Die Welt Kompakt - 06.11.2019

(Brent) #1

2 THEMA DES TAGES DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH, 6. NOVEMBER 2019


A


ls die acht Richter des
Ersten Senats des Bun-
desverfassungsgerichts
am Dienstag den Saal
in Karlsruhe betraten, befand
sich Bundesarbeitsminister Hu-
bertus Heil (SPD) ganz vorn im
Publikum. Das Urteil zur Recht-
mäßigkeit der Hartz-IV-Sanktio-
nen, das sie kurz darauf verkün-
deten, bedeutet für ihn akuten

Handlungsbedarf. Denn das Ge-
richt erklärte einen Teil der
Sanktionspraxis für verfassungs-
widrig.

VON CHRISTINE HAAS

Reformen der Regeln im Sozi-
algesetzbuch II (SGB II) sind
deshalb zwingend. Das SGB II re-
gelt die Grundsicherung für Ar-

beitsuchende und Teile des deut-
schen Arbeitsförderungsrechts.

WAS HAT DAS GERICHT
ENTSCHIEDEN?

Die Richter haben dem Prinzip
des „Förderns und Forderns“,
nach dem unkooperative Hartz-
IV-Bezieher mit Leistungskür-
zungen bestraft werden können,

deutliche Grenzen gesetzt. Wer
Jobs oder Fördermaßnahmen ab-
lehnt, kann zwar weiterhin sank-
tioniert werden. Allerdings darf
der Regelsatz nur noch um
höchstens 30 Prozent gemindert
werden. Bislang waren Kürzun-
gen von 60 Prozent und mehr bis
hin zur vollständigen Streichung
des Arbeitslosengelds II und der
Erstattung der Miet- und Heiz-

H


artz-IV-Empfänger müs-
sen ab sofort keine dras-
tische Kürzung oder voll-
ständige Streichung ihrer Leis-
tungen mehr befürchten. Mona-
telange Minderungen um 60 Pro-
zent oder mehr sind mit dem
Grundgesetz unvereinbar. Das
hat das Bundesverfassungsge-
richt in Karlsruhe entschieden.

VON FLORIAN GEHM

Bundesarbeitsminister Huber-
tus Heil (SPD) kündigte noch für
Dienstag Gespräche mit der Bun-
desagentur für Arbeit und den
Bundesländern an. Einige Ände-
rungen seien unmittelbar not-
wendig, sagte der Minister, der
das Urteil „wegweisend und aus-
gewogen“ nannte. Es bestätige

Mitwirkungspflichten und deren
Durchsetzung, binde sie aber an
klare Grenzen.
Nach dem Prinzip „Fördern
und Fordern“ disziplinieren die
Jobcenter seit 2005 unkooperati-
ve Hartz-IV-Empfänger, indem
sie ihnen den Geldhahn zudre-

hen. Das werde den strengen An-
forderungen der Verhältnismä-
ßigkeit nicht gerecht, sagte Vize-
gerichtspräsident Stephan Har-
barth bei der Urteilsverkündung.
Die Vorschriften müssen nun
überarbeitet werden. Für die
Übergangsphase regelt das Ver-

fassungsgericht die Praxis selbst.
Minderungen um 60 oder 100
Prozent dürfen demnach ab so-
fort nicht mehr verhängt werden.
Der Chef der Bundesagentur für
Arbeit, Detlef Scheele, sagte, nun
müsse geprüft werden, was mit
noch nicht bestandskräftigen Be-
scheiden passieren solle, die
Minderungen von mehr als 30
Prozent vorsehen.
Im politischen Berlin schlug
die Entscheidung nur wenige
Stunden nach ihrer Verkündung
bereits hohe Wellen. Dietmar
Bartsch, dem Vorsitzenden der
Links-Fraktion im Bundestag,
geht das Urteil nicht weit genug.
„Nicht nur die Sanktionen sind
falsch, sondern Hartz IV als Sys-
tem müssen wir ersetzen“, sagte
Bartsch zu WELT. Das System sei

Hartz-IV-Sanktionen:


Kürzen ja, aber nicht zu


stark und nicht zu lange


Die Reaktionen auf das Urteil des obersten


deutschen Gerichts fallen sehr unterschiedlich
aus. Arbeitsminister will schnell reagieren

D


as Urteil des Bundes-
verfassungsgerichtsist
eindrucksvoll: Hartz-
IV-Empfänger dürfen nicht
mehr mit Sanktionen von 60
Prozent oder mehr belegt wer-
den – und zwar ab sofort. Für
einen alleinstehenden Hartz-
IV-Empfänger, der im Schnitt
808 Euro bekommt, können
nun höchstens 127 Euro – das
entspricht 30 Prozent des Re-
gelbedarfs, der 424 Euro be-
trägt – wegfallen. Wichtig und
richtig ist, dass diese Möglich-
keit der Sanktionierung erhal-
ten bleibt. Denn das System be-
ruht auf dem Prinzip des För-
derns und Forderns. Der Bezug
von Hartz IV, den immerhin die
Steuerzahler finanzieren, ist an
die Bedingung geknüpft, dass
die Empfänger daran mitwir-
ken, ihre Bedürftigkeit zu über-
winden – sprich, eine Arbeit
aufzunehmen. Ein gewisses
Maß an Anstrengung einzufor-
dern ist unabdingbar. Bekom-
men die Betroffenen einen zu-
mutbaren Job angeboten, müs-
sen sie diesen annehmen. Um
sicherzustellen, dass der Staat
das durchsetzen kann, braucht
es das Mittel der Leistungskür-
zung. Dabei geht es nicht nur
um diejenigen, die tatsächlich
sanktioniert werden. Es geht
auch um den Abschreckungsef-
fekt: Wer weiß, dass ihm Einbu-
ßen drohen, vermeidet dies wo-
möglich von vornherein.
Der Druck, den der Staat
ausüben kann, wird nun deut-
lich geschmälert. Doch die
Richter weisen zu Recht darauf
hin, dass die bisherige Praxis
einen großen Teil des Existenz-
minimums nimmt. Bislang war
sogar eine Vollsanktionierung
möglich. Betroffene konnten
sich grundlegende Dinge wie
Medikamente, Strom und Hei-
zung bislang mitunter nicht
mehr leisten. Im Extremfall
konnten sie die Miete nicht
mehr zahlen und verloren ihre
Wohnung. Ist das der Fall, wird
immer wahrscheinlicher, dass
die Menschen vollends den
Halt verlieren. Das heißt nicht
nur, dass ihre Eingliederung in
den Arbeitsmarkt in immer
weitere Ferne rückt, sondern,
dass ihr Wohlbefinden ernst-
haft gefährdet ist. Und das darf
ein Staat nicht dulden.
Zu begrüßen ist deshalb
auch, dass die Richter dafür
plädieren, den Einzelfall stär-
ker in den Fokus zu stellen.
Denn wer nachvollziehbare
Gründe vorbringt, weshalb er
nicht den an ihn gestellten An-
forderungen entspricht, sollte
nicht mit starren Strafen belegt
werden.
[email protected]


KOMMENTAR

CHRISTINE HAAS

Druck


muss sein


Die Grenzen


des Forderns


Das Bundesverfassungsgericht hat Teile der


Hartz-IV-Sanktionen für verfassungswidrig erklärt.


Auf die Jobcenter kommt ein großer Aufwand zu.


In der schwarz-roten Koalition droht neuer Streit

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