Süddeutsche Zeitung - 06.11.2019

(Tina Sui) #1
Auf einem Hügel in Lönneberga, einer
Landgemeinde imNordosten der schwe-
dischen Provinz Småland, steht ein ver-
lassenes Haus. Die Pforte ist in einem
Busch wilder Rosen untergegangen, im
Garten sprießen Birken, Vogelbeeren und
Holunder, die gelbe Farbe blättert von der
Fassade, und die Fensterrahmen verrot-
ten. Katebo heißt der Weiler, in dem sich
diese Ruine befindet. Ein großer Wald
trennt ihn vom Weiler Katthult, wo der
weltberühmte Lausbub Michel aufge-
wachsen sein soll. Doch wenn Katthult so
viele Besucher hat, der Bücher Astrid Lind-
grens wegen, dass für sie sogar ein Park-
platz gebaut werden musste, so findet kein
Tourist nach Katebo. „Könige und Grafen
hat es hier nie gegeben“, sagt Hasse, der
philosophierende Bauer, dem der große
Wald gehört, „keine Schlacht wurde hier
geschlagen. Wir sind nicht einmal sicher,
ob wir eine Geschichte haben.“
Der letzte Satz ist eine Übertreibung.
Denn das gelbe Haus mit dem verwilder-
ten Garten hat eine Geschichte: „Kultur-
kröken“ nennen es die Nachbarn. Das Wort
hat eine doppelte Bedeutung. Denn es be-
zieht sich zum einen auf die Schotter-
straße, die einen Haken („kröken“) um das
Haus macht. Und es meint zum anderen
den Schnaps („kröken“), den ein Bewohner
des Gebäudes in größeren Mengen ver-
zehrt haben soll. Torgny Lindgren hieß der
Schriftsteller, der etliche seiner Sommer in
Lönneberga verbrachte. Er war Mitglied
der Schwedischen Akademie, Autor von

vielen Romanen, Erzählungen, Theater-
stücken und Gedichten, von denen etliche
auch in andere Sprachen übersetzt wur-
den, führte aber ein oft zurückgezogenes
Leben irgendwo auf dem Land. Das heißt
nicht, dass er deswegen auf die große
Geschichte und die große Kultur verzichte-
te: Er machte sie nur klein, so klein, bis sie
irgendwann in eine Landgemeinde passte.
Das Buch „Das Höchste im Leben“ („Pöl-
san“, 2002) ist von dieser Art: ein Faust-Ro-
man, der in Nordschweden spielt, in dem
deutsche Kriegsverbrecher und seltsame
Sülzwürste vorkommen, der eine Variation
auf eine These Walter Benjamins über das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit darstellt und eine
Allegorie auf die Literatur und das Leben
schlechthin. Selbstverständlich spielt
auch die Bibel eine große Rolle für das
Buch. Geboten wird dieser Reichtum auf
kaum mehr als 200 Seiten.
Wenn man etwa zwei Kilometer in den
Wald gehe, sagt Hasse, der philosophieren-
de Bauer, und dann einen Sumpf überque-
re, komme man zu einer Quelle. Sie habe
früher den Weiler mit Wasser versorgt und
sei als artesischer Brunnen angelegt gewe-
sen, sodass sich das Wasser selbst den
Hügel hinauf gedrückt habe. Dann erzählt
er von Michel, dem Knaben aus der Nach-
barschaft, in dem sich eine Variation auf
den ewig ungehorsamen Pinocchio ver-
berge, und von Oscar Hedstrom, einem
Werkzeugmacher aus der Nachbarschaft,
der in Massachusetts die Firma „Indian“
gründete, zu Beginn des 20. Jahrhunderts
die größte Motorradfabrik der Welt. Zur
Gemeinde Lönneberga gehören insgesamt
170 Einwohner. Doch unendlich groß
scheint plötzlich der kulturhistorische
Reichtum dieser Landschaft zu werden,
von der man zunächst dachte, sie biete
eine passende Umgebung nur für Elche,
Pfifferlinge und Preiselbeeren.
Als Torgny Lindgren, der Mann aus dem
nun verfallenden gelben Haus, vor etwas
mehr als zwei Jahren starb, schrieb die
schwedische Presse, mit ihm sei der letzte
Vertreter einer älteren, historisch geschul-
ten und in einer kontinentaleuropäischen,
wenn nicht deutschen Bildungstradition
in der Akademie dahingegangen. Als die
große Krise der Akademie im November
2017 begann, erinnerte die Presse daran,
dass ein solcher Skandal mit Torgny Lind-
gren undenkbar gewesen sei. Und je länger
diese Krise währt, in ihren Etappen und Es-
kalationen, desto plausibler erscheint der
Gedanke, dass all diese Katastrophen nur
eintraten, weil der Geist von Lönneberga
verloren ging und „Kulturkröken“ nun ver-
lassen daliegt. thomas steinfeld

Der Geist von Lönneberga ist
verloren – Grund für die Krise
der Schwedischen Akademie

Nichts ist in der Welt der Internetfirmen
und -foren, der sozialen Medien und Netz-
präsenzen so beliebt und gängig wie das
Rebranding. Damit ist ein neuer Look
gemeint, ein prägnanteres Logo oder
gleich ein ganz neuer Name. Man macht
das, wenn es für das Unternehmen längere
Zeit nicht so gut läuft, wenn der Ruf ange-
knackst oder ganz ruiniert ist – oder aber,
wenn eine übel beleumundete Webseite
von Hackern massiv attackiert wird. So
massiv etwa wie das einschlägig bekannte
Imageboard 8chan. Das war eine üble
Forenseite, auf der gleich mehrere Akte
rechtsextremistischen Terrors offen an-
gekündigt und gefeiert wurden. 8chan
wurde Mitte August, nach dem Terror-
anschlag im texanischen El Paso, durch
Webattacken gesprengt und damit un-
brauchbar gemacht. Jetzt ist sie unter dem
neuen Namen 8kun wieder online.
Ein versuchtes Rebranding kann aber
auch durch Politur-Kampagnen in den
Medien erfolgen. Durch PR und Werbung
also, die einen frischen Glanz über die
Tristesse eines völligen Versagens oder
eines unerträglichen Heuchelns legen
wollen, die das eigene Geschäftsmodell
und -gebaren für die Öffentlichkeit er-
schreckend deutlich gemacht hat.
Wenn man etwa nur noch schlechte
Nachrichten produziert und eine entspre-
chend schlechte Presse hat wie Facebook
mit seinen 2,3 Milliarden Nutzern derzeit,
dann sind auch die Fantastrillionen an
Dollar, die Facebook mit seinem Business

verdient – im Jahr 2017 waren es 41 Milliar-
den Dollar Umsatz –, dann ist das viele Geld
nur ein relativer Trost. Auf Dauer ist der
schlechte Ruf auch schlecht fürs Geschäft.
Und wer wüsste all das nicht besser als
der Facebook-Chef Mark Zuckerberg,
dessen Sozialmedium zwar laut Bloom-
berg am letzten US-Kongresswahlkampf
354 Millionen US-Dollar mit politischer
Werbung verdient hat. Der nun aber unter
schärfster Kritik steht, selbst von den eige-
nen Mitarbeitern. Denn die haben Ende
Oktober zu Hunderten in einem offenen
Brief gegen Zuckerberg protestiert, weil
dieser offensiv deklariert hatte, im kom-
menden US-Präsidentschaftswahlkampf
politische Anzeigen auf seinen Seiten
selbst dann zuzulassen, wenn die Parteien
und Politiker darin eindeutig Fake News
und Lügen verbreiten. Mit dieser Lizenz
zur „Missinformation“ (Mitarbeiterbrief)
und Überdehnung des Begriffs Meinungs-
freiheit hat Zuckerberg seinen lukrativen
Mantel zwar nicht direkt auch über Terro-

risten, Trolle, Extremisten, Fundamenta-
listen und Verschwörer gebreitet, aber de-
ren Verleumdungen und Hetze zumindest
relativiert. Intransparent bleibt das Unter-
nehmen weiterhin darin, wann und wie es
gegen Hass und Propaganda einschreitet.

Kein Wunder also, dass man in Deutsch-
land und Europa, wo Facebook zwar nicht
gerade der kalte Wind, aber ein kühlerer
Hauch der Kritik als in der amerikani-
schen Heimat um die Nase weht, derzeit ei-
ne Charmeoffensive des Netzwerks erlebt


  • und das ganz analog, mit Werbung im
    linearen Fernsehen und gedruckt.
    Man sieht hierzulande – zur teuersten
    Werbezeit – einäugige Möpse von Hambur-
    ger Hundehaltern, die schwimmen lernen,
    es gibt „Schwangere Echte Mamas“, von


denen unklar ist, ob sie Mamas sind oder
doch nur schwanger, und es gibt vegane Bo-
dybuilder. Alle finden mit Facebook zuein-
ander, sagt Facebook in der Kampagne.
Damit nicht genug. Man hat jetzt auch
noch das Tafelsilber jedes auf Öffentlich-
keit bedachten Konzerns angefasst: das
Logo. Nein, (noch) nicht den in Minuskeln
gehaltenen Firmennamen der Webseite
und der APP, der auf einer Schriftvariante
von „Klavika Bold Bold OSF“ basiert. Man
hat für die Konzernmutter Facebook Inc. ei-
nen in Versalien gehaltenen Firmennamen
in einer maßgeschneiderten Schriftart ge-
schaffen, in der weite Buchstabenabstän-
de mit abgerundeten Ecken und kurvige
Diagonalen hervorstechen. Lauter Groß-
buchstaben signalisieren nach gängigen In-
ternetgepflogenheiten zwar Schreien. Das
Logo changiert dazu noch in den Farben
der Unterfirmen des Konzerns wie ein
brunftiges Einhorn in der Frühlingsbalz.
Man wolle damit aber, so die Firma,
„Klarheit und Offenheit ausdrücken wie
stabile Strukturen“, mit einem Wort: „Opti-
mismus“. Das neue Logo soll die dem Face-
book-Universum assoziierten Unterneh-
men wie Instagram, Whatsapp und Oculus
überstrahlen und helfen, sie von der Kon-
zernmutter und ihrem weiterhin wenig
offenen, kaum klaren und überhaupt nicht
optimistisch stimmenden Sozialnetz zu
unterscheiden. In dieser Hoffnung auf
Differenz steckt gewiss viel Optimismus.
Deshalb muss man aber doch nicht gleich
so schreien. bernd graff

Der SängerEgils SilinshatdieLeitung
der Lettischen Nationaloper und des
Balletts in Riga übernommen. Der
57 Jahre alteBassbaritontrat die Nach-
folge des von 2013 bis 2019 amtieren-
den Direktors Zigmars Liepins an. Silins
ist seit rund 30 Jahren international
gefragt und will auch weiter auftreten.
Sein Repertoire umfasst nach eigenen
Angaben mehr als 90 Partien des deut-
schen, französischen, italienischen und
russischen Fachs. Im vergangenen Jahr
feierte er sein Debüt bei den Bayreuther
Festspiele in „Lohengrin“. dpa

Für seine Verdienste um den deutsch-
sprachigen Film erhält der Regisseur
Rosa von Praunheim, 76, den Ehren-
preis des Saarbrücker Filmfestivals
Max-Ophüls-PreisEnde Januar 2020.
Die Festivalleitung würdigt ihn als öf-
fentlichen „Wegbereiter der Schwulen-
bewegung in Westdeutschland“. Seine
Art des Erzählens sei direkt, persönlich
und zum Teil unkonventionell. Er habe
zahllose Künstler inspiriert. dpa

von kito nedo

V


or 50 Jahren schenkte sich Dresden
einen Kulturpalast. Pünktlich zum
zwanzigjährigen Bestehen der DDR
und ein Jahr nach der Niederwerfung des
Prager Frühlings durch sowjetische Pan-
zer wurde 1969 am zentral gelegenen
Altmarkt das „Haus der sozialistischen
Kultur“ feierlich eingeweiht. Seither
schmückt ein 30 Meter langes und elf Me-
ter hohes Mosaikwandbild die Westseite
des modernistischen Gebäudes. Das sozia-
listische Propagandastück „Der Weg der
Roten Fahne“ kündet bis heute von der ehe-
maligen Siegesgewissheit des historischen
Realsozialismus. Ironie der Geschichte:
Die staatlichen Auftraggeber hatten sich
seinerzeit die „Veränderbarkeit der Welt“
als Grundthema gewünscht.
Unter denjenigen, die Mitte der Sechzi-
ger im Rahmen des Kunst-am-Bau-Wett-
bewerbs Entwürfe für die Wand einge-
reicht hatten, war auch ein junger Künstler
mit dem Namen Ralf Winkler, geboren
1939 in Dresden. Ab 1968 verpasste sich
der Autodidakt in Anlehnung an den Geo-
grafen, Geologen und Eiszeitforscher Al-
brecht Penck das Pseudonym A.R. Penck.
Gemeinsam mit dem Bildhauerfreund
Peter Makolies hatte Winkler ein Relief vor-
geschlagen, das anhand von reduzierten
menschlichen Figuren und Symbolzei-
chen die Entwicklung von der vormoder-
nen Agrargesellschaft bis ins Industrie-
zeitalter darstellte. In seiner Feierlichkeit
erinnert der frühe Entwurf auch an jene
„Pioneer-Plaketten“, die die NASA später
in den Siebzigern an Raumsonden in der
Hoffnung befestigte, mit außerirdischen
Existenzen in Kontakt zu treten. Dieser
Satellitenblick auf das Gesellschaftliche,
aber auch das Nachverfolgen von Kunst
und Wissenschaft mit der angemessenen
Fröhlichkeit zieht sich – das zeigt die
Dresdner Ausstellung anlässlich des


  1. Geburtstages von Penck – schließlich
    wie ein roter Faden durch das Werk.


Winkler alias Penck, der 2017 in Zürich
mit 77 Jahren starb, entwickelte in seiner
Dresdner Zeit über die Beschäftigung mit
Informationstheorie und Kybernetik ein
System von piktogrammartigen Symbolen
und Figuren, die sein Markenzeichen
werden sollten. Als er 1980 auf Druck der
DDR-Behörden im Alter von vierzig Jahren
zur Ausreise in den Westen gezwungen
wurde, galt er wegen der höhlenbilder-
artigen Figuren bereits als der Pate der
Malerei der Neuen Wilden.
Solange er in Dresden lebte, existierte
der Künstler gezwungenermaßen in einer
zwiespältigen Situation: Im Osten durfte
er offiziell nicht an Ausstellungen teilneh-
men und auch nicht Mitglied im Verband
Bildender Künstler der DDR werden. Im
Westen hingegen war er ein gefeiertes
Phantom, da er selbst nicht zu seinen Aus-
stellungseröffnungen reisen durfte. Ha-
rald Szeemann zeigte ihn auf der Documen-
ta 1972 und machte ihn in Abwesenheit de
facto zu einem Weltstar in der Provinz.
Pencks Galerist Michael Werner schmug-
gelte die Bilder jahrelang über die Grenze.
Dass sich der Freund und Wegbegleiter auf-
grund von Differenzen schließlich aus den
Vorbereitungen der Dresdener Schau zu-
rückzog und auch keine Leihgaben an die
Elbe gab, wirkt wie ein blinder Fleck in der
Ausstellung nach. Denn es ist schwer vor-
stellbar, den Erfolg von Penck überhaupt
zu erfassen, ohne über die Rolle von Micha-
el Werner zu sprechen, der seinerzeit ne-
ben Penck eben auch Baselitz, Lüpertz, Im-
mendorff und Polke um sich scharrte und

bis heute als graue Kunstmarkt-Eminenz
weiterhin kräftig im Hintergrund wirkt.
Insofern ist es schon bemerkenswert,
wie die von Mathias Wagner kuratierte
Schau mit dem Titel „Ich aber komme aus
Dresden (check it out man, check it out)“ es
dennoch schafft, das Penck-Universum in
seiner schillernden und verwirrenden
Pracht in einem chronologisch geordneten
Rundgang vor dem Publikum auszubrei-
ten. Denn Penck war bereits in seiner
Dresdner Zeit in eine große Fülle von
künstlerischen Aktivitäten verwickelt, die
in der Retrospektive gleich wichtig erschei-
nen. Er zeichnete und malte wie ein Beses-
sener, aber er widmete sich auch der Bild-
hauerei, dem Schreiben von Texten und
der Herstellung zahlreicher Künstlerbü-
cher ebenso wie dem Drehen von Super-8-
Filmen (gemeinsam mit Wolfgang Opitz)
oder dem hingebungsvollen und ausdau-
ernden Free-Jazz-Geklöppel in verschiede-
nen Konstellationen. All dies machte ihn in
den Augen der SED-Kulturfunktionäre
schon frühzeitig verdächtig, doch der mit
Wolf Biermann befreundete Penck – das
ist eine These der Dresdner Schau – war
eher ein Dissident wider Willen. Für den
von oben vorgegebenen „Sozialistischen
Realismus“ hatte er nie etwas übrig, aber
als junger Mensch hing er zunächst doch
noch der Überzeugung an, mit seiner
Kunst „einen positiven Beitrag zum Sozia-
lismus leisten zu können“.
Selbst da, wo es nichts mehr zu lachen
gab, verlor Penck nicht den Humor. Als er
etwa im Rahmen einer „operativen Maß-
nahme“ der Staatssicherheit Mitte der
Siebziger zwangsweise zum sechsmonati-
gen Reservedienst in die Nationale Volksar-
mee eingezogen wird, erarbeitet er einen
„Verbesserungsvorschlag Militärästhetik“,
der schließlich zur Produktion einer gleich-
namigen Künstlermappe mit entspre-
chend umgestaltetem Spielzeugpanzer
und Spielzeugsoldat führt. Der Künstler
schlug einen Kuhfell-artigen Tarnanstrich
für militärische Objekte, Panzer und
Uniformen vor. So sollte ein „expressiver,
stimulierender Effekt (freie Zufälligkeit
der Fleckenexistenz)“ erreicht werden.
Nach der Biermann-Ausbürgerung
1976 waren die Fronten geklärt. „Ende im
Osten“ heißt ein Penck-Bild aus den Jah-
ren 1979/80. Nach der Ankunft im Westen
richtet ihm Michael Werner im November
1980 eine Ausstellung in Köln aus. Penck
nennt sie „Verwandlung eines DDR-Bür-
gers in einen BRD-Bürger“. Es wirkt so, als
fühlte er sich wie die Figur aus der berühm-
ten Kafka-Erzählung.
Als Penck 1992 nach dem Fall der Mauer
für seine erste Museumsausstellung in sei-
ne ehemalige Heimatstadt zurückkehrte,
wollte er das weder als die Heimkehr eines
verlorenen Sohnes verstanden wissen,
noch als die Rückkehr eines triumphieren-
den Siegers. Solche simplifizierenden
Sichtweisen empfand er als naiv. „Die Lage
des Künstlers bleibt weiter problematisch,
wenn er darauf verzichtet, Ideologien oder
andere Interessen zu repräsentieren.“ Für
Penck war der Osten wie die Wüste und der
Westen wie der Dschungel. Beides sind
klimatische Extremorte, die unterschied-
liche Überlebensstrategien erforderten.
Seine Kunst suchte er in Bewegung zu hal-
ten. „Aber ich bin ja vor allem Nomade.
Was bleibt sind Zeichen meiner Existenz.“
Die großen Fragen zu Menschsein, Gesell-
schaft, Abstraktion, System oder Kunst-
entwicklung wollte er nicht getrennt
voneinander behandeln. Kunst war für
Penck ein Modus, den Weg der Erkenntnis
zu ebnen, aber eben auch ein riesiger
anarchistischer Spaß.

Ich aber komme aus Dresden (check it out man,
check it out), Albertinum,Staatliche Kunstsamm-
lungen Dresden. Bis 12. Dezember.

Brunftiges Einhorn


Der Facebook-Konzern will sich neu erfinden und gibt sich dafür ein neues Logo


KURZ GEMELDET


Wüstenzeit


DasDresdner Albertinum zeigt die Kunst der frühen Jahre des A. R. Penck. Bis zu seiner Ausreise


1980 galt der junge Künstler als heimlicher Star der Szene. Dissident war er eher wider Willen


Eigentlich hätte man meinen können,
wenn da ein Wiener unter dem Kalauer-
NamenVoodoo Jürgensauftritt und
auf schrulliger Bänkelsänger macht,
dann wird der ein feiner Independent-
Tipp bleiben und für immer in Beisln
(österreichisch: Kneipen) spielen. Als er
vor drei Jahren auftauchte, war bei ihm
alles krummer, sperriger als beiWanda
und den anderen österreichischen
Bands, die mit Exportschlagern zu Ex-
portschlagern wurden. Aber Jürgens
(bürgerlich David Öllerer) spielte uner-
müdlich auf kleinen Bühnen seine Lie-
der, die in breitem Wienerisch vom
Leben erzählen, vom Rausch, von der
Stadt, von der Liebe. Und weil er viel
Charme hat und die Leute sich begeis-
tert von seinen Konzerten erzählten,
wurden die Bühnen größer und größer.
In Österreich ist er jetzt ein Star und
drei Jahre nach seinem Debütalbum,
gibt es endlich ein neues, es heißt „’s
Klane Glücksspiel“ und klingt wie ein
weinseliger Beisl-Abend: akustische
Instrumente, Ziehharmonika, schräge
Bläser, manchmal ein bisschen weit im
Schunkligen, dann wieder aufgefangen
durch Tom-Waits-Anleihen. Dazu Jür-
gens‘ leicht knatschiger Gesang, schöne
und traurige Geschichten vom Karten-
spielen, Taxifahren, Feiern, Träumen.
In den nächsten Wochen ist er auf Tour,
auch in Deutsch-
land. Spätestens
für den Termin in
Dortmund sollte er
vielleicht schauen,
ob man Konzerte
auch mit Unterti-
teln geben kann.


Marius Müller-Westernhagenhat sich
noch mal das Album vorgenommen,
mit dem er vor 40 Jahren bekannt wur-
de, „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“.
Er hat die Lieder alle neu eingespielt, in
einem Studio in Woodstock, das Ergeb-
nis nennt er „Das Pfefferminz-Experi-
ment“. Schöne Ausnahme in Zeiten, in
denen andere allen Ernstes live ihre
größten Alben so originalgetreu wie
möglich runterspielen. Der Mann ist
jetzt 70, die neue Version fällt erwar-
tungsgemäß ruhiger aus als das Origi-
nal. 1978 grölte und nölte er sich durch
hektische Rock’n’Roll-Songs wie „Mit
Pfefferminz bin ich dein Prinz“ und „Oh
Margarete“, die bringt er jetzt betont
entspannt, mit behutsamen Folk-Gitar-
ren und viel Luft zwischen den Tönen.
Da schimmert immer so ein „Paris,
Texas“-Gefühl durch, man soll bitte
gern hören, dass das Album in Amerika
auf dem Land entstanden ist. Bei man-
chen Liedern geht das nicht so gut auf,
„Dicke“ war einst eine Provokation,
jetzt wird eine Art Parodie der Parodie
draus. Aber dem
Alkohol-Song
„Johnny Walker“
steht die Stimme
des älteren Herrn
sehr gut. Sollten
sich mehr Sänger
trauen, so was.


Ein Jahr lang hat das DuoUnderworld
jetzt sein „Drift“-Projekt durchgezogen.
Karl Hyde und Rick Smith, weltbekannt
seit dem Klassiker „Born Slippy“, der
den Film „Trainspotting“ befeuerte,
wollten nach all der Zeit mal etwas ande-
res probieren. Also nahmen sie sich vor,
ein Jahr lang jeden Donnerstag einen
neuen Track auf ihrer Website zu veröf-
fentlichen. Zwang als Methode. Dabei
entsteht natürlich viel Geht-schon-so,
aber doch auch immer wieder einiges
an Hey-nicht-schlecht. Die komplette
Sammlung auf sieben CDs ist nur etwas
für Fans, aber die zehn Stücke auf der
„Drift Series 1 Sampler Edition“ erge-
ben ein ziemlich gutes Underworld-Al-
bum. Flächige Elektromusik, manch-
mal nervös, manchmal sphärisch, der
Drumcomputer marschiert, die Synthe-
sizer brizzeln. Am schönsten sind aber
die Überraschungen, vor allem das
wunderbare Ambient-Stück „Brilliant
Yes That Would Be“ mit seinen wal-arti-
gen Klagesounds. Hyde und Smith ha-
ben übrigens so viel
Gefallen an der
neuen Produktions-
weise (und dem
großen Online-Zu-
spruch) gefunden,
dass sie das Projekt
einfach fortsetzen.


Jeff Lynneist ein komischer alter Vo-
gel. Vor 50 Jahren hat er sich eine Son-
nenbrille aufgesetzt und beschlossen,
sie nie mehr abzunehmen. Vor 50 Jah-
ren hat er sich einen Sound ausgedacht
und beschlossen, ihn nie mehr zu än-
dern. Mit seinemElectric Light Orches-
tragehörte er zu den ganz großen Über-
treibern der Siebziger, er kombinierte
Beatles-Harmonien mit plastikbunten
Rock’n’Roll-Parodien und einem Meer
kitschiger Geigen – und dabei ist es bis
heute geblieben, auch wenn er längst
nur noch eine One-Man-Band ist. Für
viele Jahre hatte er den Namen ELO
aufgegeben und trat als Jeff Lynne auf,
seit ein paar Jahren läuft seine Musik
unter dem Namen Jeff Lynne’s ELO,
aber egal, das hat sowieso keinerlei
Auswirkung auf die Musik: Das neue
Album „From Out Of Nowhere“ hätte
exakt so auch 1978, 1984, 1996 oder
2007 erscheinen
können. Perfekt
gemacht, ange-
nehm flauschig,
sofort mitsummbar
und ohne jede neue
Idee.
max fellmann


In „Kulturkröken“


wohnt niemand mehr


Harald Szeemann zeigte ihn auf
der Documenta 1972 und machte
ihn zum Weltstar in der Provinz

Ein Text in Großbuchstaben
signalisiert im Internet
überlicherweise lautes Schreien

DEFGH Nr. 256, Mittwoch, 6. November 2019 (^) FEUILLETON HF3 11
„Offenheit und Optimismus“: Das neue Logo der Konzernmutter Facebook.FOTO: AFP
Das A.-R.-Penck-Univer-
sum in seiner schillernden
und verwirrenden Pracht
(von oben im Uhrzeiger-
sinn): Skizzenbuch um
1957–59; „Nächtliches
Selbstbildnis mit Hut“,
1958; „Großes Welt-
bild/Large World Picture“,
1965; „Standart-Modell“,
1968.FOTOS: © VG BILD-KUNST,
BONN 2019; STÄDTISCHE GALERIE
DRESDEN, FRANZ ZADNIČEK;
RHEINISCHES BILDARCHIV KÖLN;
GALERIE MICHAEL WERNER
POPKOLUMNE SCHAUPLATZ
LÖNNEBERGA

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