeit im Aus-
landgelebthatte,glaubteichkaum,dasses
fürlangeseinkönnte.Ichbetrachteteesals
eine gewisseAuszeit zurSelbstfindung an
einemneutralenOrt,indemBemühen,ein
neues Kapitel anzufangen, Kräfte zu sam-
meln. Aber ich hatte nicht einkalkuliert,
dassichnichtmehralleinwar,dassFamilie
ansichschoneinHeimist. UnsereFamilie
istdie„Heimat“unsererKinder.Undsoge-
schah es,dass diese „Heimat“ sich schon
seit dreiJahren inBerlin-Prenzlauer Berg
befindet,mitallem,wasdasmitsichbringt.
BeideKindersindzwarinIsraelgeboren,
warenabernochklein,alswirumzogen,Da-
vidfünfundBenjaminzweieinhalbJahrealt.
ZuHausesprechenwirnurHebräisch,doch
David äußertsich in Geschichten undGe-
dichten, die er aufDeutsch undEnglisch
schreibt,undBenjaministgeradezurSchule
gekommen.DeineStraßewir dfürdie Kinder
mitder ZeitderOrt,andemsieaufwachsen.
DieKirschbäumewerdenfürsiezunehmend
das,wasder Pekannussbaumfürmichwar.
Wielange werden wir inBerlin blei-
ben?Woziehenwirvondorthin?Ichhabe
keine Ahnung.Wirmüssen jeder in sich
undindenanderenhineinhorchen,dann
wirddas Leben uns schon denWegwei-
sen.
Jedenfalls möchte ich vorschlagen,
dass wir uns auch nach deiner Rückkehr
weiter Briefe schreiben.Wirkönnten zu
Stift und Papier übergehen und sie alsPa-
pierfliegervonBalkonzuBalkonwerfen.Ich
habemichdarangewöhnt,dichanmeinem
Alltag zu beteiligen.Wenn wir uns nicht
mehr schreiben,werdeich dich mehrver-
missen,wennduinderNähebist.

DeineYael

Übersetzung: RuthAchlama

Yael Nachshon Levin ...


...geboren inTelAviv,studierte an der
NewSchool University of Music in NewYork
und lebt seit 2016 als Sängerin und
Komponistin in Berlin. Im November
erscheint ihr neues Album, zu finden unter
http://www.yaelnachshonlevin.com. Zudem führtsie
den Kultursalon framed.berlin.

Yael Nachshon Levin,Anja Reich:
Getauschte Heimat.
EinJahrzwischenBerlin undTelAviv
AufbauVerlag,224 Seiten, 20 Euro,
erscheint am 8. November.

DieBuchpremiere
ist am 27. und 28. Novemberum20Uhr
im Pfefferberg-Theater.Zusatztermin:9Januar.
Kartentelefon: 939 35 85 55

LAIF/JONAS OPPERSKALSKI (3)

Abschiedsbrief

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