von bernd kramer
Hamburg–Bis vor kurzem sah der Arbeits-
alltag von Kai Jansen so aus: Er startete die
App auf seinem Handy, die ihm zeigte, wo
im Umkreis die nächste Tankstelle war, für
die zum Beispiel ein Zigarettenhersteller
wissen wollte, ob die Waren dort wie verein-
bart präsentiert werden. Jansen fuhr hin,
machte mit dem Handy Fotos vom Werbe-
aufsteller, lud sie in der App hoch und such-
te den nächsten Auftrag. So hangelte er
sich von Mikro-Job zu Mikro-Job, von sei-
ner Heimatstadt Wesel am Niederrhein
durchs Ruhrgebiet, manchmal runter bis
nach Köln, 120 Kilometer, 20 Aufträge.
„Meine Tochter studiert in Köln, deswegen
bietet sich die Strecke an“, sagt der 52-Jäh-
rige. Jansen heißt eigentlich anders, aus
Sorge um berufliche Nachteile möchte er
nicht mit echtem Namen genannt werden.
Zwei Jahre war die App Roamler Jan-
sens Arbeitgeber. Einen Chef dahinter hat
er kaum kennen gelernt. „Es geht alles digi-
tal, persönlicher Kontakt ist nicht vorgese-
hen“, sagt er. Und auch einen Arbeitsver-
trag hat er zwei Jahre lang nicht gesehen.
Dagegen klagt er nun.
An diesem Mittwoch verhandelt das Lan-
desarbeitsgericht in München, wo Roam-
ler seinen Deutschlandsitz hat. Es ist einer
der ersten Fälle, in denen ein sogenannter
Crowdworker eine Festanstellung erstrei-
ten will. Entsprechend hoch ist die Symbol-
kraft: Welche Regeln sollen in der neuen,
digitalen Arbeitswelt gelten?
Eine Studie im Auftrag des Bundesar-
beitsministeriums ermittelte 2018, dass be-
reits rund fünf Prozent der Erwachsenen
in Deutschland über Apps oder Internet-
plattformen arbeiten – was in der Praxis
ganz Unterschiedliches bedeutet: Die Platt-
formbeschäftigten kontrollieren wie Jan-
sen Werbeaufsteller, schreiben am heimi-
schen PC Produkttexte für Internetshops,
bewerben sich auf Online-Marktplätzen
um Programmieraufträge oder fahren auf
ihrem eigenen Motorroller Essen für Liefer-
apps aus. Einer Untersuchung der Bertels-
mann-Stiftung zufolge verdient die Hälfte
der Beschäftigten mit dieser Arbeit nur bis
zu 400 Euro im Monat. Vor allem Kleinst-
jobs wie sie über Roamler vermittelt wer-
den, sind für die meisten eher ein Neben-
verdienst – eine Mischung aus Schnitzel-
jagd per Handy und digitalem Pfandfla-
schensammeln. Nur eine Minderheit be-
streitet mit der App den Lebensunterhalt.
So wie Kai Jansen. Er baut zwar neben-
bei noch Verkaufsregale für Zigarettenher-
steller auf und bestückt sie. Der größere
Teil seines Einkommens sei aber von Ro-
amler gekommen, sagt er, im Schnitt gut
1700 Euro im Monat. „Manchmal habe ich
den ganzen Samstag Roamler gemacht,
weil ich für die anderen Auftraggeber am
Wochenende nicht arbeiten konnte.“
Anfang 2018 bekam Jansen sogar eine
Auszeichnung für seinen Eifer: 2978 Auf-
träge habe er im Vorjahr abgearbeitet und
19242,72Euro verdient, so erfolgreich sei
kein anderer Crowdworker der App gewe-
sen, heißt es auf der Urkunde, die Roamler
ihm verliehen hat: „Für diese großartige
Leistung möchten wir dir gratulieren.“ We-
nige Monate später schien Roamler von
dem Lob nicht mehr viel wissen zu wollen.
Jansen war zu Besuch bei seinen Schwie-
gereltern und wollte, wo er schon in der Ge-
gend war, auch dort einen Auftrag abarbei-
ten. In einem Kiosk sollte er einen Pappauf-
steller einer Zigarettenfirma kontrollieren.
Doch Roamler habe das Foto nicht akzep-
tiert, weil aus einem Eimer ein paar Ge-
schenkpapierrollen ins Bild ragten, die der
Kiosk ebenfalls im Sortiment hatte. „Eine
Spitzfindigkeit.“ Im April 2018 schließlich
sperrte Roamler den Account seines Vorzei-
gemitarbeiters – willkürlich, wie Jansen
meint. Wohlbegründet und nach diversen
Unstimmigkeiten, entgegnet Roamler ge-
genüber der SZ. Für Jansen jedenfalls war
die Deaktivierung drastisch: „Ich habe fest
mit dem Geld gerechnet. Davon zahle ich
meine Miete.“
Jansen wandte sich an die IG Metall. Die
Gewerkschaft bemüht sich seit einigen Jah-
ren intensiv um Crowdworker, im Novem-
ber 2017 richtete sie eine Ombudsstelle
ein, die bei Problemen zwischen Plattfor-
men und Selbstständigen Auftragneh-
mern vermitteln soll. Im ersten Jahr hatte
die Stelle 30Beschwerden bearbeitet, in
der Hälfte der Fälle konnten sie zwischen
Plattform und Crowdworker schlichten. In
Jansens Fall war das nicht möglich – weil
Roamler bislang nicht am freiwilligen Om-
budsverfahren teilnimmt. So landete der
Fall, eher zufällig, vor dem Arbeitsgericht.
Jansen ist der erste Mikrojobber, den
die Gewerkschaft nun bei der Klage unter-
stützt. Und die IG Metall hängt das Verfah-
ren hoch. „Es ist nicht so, dass mit einem
Urteil alle Plattformen ihre Crowdworker
sofort anstellen müssten“, sagt Robert
Fuß, der bei der Gewerkschaft für die
Crowdworker zuständig ist. In der Ent-
scheidung komme es immer stark auf den
Einzelfall an: Wie stark sind die Beschäftig-
ten vom Plattformunternehmen wirt-
schaftlich abhängig? Wie sehr sind sie in ih-
rer Arbeit weisungsgebunden? „Wenn er
das Verfahren aber gewinnt, wäre er der
erste Crowdworker, der erfolgreich einen
Arbeitnehmerstatus erstritten hätte“, sagt
Fuß. „Das hätte Signalwirkung für die gan-
ze Branche.“
In der Vorinstanz unterlag Jansen – un-
ter anderem, weil es für die Nutzer keinen
Zwang gebe, die Aufträge anzunehmen. Ro-
amler-Geschäftsführer Florian Weigel
geht daher gelassen in die Berufungsver-
handlung: „Selbst wenn jemand einmal ei-
nen Auftrag angenommen hat, kann er die-
sen jederzeit abbrechen, so dass selbst hier
keinerlei Verpflichtung besteht“, sagt er.
Für Gewerkschafter Fuß ist das aber
nur eine hypothetische Möglichkeit: „Nut-
zer, die Aufträge ablehnen, können in
Crowdworking-Apps durchaus an Reputa-
tion verlieren. Dadurch verschlechtert sich
ihr Zugang zu weiteren Aufträgen“, sagt
Fuß. „Wer wie der Kläger wirtschaftlich
von der Plattform abhängig ist, steht also
ständig unter Druck, Aufträge anzuneh-
men und auszuführen.“ Sollten die Münch-
ner Richter der Argumentation nicht fol-
gen, will die Gewerkschaft weiter bis vor
das Bundesarbeitsgericht ziehen.
Bonn –Es reicht ein Schaubild auf den
Leinwänden im Bonner Landgericht aus,
um alle im Saal zu verwirren. Gesellschaf-
ten mit exotischen Namen sind dort über
Ecken mit Pfeilen verbunden – und oben
steht das Internationale Komitee vom Ro-
ten Kreuz (IKRK). Das ist bemerkenswert.
Zum einen zeigt dieses Diagramm eine
Struktur, mit der Cum-Ex-Akteure ihr
Geld nahezu steuerfrei bekommen haben
sollen. Zum anderen wusste das IKRK laut
einer Zeugenaussage nichts und wurde of-
fenbar nur benutzt, um Steuern zu sparen.
So beschreibt es Kronzeuge S. vor Ge-
richt in Bonn in aller Ausführlichkeit. Dort
sind zwei Ex-Aktienhändler wegen schwe-
rer Steuerhinterziehung in 33 Fällen ange-
klagt, bei einem weiteren soll es beim Ver-
such geblieben sein. Vereinfacht gesagt lie-
ßen sich die Akteure eine nur einmal ge-
zahlte Steuer zweimal erstatten und teil-
ten die Beute dann auf. Das hat den Staat ei-
ne zweistellige Milliardensumme gekos-
tet. Das Landgericht in Bonn soll klären, ob
Deals dieser Art strafbar waren oder nicht.
Deshalb ist S. geladen und soll nun erläu-
tern, was das IKRK mit den Deals zu tun ha-
be. Seine Antwort ist klar: gar nichts.
Das Internationale Rote Kreuz habe
man nur gebraucht, weil S. und sein dama-
liger Kanzleikollege Hanno Berger eine ge-
meinnützige Stiftung als Begünstigten für
ein Firmengeflecht hätten einsetzen wol-
len. In der Folge seien kaum bis gar keine
Steuern fällig gewesen auf ihre hohen Ge-
winne der Cum-Ex-Geschäfte. Dass ausge-
rechnet das Internationale Rote Kreuz als
Erfüllungsgehilfen auserkoren sei, habe je-
mand anderes entschieden, erzählt S.
Ob es möglich sei, das Rote Kreuz einzu-
binden, ohne dass es davon wisse, fragt ein
Anwalt. S. bestätigt das. Das IKRK soll nur
einen sehr geringen Anteil der Profite er-
halten haben, ohne die Hintergründe zu
kennen. Den meisten Profit aus den Ge-
schäften sollen Berger und S. miteinander
geteilt haben; über steuersparende Umwe-
ge. Das Geld soll unter anderem über Off-
shore-Gesellschaften gelaufen sein.
Kronzeuge S., der sich selbst schwer be-
lastet, soll Gewinne in Höhe von 50 Millio-
nen Euro eingestrichen haben. Versteuert
worden sei der Profit, wie S. bei Gericht aus-
sagt, zu Teilen in Luxemburg, wohl zu ei-
nem Steuersatz von rund zehn Prozent.
Berger bestreitet, illegal agiert zu haben.
Es habe alles seine Ordnung gehabt. Das
IKRK reagierte am Dienstag nicht auf eine
Anfrage. nils wischmeyer
Arbeit per App
Ein Crowdworker kontrolliert Werbeaufsteller an Tankstellen und Kiosken – zu den Aufträgen
lotst ihn sein Handy. Nun klagt er: Hätte das Unternehmen ihn anstellen müssen?
Wer Aufträge ablehnt, verliert an
Reputation und riskiert, seltener
per App angefragt zu werden
DEFGH Nr. 256, Mittwoch, 6. November 2019 (^) WIRTSCHAFT HF3 17
Designs auf Taschenmessern wie diesen stammen von Künstlern, die über eine Crowdworking-Plattform engagiert wurden. FOTO: SOPHIA KEMBOWSKI/DPA
Unwissende
Helfer
Wie die Cum-Ex-Akteure das
Internationale Rote Kreuz nutzten
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