Süddeutsche Zeitung - 06.11.2019

(Tina Sui) #1
Düsseldorf– Rolf Buch ist Ingenieur und
kein Verfassungsrichter, das schickt er vor-
aus. Und doch äußert der Chef von Deutsch-
lands größtem Vermieter Vonovia seine
Zweifel am sogenannten Mietendeckel,
der vom nächsten Jahr an in Berlin gelten
soll: „Das Einfrieren von Preisen in einem
dynamischen Markt hat noch nie ein Pro-
blem gelöst“, sagt Buch. Der Manager er-
wartet, dass die Berliner Oppositionspar-
teien CDU und FDP eine Normenkontroll-
klage gegen den Deckel in die Wege leiten
werden. „Ich gehe fest davon aus, dass es
zu einer Klärung vor dem Bundesverfas-
sungsgericht kommt.“
Der Berliner Senat hat Ende Oktober be-
schlossen, die Mieten für alle Wohnungen,
die vor 2014 gebaut wurden, fünf Jahre
lang einzufrieren. Auch sollen nur noch
Kaltmieten bis höchstens 9,80 Euro pro
Quadratmeter erlaubt sein. Damit reagiert
die rot-rot-grüne Landesregierung auf die
steigenden Mieten: Wie andere Metropo-
len wächst Berlin jährlich um Zehntausen-
de Einwohner. Die Hauptstadt zieht junge
Menschen aus dem In- und Ausland an.
Doch der Neubau kommt kaum hinterher.

„Wir brauchen dringend neue Wohnun-
gen“, sagt Vonovia-Chef Buch nun. Der Mie-
tendeckel sei hingegen „ein eindeutiger
Systemwechsel“: weg von einem Woh-
nungsmarkt, den der Staat mit Verordnun-

gen wie der Mietpreisbremse oder dem
Mietspiegel einzuhegen versucht. „Das
wird jetzt ersetzt durch ein Preisfestset-
zungsgesetz.“ Derlei Systeme seien auf
deutschem Boden schon mehrmals ohne
Erfolg geblieben, lästert der Vonovia-Chef.
Freilich profitiert der Konzern mit gut
395000 Wohnungen in vielen Städten von
der Knappheit. „Wir sind praktisch vollver-
mietet“, sagt Buch. Dank niedriger Zinsen
kann sich Vonovia obendrein günstig finan-
zieren; Jahr für Jahr gewinnen die Miets-
häuser an Wert. „Der Trend in Deutsch-
land zu steigenden Immobilienpreisen ist
offenbar ungebrochen“, so Buch.

Und vielerorts kann der Konzern Mie-
ten erhöhen: Mittlerweile zahlen seine Mie-
ter im Schnitt 6,69 Euro pro Quadratme-
ter, vier Prozent mehr als vor einem Jahr.
Die Bochumer führen den Anstieg vor al-
lem darauf zurück, dass sie Wohnungen
modernisieren und danach die Miete erhö-
hen dürfen; sie haben aber auch neue Woh-
nungen gebaut, die nun vermietet sind.
An den Deckel in Berlin werde sich Vono-
via dennoch halten, kündigt Buch an.
Seine Leute haben ausgerechnet, dass die
Regel den Konzern im nächsten Jahr etwa
sechs Millionen Euro kosten werde. „Das
ist für uns verkraftbar“, sagt der Chef.

Denn allein in den ersten neun Monaten
dieses Jahres hat Vonovia gut 1,5 Milliar-
den Euro eingenommen, knapp zehn Pro-
zent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die
Aktionäre sollen im nächsten Jahr eine Di-
vidende von 1,57 Euro je Anteilsschein er-
halten, mithin 13 Cent mehr als zuletzt.
Der Konzern profitiere nun davon, dass
er sich auf wachsende Regionen konzen-
triert habe, aber eben nicht nur auf Berlin,
sagt Buch. Stattdessen verdient Vonovia
immer mehr Geld im Ausland: Die Bochu-
mer dürfen das schwedische Wohnungsun-
ternehmen Hembla übernehmen, das etwa
21000 Wohnungen rund um Stockholm
vermietet. Das hat die schwedische Kon-
trollbehörde nun genehmigt.
Bereits im vergangenen Jahr hatte Vono-
via den Konkurrenten Victoria Park in
Schweden übernommen sowie Buwog aus
Österreich. Der Konzern setzt darauf, dass
er umso effektiver wirtschaften kann, je
mehr Wohnungen er in ein und derselben
Stadt verwaltet.
Und Vonovia gibt neuerdings Hunderte
Millionen dafür aus, neue Mietshäuser zu
bauen und bestehende aufzustocken. Bis
Jahresende sollen etwa 2150 Wohnungen
fertiggestellt oder im Bau sein, sagt Buch.
„Ich würde gerne noch mehr machen, es ist
auch mehr Geld zur Verfügung.“ Doch dau-
erten Genehmigungen oft länger als erwar-
tet; ohnehin sind Baufirmen und Handwer-
ker seit Jahren stark ausgelastet. „Wenn
ich nicht schon so viele Haare verloren hät-
te“, scherzt der ziemlich kahlköpfige Buch,
„mit dem Neubau würde ich noch mehr
Haare verlieren.“ benedikt müller

von cerstin gammelin und
alexander hagelüken

München/Berlin – Die Menschen in
Deutschland müssen sich auf magere Zei-
ten einstellen. Die Wirtschaftsweisen der
Bundesregierung rechnen damit, dass sich
die Konjunktur auch 2020 nicht erholt. Ka-
lenderbereinigt werde die deutsche Wirt-
schaft nur um 0,5 Prozent wachsen – ge-
nauso schwach wie dieses Jahr. Der lange
Aufschwung ist vorerst zu Ende, schreibt
der Sachverständigenrat in seinem Gutach-
ten, das er am Mittwoch Kanzlerin Angela
Merkel (CDU) übergibt und derSüddeut-
schen Zeitungvorab vorliegt.
Zwar gehen die Ökonomen nicht von
einer tiefen Rezession aus. Sie sehen aber
eine länderübergreifende Schwäche der
Industrie. Den traditionell starken Export
trifft die Eintrübung der Weltwirtschaft,
wozu vor allem der geplante Brexit und die
von US-Präsident Donald Trump provo-
zierten Handelskonflikte beitragen. Die
USA erheben auf Importe aus China in-
zwischen einen durchschnittlichen Zoll
von 21 Prozent, Anfang 2018 waren es erst
drei Prozent. Das wirkt sich auf deutsche
Produkte und Lieferketten aus.

Für dieses Jahr sagen die Wirtschaftswei-
sen nur ein halbes Prozent Wachstum vor-
aus, wie andere Prognostiker. Skeptischer
als andere zeigt sich der Sachverständigen-
rat für 2020. Deutsche Wirtschaftsins-
titute, der Weltwährungsfonds und die EU-
Kommission erwarten da 1,1 bis 1,4 Prozent
Wachstum – die Weisen gehen von 0,9 Pro-
zent aus. Rechnet man die ungewöhnlich
große Zahl an Arbeitstagen 2020 ein, bleibt
ein halbes Prozent – wie dieses Jahr. Nun
sei entscheidend, ob der Arbeitsmarkt und
die Binnennachfrage vom Negativtrend er-
fasst würden. Außerdem gebe es erhebli-
che Risiken: Insbesondere eine Eskalation
der Handelskonflikte träfe das exportorien-
tierte Deutschland empfindlich.
Völlig neu ist, dass die fünf Sachverstän-
digen kontrovers debattieren, wie die Poli-
tik handeln soll. Erstmals seit Ewigkeiten
streiten die Weisen offen im Gutachten,
welchen Kurs die Bundesregierung ein-
schlagen soll. Der eher linke Ökonom Peter
Bofinger war in seiner Amtszeit bis Febru-
ar 2019 stets allein gegen die marktliberale
Mehrheit. In 15 Jahren schrieb er 52 Min-
derheitsvoten – nie sprang ihm einer bei.
4:1. Dieses Jahr ist alles anders.
Wie soll die Bundesregierung auf den
Abschwung reagieren, bevor alles schlim-
mer wird? Die eher marktliberalen Vertre-
ter Lars Feld, Volker Wieland und Chris-
toph Schmidt sehen keinen Bedarf für ein
staatliches Konjunkturpaket. Die Regie-
rung sei schon sehr aktiv. Doch dazu gibt
es anders als früher massiven Wider-
spruch. Und zwar nicht nur von Achim
Truger, den ebenso wie Vorgänger Peter Bo-
finger die Gewerkschaften nominierten.
Sondern auch von Isabel Schnabel. Es
steht nicht mehr 4:1 – sondern 3:2.
Truger und Schnabel warnen, das Risi-
ko einer Rezession steige spürbar, auf
36 Prozent. Sie rufen die Regierung auf,
ein Konjunkturpaket zumindest vorzu-
bereiten. Mit einem Kinderbonus, der den
privaten Konsum belebt. Denkbar sei
auch, Firmen befristet zu erlauben, degres-
siv abzuschreiben. Außerdem solle die
Regierung langfristig mehr investieren.
Woher soll das Geld kommen? Auch da
sind die Weisen gespalten. Gemeinsam ist
noch, dass sie die Gefahr sehen, dass ein
Festhalten an der Schwarzen Null den

Abschwung verstärkt. Die Schuldenbrem-
se in der Verfassung wollen die markt-
liberalen Drei aber keinesfalls antasten.
„Hingegen sendet eine glaubwürdige Rück-
führung der Schuldenstandsquote ein
wichtiges Signal für die Finanzmärkte und
die anderen EU-Mitgliedstaaten.“
Schnabel und Truger wollen die Schul-
denbremse zwar nicht abschaffen, sie sei
aber problematisch. Halte man sie ein, sin-
ke der staatliche Schuldenstand langfris-
tig auf unnötig niedrige zwölf Prozent der
Wirtschaftsleistung. Außerdem ignoriere
die Schuldenbremse die goldene Regel,
dass staatliche Nettoinvestitionen durch
Nettoneuverschuldung finanziert werden

sollen. Kritiker warnen seit Langem, dass
Deutschland zu wenig investiert und die
Infrastruktur der Schulen, Verkehrswege
und Netze verfällt.
Und was ist mit der Bundesregierung,
die die Wirtschaftsweisen beraten? Sie ist
uneins, wie sie auf den Abschwung reagie-
ren soll. Bundesfinanzminister Olaf Scholz
(SPD) lehnt es ab, im Kampf gegen die
Konjunkturschwäche mehr zu investieren.
Scholz verweist darauf, dass die Regierung
in den kommenden zehn Jahren bereits
450 Milliarden Euro zugesagt hat. Die Bun-
desrepublik sei gut gerüstet, im Falle einer
Rezession mit einem Milliardenpaket ge-
genzusteuern. Dagegen fordert die Union

stimulierende Maßnahmen. Sie will etwa
die Unternehmenssteuern drastisch sen-
ken – wie das in den Vereinigten Staaten
und Frankreich geschah. Gesundheitsmi-
nister Jens Spahn und CSU-Chef Markus
Söder hatten sich zuletzt für eine Reform
der Unternehmenssteuern eingesetzt.
Scholz lehnt dies als „Steuerdumping-
Wettbewerb“ ab.
Während die Koalition um eine Einigung
ringt, werden bei den Wirtschaftsweisen
die Karten neu gemischt. Die nur noch knap-
pe marktliberale Mehrheit steht dafür, wie
viele deutsche Volkswirte denken. Internati-
onale, vor allem angelsächsische Ökono-
men kritisieren dagegen seit Langem die
deutsche Schuldenbremse und Sparpolitik.
Mit Schnabel und Truger haben sie nun im
wichtigsten wirtschaftlichen Beratergremi-
um der Republik eine Stimme.
Spannend ist die neue Streitkultur auch
deshalb, weil das Gremium neu zusam-
mengesetzt wird. In den nächsten Mona-
ten scheidet sowohl Isabel Schnabel aus,
die ins Direktorium der Europäischen
Zentralbank wechselt, als auch wahr-
scheinlich nach gut zehn Jahren Amtszeit
der Vorsitzende der Weisen, Christoph
Schmidt. Die jeweiligen politischen Lager
kämpfen bereits um Einfluss auf die Neu-
besetzung. Womöglich wird die deutsche
Öffentlichkeit nun öfter erleben, dass die
Wirtschaftsweisen gespalten sind. Gespal-
tener, als es der einsam argumentierende
Peter Bofinger je erleben durfte.

DEFGH Nr. 256, Mittwoch, 6. November 2019 HF3 15


Die Entwicklung bei Vonovia

Durchschnittliche Miete in Euro je qm
Wert des Immobilienbestands in Mrd.
Euro
31.03.2017 6,06 29,
30.06.2017 6,12 30,
30.09.2017 6,19 30,
31.12.2017 6,27 33,
31.03.2018 6,18 38,
30.06.2018 6,41 41,
30.09.2018 6,45 41,
31.12.2018 6,52 44,
31.03.2019 6,56 44,
30.06.2019 6,64 47,
30.09.2019 6,69 47,
SZ-Grafik; Quelle: Unternehmensangaben

von jürgen schmieder

A


pple will 2,5 Milliarden Dollar ge-
gen die Wohnungskrise in Kaliforni-
en investieren. Facebook und Goo-
gle haben bereits jeweils eine Milliarde
Dollar versprochen, Microsoft in Seattle
500 Millionen Dollar. Es ist löblich, dass
die Tech-Konzerne ihrer sozialen Verant-
wortung gerecht werden und ein Problem
lösen möchten, das sie selbst verursacht
und verschlimmert haben. Und doch: Sie
machen es sich viel zu einfach.
Es klingt zwar absurd, Unternehmen
an den Pranger zu stellen, die für einen im-
mensen Aufschwung an der amerikani-
schen Westküste verantwortlich sind und
nun Milliarden in die Infrastruktur inves-
tieren wollen. Die Metropolregionen Se-
attle, San Francisco, Los Angeles und San
Diego boomen wegen der Tech-Branche.
Es gibt zahlreiche hoch bezahlte Jobs mit
unfassbaren Annehmlichkeiten: Die Fir-
men zahlen Mitarbeitern etwa das Einfrie-
ren von Eizellen oder die Übernahme pri-
vater Aufgaben wie Handwerkerbesuche.
Ob dies wirklich Annehmlichkeiten sind
oder ob sie nicht eher bewirken, dass Mit-
arbeiter noch mehr Zeit im Büro verbrin-
gen, ist freilich strittig.


Kein Ökonom dürfte abstreiten, dass
Arbeitsplätze die Entwicklung einer Stadt
befördern. Allerdings zeigen sich dabei
auch die Kehrseiten: Im Silicon Valley sind
in den vergangenen acht Jahren einer Stu-
die des McKinsey Global Institute zufolge
676000 Jobs geschaffen worden, indes
nur 176000 Wohneinheiten. Das Gleichge-
wicht aus Angebot und Nachfrage be-
stimmt den Preis, also sind Mieten stark
gestiegen, der Kaufpreis hat sich verdop-
pelt. Man könnte nun fragen: Was können
die Tech-Giganten dafür? Antwort: sehr
viel.
Die Unternehmen bauen kräftig, be-
kommen dafür allerdings Steuervergüns-
tigungen von Gemeinden oder Bundes-
staaten und gründen Tochterfirmen im
Ausland, um Steuern zu sparen. Das Vorge-
hen von Apple, Amazon, Facebook und
Google ist nicht ein kleiner Aufreger: Es
beschäftigt sogar die G 20. Sie produzie-
ren Produkte oder ordern Dienstleistun-
gen in Ländern, die bekannt für niedrige
Löhne und schreckliche Arbeitsbedingun-
gen sind. Das führt dazu, dass in die ameri-


kanischen Boom-Städte nur Hochbegab-
te gelockt werden. Selbst wer ein sechsstel-
liges Jahresgehalt verdient, kann sich dort
keine Wohnung mehr leisten.
Diese Konzerne, die sich gerne vor ih-
ren Pflichten drücken, gerieren sich nun
als großzügige und vor allem freiwillige
Helfer, obwohl sie letztlich nur dort hel-
fen, wo es ihnen direkt zugutekommt: in
den Gegenden, in denen bestenfalls ihre
Angestellten wohnen sollen. Apple hat im
Januar vergangenen Jahres angekündigt,
38 Milliarden Dollar an Steuern nachzu-
zahlen und Auslandsgewinne in Höhe von
252 Milliarden Dollar in die USA zurückzu-
holen. Das klang wie eine Besinnung, ei-
gentlich nutzte der Konzern die günstige
Situation einer Steuerreform.
Die Technik-Konzerne sind gewiss
nicht alleine schuld an der Wohnungskri-
se. Politiker haben sich von der Aussicht
auf Wachstum blenden lassen, sie haben
bei Verhandlungen oft nicht im Interesse
derer gehandelt, die sie vertreten sollen.
Die Theorie, dass geringe Besteuerung
großer Konzerne am Ende den Mitarbei-
tern zugutekommt, führt in der globali-
sierten Praxis nun dazu, dass Hochbegab-
te auf dem Weg ins schicke Büro über Ob-
dachlose steigen – die gar nicht mal selten
ihre geringer verdienenden Kollegen sind.
Die Unternehmen wollen also mit viel
Geld ein Loch stopfen, das sie selbst geris-
sen haben. Es ist jedoch so gewaltig, dass
selbst das viele Geld nicht reicht. Ökono-
men haben errechnet, dass pro Wohnein-
heit im Silicon Valley durchschnittlich
50000 Dollar investiert werden müssen.
Das bedeutet: Es bräuchte insgesamt
250 Milliarden Dollar, um allein dem
Wachstum der vergangenen acht Jahre ge-
recht zu werden. Der Studie zufolge
braucht es in Kalifornien in den kommen-
den sieben Jahren jedoch insgesamt
3,5 Millionen Wohneinheiten. Die 2,5 Milli-
arden von Apple und die eine Milliarde von
Facebook und Google sind deshalb die be-
rühmten Tropfen auf dem heißen Stein.
Es braucht eine revolutionäre Idee: Ge-
hört es nicht zum Selbstverständnis des Si-
licon Valley, dass dort all jene leben, die
verrückt genug sind zu glauben, dass sie
die Welt verändern könnten? Weil es am
Ende sie sind, denen es gelingt? Oder ist es
doch eher das Tal jener, die der Welt flie-
gende Autos versprechen und doch nur
Apps schenken?
An ihrem eigenen heiligen Ort können
die jetzt Visionäre zeigen, wie ernst es ih-
nen ist, die Welt ein bisschen lebenswer-
ter zu machen. Für alle, nicht nur für eini-
ge wenige.

Maue Wirtschaft, großer Streit


Die Sachverständigen gelten als wichtige Berater der Bundesregierung. Die Ökonomen rechnen für 2020
mit wenig Wachstum. Über die politische Antwort darauf gibt es zum ersten Mal seit Jahrzehnten offenen Dissens

Doug Bouton könnte genauso gut in einer
Anwaltskanzlei sitzen. Stattdessen reist er
Eis essend durch die Welt. Nicht nur aus
Spaß. Natürlich nicht, sagt er. Es geht ums
Geschäft. Er muss „neue Geschmacksrich-
tungen testen“. Der 34-jährige US-Ameri-
kaner ist Chef des Eisherstellers Halo Top,
dessen Kreationen seit knapp einem Jahr
auch in deutschen Gefrierfächern stehen.
Das Unternehmen stellt kalorienarmes Eis
her, das dennoch süß sein soll. Ganz dün-
nes Eis also.
Vor sieben Jahren mixte Justin Woolver-
ton, auch Jurist, sein erstes kalorienredu-
ziertes Eis, mit einer 20-Dollar-Maschine.
Es schmeckte – und Woolverton witterte ei-
ne Geschäftsidee. Beim Basketball traf er
auf Doug Bouton, der damals schon keine
Lust mehr hatte, in einer Kanzlei fremd-
bestimmt zu arbeiten, wie er sagt. „Es war
fast Schicksal, dass er zur gleichen Zeit
einen Geschäftspartner suchte, als ich mei-
nen Job kündigte“, sagt Bouton heute.
Sie feilten an der Rezeptur, süßten mit
Stevia statt Zucker und brachten ein Eis
auf den Markt, das nur rund 300 Kalorien
auf einem knappen halben Liter enthält.
Das ist ungefähr ein Viertel von dem, was
in den klassischen Eissorten von Ben & Jer-
ry’s oder Häagen-Dazs steckt. Proteine
statt Zucker, stark statt dick werden,
solche Botschaften passen in die Zeit – und
machten Halo Top vor zwei Jahren zur
erfolgreichsten Eiscreme in den USA, noch
vor den beiden namhaften Konkurrenten.
Jetzt will Bouton den Erfolg wiederho-
len, diesmal in Europa. Im September
verkauften er und Woolverton das US-Ge-
schäft von Halo Top an den Eishersteller
Wells Enterprises. Während der Gründer
eine Pause einlegt, verantwortet Bouton
als Chef einer neu gegründeten Gesell-
schaft die Expansion ins Ausland. In
Deutschland verkauft bislang nur Edeka
das kalorienarme Eis. Es lagert, wie man es
von den anderen US-Eisherstellern kennt,


in einer runden und hohen Pint-Verpa-
ckung, ist mit seinem golden schimmern-
den Deckel hübsch anzusehen, kostet
allerdings auch happige sechs Euro für
weniger als einen halben Liter. Die leicht
wässrige Konsistenz erinnert eher an ein
Sorbet, doch der Geschmack ist durchaus
süß.
Um Kunden von den vermeintlichen Vor-
zügen der Light-Eiscreme zu überzeugen,
setzt Halo Top nicht auf Fernsehwerbung,
sondern auf soziale Netzwerke. Das Unter-
nehmen sei eine „Millenial-Firma“, sagt
Bouton. Weil die Menschen zwischen 20
und Mitte 30 viel auf Instagram rumhän-
gen, arbeitet Halo Top gezielt mit soge-
nannten Mikro-Influencern zusammen.
„Sie haben vielleicht nur ein paar Tausend
Follower, aber uns ist viel wichtiger, sie
stehen für einen gesunden Lifestyle. Wir
treten mit ihnen in Kontakt und schicken
ihnen Eis oder einen Gutschein zu – in der
Hoffnung, dass sie unser Eis probieren
und darüber schreiben, wenn es ihnen
geschmeckt hat.“
Im besten Fall veröffentlichen auch Kun-
den ein Foto, die kein Gratis-Eis erhalten
haben. Der ganz normale Konsument als
Markenbotschafter. „Wir nennen sie nicht
Kunden, wir nennen sie Fans“, sagt Bou-
ton. Das klingt fast größenwahnsinnig,
scheint in den USA aber zu funktionieren.
Deutsche „Fans“, die sich mit dem Eis ab-
lichten, findet man unter dem Hashtag
#halotop bislang kaum.
Um das zu ändern, will Bouton bald Soci-
al-Media-Experten in Deutschland einstel-
len, auch eigene Geschmacksrichtungen
seien denkbar. Die neuen Sorten wird er
wieder testen müssen. Kein Problem, fin-
det Bouton. „Ich liebe Eis schon immer“,
sagt er. Und sagt, dass es manchmal auch
ein paar mehr Kalorien sein dürfen.
Schließlich sei er mit „Chunkey Monkey“
aufgewachsen – eine Sorte vom Konkur-
renten Ben & Jerry’s. felicitas wilke

Der Bau Tausender Wohnungen
schreitetnicht so schnell voran
wie vom Dax-Konzern erhofft

WIRTSCHAFT


Die Weltwirtschaft trübt sich ein. Das trifft auch die deutschen Exporte. Im Bild der Hamburger Hafen. FOTO: K. SPREMBERG/IMAGO

NAHAUFNAHME


„Wirarbeiten viel
mit Mikro-Influencern.
Sie haben vielleicht
nur ein paar Tausend Follower,
aber stehen für
einen gesunden Lifestyle.“
Doug Bouton
FOTO: TIFFANIE BYRON

Vonovia erhöht die Mieten


Deutschlands größter Vermieter kritisiert den Mietendeckel in Berlin – und verlangt vielerorts mehr fürs Wohnen


WOHNFÖRDERUNG DER TECH-KONZERNE

Von wegen Hilfe


Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Deutschland
in Prozent zum Vorjahr

0,

-0,

5,

2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020

Prognose

SZ-Grafik; Quelle: 2008 bis 2018: Statistisches Bundesamt, Prognose: Sachverständigenrat

Ganz dünnes Eis


Doug Boutonwill die Deutschen von Diät-Eiscreme überzeugen


2,5 Milliarden Doller reichen


nicht aus, um genug zu bauen.


Apple kauft sich billig frei


Berücksichtigt man die vielen
Arbeitstage 2020, bleibt es
bei der Wirtschaftsflaute
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