Die Welt Kompakt - 06.11.2019

(Brent) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH, 6. NOVEMBER 2019 THEMA DES TAGES 3


kosten möglich. Diese sind nach
Auffassung des Gerichts nicht
mit dem Grundgesetz vereinbar.
„Der Gesetzgeber schafft hier
für die betroffenen Menschen,
denen dann ein Teil des Exis-
tenzminimums fehlt, eine außer-
ordentliche Belastung“, sagte Vi-
zegerichtspräsident Stephan
Harbarth in Karlsruhe. Zulässig
sei zwar, von Menschen zu ver-


langen, „dass sie die Brücke in
die Erwerbsarbeit beschreiten“,
und zur Durchsetzung Leis-
tungsminderungen vorzusehen.
Dabei dürfe der Gesetzgeber
aber nicht zu weit gehen.
Deshalb gilt auch bei den wei-
terhin zulässigen 30-Prozent-
Sanktionen, dass die Jobcenter in
Zukunft stärker besondere Här-
ten berücksichtigen sollen und
im Einzelfall auch auf die Strafe
verzichten können. Zudem darf
die Kürzung nicht wie bisher vol-
le drei Monate aufrechterhalten
werden, wenn der Empfänger
sich einsichtig zeigt. Die Regeln
gelten ab sofort, bis der Gesetz-
geber die Reformen vorgenom-
men hat.
„Einerseits hat das Gericht
zwar die teilweise Verfassungs-
widrigkeit der bisherigen Sank-
tionspraxis herausgestellt“, sagt
Stefan Sell, Professor für Sozial-
politik an der Hochschule Ko-
blenz. Andererseits habe es mit
einer offensiven Argumentation
aber die grundsätzliche Praxis
der Sanktionierung für zulässig
erklärt. „Die Hoffnung der Geg-
ner, dass Sanktionen grundsätz-
lich unterbunden werden, wur-
de damit ganz klar zerstört.“

WAS ÄNDERT SICH DAMIT
KONKRET?

Mit sofortiger Wirkung darf der
Hartz-IV-Regelsatz von derzeit
424 Euro pro Monat nur noch
um höchstens 30 Prozent,
sprich 127 Euro gekürzt werden.
Die übrigbleibenden 297 Euro
können nun auch dann nicht
weiter gekürzt werden, wenn
die Betroffenen Mitwirkung ab-
lehnen. Derzeit gebe es rund
7000 Menschen, die zu 100 Pro-
zent sanktioniert werden, sagt
Sell. Sie müssten nun die 297 Eu-
ro ausgezahlt bekommen.
Holger Bonin, Forschungsdi-
rektor des Instituts zur Zukunft
der Arbeit (IZA), sagt: „Es gibt
nun weniger Möglichkeiten, Leu-
te durch Sanktionierung zu akti-
vieren.“ Zu bedenken sei aber,
dass der Anteil derjenigen, die ih-
re Mitwirkung bewusst verwei-
gern, gering sei. „Die meisten Be-
troffenen sind keine Sozialbetrü-
ger“, sagt er.

Wichtig ist zudem, was das
Gericht ausgeklammert hat. „Der
Großteil der Sanktionsfälle wur-
de außen vor gelassen“, sagt So-
zialpolitik-Professor Sell. Tat-
sächlich lag in drei Viertel der
rund 904.000 Fälle, in denen
Jobcenter laut Bundesagentur
für Arbeit im vergangenen Jahr
Leistungen kürzten, ein soge-
nanntes Meldeversäumnis vor:
Hartz-IV-Bezieher melden sich
nicht beim Jobcenter oder ver-
passen unentschuldigt eine Un-
tersuchung beim Arzt. „Diese

Fälle wurden ausdrücklich um-
schifft“, sagt Sell. Sie können
grundsätzlich mit Zehn-Prozent-
Kürzungen bestraft werden.

WELCHER AUFWAND IST
DAMIT VERBUNDEN?

„Das Gericht macht sich einen
schlanken Fuß, indem es den
Hauptteil der Konsequenzen in
das Feld der Jobcenter zurück-
spielt“, sagt Sell. Denn diese

müssten nun von bisherigen Re-
geln abweichen, ohne dass genau
geklärt ist, wie sie das tun sollen.
„Das Urteil bedeutet einen enor-
men Aufwand für die Jobcenter“,
sagt der Arbeitsmarkt-Experte.
„Wir haben nun weniger Rechts-
sicherheit als vorher.“ Offen sei
etwa, ob die Anweisung, dass
Kürzungen bei Einsichtigkeit des
Betroffenen nicht für drei Mona-
te aufrechterhalten werden dür-
fen, auch auf weniger harte Fälle
angewandt werden muss. „Wenn
das auch für die Fälle der Zehn-

Prozent-Sanktionierung gilt, hät-
ten wir einen deutlich höheren
Verwaltungsaufwand“, sagt Sell.
Wer wegen eines verpassten Ter-
mins beim Jobcenter sanktio-
niert wird, habe nun womöglich
Aussicht darauf, mit einer Klage
wegen unzumutbarer Härte er-
folgreich zu sein. Das Jobcenter
müsse dann nachweisen, dass die
Sanktion zumutbar ist.
Zumindest ein Teil der Kosten,
der sich nun ergibt, lässt sich im-

merhin leicht ausrechnen: Alle,
die bislang mit mehr als 30 Pro-
zent sanktioniert werden, müs-
sen künftig mehr Geld überwie-
sen bekommen. „Angesichts der
45 Milliarden Euro, die für Hartz-
IV-Leistungen zur Verfügung ste-
hen, sind das aber Mini-Beträge“,
sagt Sell.

WIE GEHT ES NUN WEITER?

Der Gesetzgeber muss anhand
der Maßgaben des Urteils nun
die entsprechenden Regeln im
SGB II ändern. Die Reformvor-
schläge, die das Bundesministeri-
um für Arbeit und Soziales
(BMAS) erarbeiten muss, könn-
ten dabei über die unmittelbaren
Forderungen des Gerichts hi-
nausgehen. Minister Heil hatte
schon signalisiert, unter ande-
rem die bislang besonders stren-
ge Sanktionierung von unter 25-
Jährigen mildern zu wollen.
„Wenn das Arbeitsministerium
die Gelegenheit nutzt, um Son-
derregeln umzusetzen, wird das
möglicherweise ein neuer Streit-
punkt in der großen Koalition
werden“, sagt Sell. Denn die CSU
habe im Vorfeld bereits Wider-
stand gegen die Änderung der
Regeln für junge Leistungsbezie-
her geäußert.
Die Umsetzung der Reformen
kann sich also hinziehen. Bis da-
hin gelten die vorläufigen Verfü-
gungen des Verfassungsgerichts.
„Die Bundesagentur für Arbeit
muss den Jobcentern nun Anwei-
sungen geben, wie sie in der Zwi-
schenzeit verfahren sollen“, sagt
Sell. Das Arbeitsministerium
selbst hatte am Dienstag kurz
nach dem Urteil angekündigt, es
werde „umgehend auf Bundes-
agentur für Arbeit, Länder und
Kommunen zugehen, um die
rechtssichere Anwendung in den
Jobcentern zu gewährleisten“.
Verfassungsgerichts-Vize Har-
barth hob außerdem hervor, dass
die Wirkung der Sanktionen fast
15 Jahre nach der Einführung von
Hartz IV immer noch nicht um-
fassend untersucht ist. Es gebe
nach wie vor viele offene Fragen,
und sich auf plausible Annahmen
allein zu stützen, genüge nicht.
Auch hier besteht also Hand-
lungsbedarf.

0 5.11.2019,
Baden-Würt-
temberg,
KKKarlsruhe:arlsruhe:
Der Erste

PICTURE ALLIANCE/ DPA

/ ULI DECK

ANZEIGE

„entwürdigend“, es brauche ein
neues Versicherungssystem, das
wirksam bei Arbeitslosigkeit
schütze. „Die Angst, bei Jobver-
lust sozial abzustürzen, zerfrisst
gesellschaftlichen Zusammen-
halt.“ Auch Grünen-Fraktions-
chef Anton Hofreiter begrüßte
das Urteil gegenüber WELT. Es
sei ein erster Schritt, Menschen
im Sozialstaat mit mehr Respekt
zu begegnen. „Es ist falsch, Bür-
gerinnen und Bürger die soziale
Mindestabsicherung zu kürzen
und sie damit in Existenznöte zu
bringen. Statt Strafen und Sank-
tionen muss die individuelle För-
derung und Vermittlung im Mit-
telpunkt stehen.“
Für die regierende, große Ko-
alition betonte Katja Mast, Vize-
Fraktionschefin der SPD, gegen-


über WELT, „sinnlose und un-
würdige Sanktionen sollten abge-
schafft“ werden. Bundesbürger
hätten einen Anspruch auf eine
Partnerschaft auf Augenhöhe. Al-
lerdings seien „Mitwirkungs-
pflichten in unserer Solidarge-
meinschaft sinnvoll“. Das Urteil
unterstreiche, dass Arbeitslose
jeden Alters gleich behandelt
werden müssten. Der Richter-
spruch sei deshalb auch ein Auf-
trag, „dies jetzt auch in der Koali-
tion gemeinsam anzugehen“.
Diese Notwendigkeit bestätig-
te die AfD-Vorsitzende Alice Wei-
del. Sie sagte WELT: „Es spricht
nicht für die Arbeit der Bundes-
regierung, wenn das Bundesver-
fassungsgericht wiederholt Rege-
lungen und Verordnungen kas-
siert, weil sie nicht verfassungs-

konform sind.“ Der Einwurf aus
Karlsruhe sollte dazu genutzt
werden, das Thema Hartz IV in-
tensiver zu diskutieren.
Wolfgang Steiger, Generalse-
kretär des CDU-Wirtschaftsrats,
hob hingegen hervor, die Richter
hätten ausdrücklich klargestellt,
„dass Sanktionen gegen unko-
operative Hartz IV-Empfänger
prinzipiell zulässig sind“. Wer
Beratungstermine nicht wahr-
nehme oder Jobs ausschlage,
„dem muss die staatliche Unter-
stützung gekürzt werden“, for-
derte Steiger gegenüber WELT.
Dies sei man „den hart arbeiten-
den Steuerzahlern schuldig“. Die
Bundesregierung solle die Gele-
genheit nutzen, eine „Agenda für
die Fleißigen in diesem Land“ auf
den Weg zu bringen.

���.��� �.���.��� ���.���

Strafen für Hartz-IV-Empfänger

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Statista

Zahl der neu festgestellten Hartz-IV-Sanktionen gegenüber
erwerbsfähigen Leistungsberechtigten

.

  

.

.

.

..

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, dpa

Sanktionsgründe ���� in Prozent*

Meldeversäumnis ,

sonstige Gründe ,

Verstoß gegen Eingliederungsvereinbarung,
z. B. keine aktive Arbeitssuche ,

Weigerung, Arbeit/Ausbildung/Maßnahme
aufzunehmen oder weiterzuführen ,

* rundungsbedingte Differenz

Warum Jobcenter Leistungen kürzen
Free download pdf