Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

24 FEUILLETON Freitag, 8. November 2019


INTERNATIONALE AUSGABE


«Abgründe waren mir nicht wirklich fremd»


Ein gutesJahr vorseinemTod gab der Schriftsteller und Kritiker Peter Hammeines seiner letzten Interviews.


ImGesprächmit Matthias Bormuth erzählte er freimütig vonseiner hartenKindheit und der literarischenErweckung


Herr Hamm, Sie haben in jungenJahren
als Lyriker begonnen undwaren über
Jahrzehnte beimBayerischen Rundfunk
in München tätig. Bekannt wurden Sie
mit Essays und Filmen zur deutschen
und europäischen Literatur, die selbst
Kunstwerke sind. Das war in Ihren An-
fängen kaum absehbar.

Geboren bin ich in München imJahr



  1. Es war die schlimmste Zeit
    Deutschlands.Als ich dreiJahre alt war,
    starb meine Mutter. Sie hatte sich mit
    Diphtherie bei mir angesteckt. So ist
    meine früheste Erfahrung eineradi-
    kal negative. Meine Grossmutter holte
    mich nachWeingarten in Oberschwa-
    ben, nicht weit entfernt vom Bodensee.
    Danach kam ich in katholische Heime,
    zuerst in der Nähe, später bei Nonnen
    am Fusse des Schwarzwalds. Erst das
    Ende des Krieges brachte auch mir
    die grosse Befreiung.Mein Grossvater
    holte mich im Dezember1944 zurück.
    Diese Zeit im grosselterlichen Haus, die
    bis Herbst1946 reichte, war für mich
    eine Zeit derFreiheit.


Wie kann man sich das vorstellen?
Der Einmarsch derFranzosen am 8. Mai
war nach den beängstigenden Luft-
angriffen ein unglaubliches, auchkomi-
sches Erlebnis. Ein Panzer fuhr direkt
an unseremForsthaus vorbei, und hin-
ter ihm kamen nurAlgerier und Marok-
kaner auf Mauleseln.


Wie ging es für Sieweiter?
Unglückseligerweise musste ich 1946
das Forsthaus wieder verlassen. Dies-
mal kam ich in eine katholische Kloster-
schule. Die Priester waren oft das siebte
oder achte Kind einerBauernfamilie.
Sie wurden ins Seminar geschickt, um
wenigstens versorgt zu sein. Sie waren
selbst Opfer.Viele von ihnen verdien-
ten den Namen Lehrer nicht.


Fühlten Sie sich damals als Opfer?
Die Zeit in der Klosterschule kann man
sich nicht schrecklich genug vorstellen.
Ich hatteFrostbeulen an Händen und
Füssen.Wenn jemand Bettnässer war,
riss man ihm morgens das Bett heraus.
Er musste imRefektorium an derWand
stehen, während die anderen assen. Es
war beklemmend, zumal vor Ort kaum
etwas Anregendes geboten wurde. Ich
kam auch nicht mit wirklicher Literatur
in Berührung. Das Einzige, was mich
teilweise erhob, war die Musik. Sie trug
zu meiner Menschwerdung bei. Eine


Reger-Messe oder das «Ave verum»
von Mozart eröffneten eineWelt, von
der man nichts geahnt hatte.


EineWelt der Schönheit?
EineWelt der Schönheit und auch eine
Welt des Schmerzes. Die Schönheit ist
fast immer mitSchmerz verbunden. So
empfand ich die Musik.Sie war der erste
ganz grosse Lichtblick meines Lebens.


Wie befreiten Sie sich aus derDunkel-
heit der Klosterschule?

Ich wusste, dass Schüler, die im Ort
gesehen wurden, das Internat verlas-
sen mussten. Also beschritt ich diesen
Weg und kam tatsächlich wieder zu den
Grosseltern. Inzwischen war meinVater
aus der Gefangenschaft zurückgekehrt.
Er baute in der Nähe vonWeingarten
eine Tierarztpraxis auf und lebte allein.
Deshalbkonnte er seine beiden Söhne
nicht brauchen. Es ist ein ganz eigenes
Kapitel, dass ich nie einenTag bei mei-
nem Vater gelebt habe.


Er war für mich eine völlig fremdeFigur,
die nur auftrat,wenn die Grosseltern ihn
riefen, um mich zu strafen.Als begeister-
terReiterwussteerseineReitpeitschezu
handhaben, nicht nur beiTieren .Auch
bei den Grosseltern war ich ein unnüt-
zer Esser. Den Ausdruck hörte ich täg-
lich. Es war nur Platz für meinen Bru-
der. So liess meinVater seine Beziehun-
gen zu einem landwirtschaftlichen Gut
spielen,auf das ich dann als Knecht kam.

Wie war dies auszuhalten?
Zu dieser Zeit hatte ich schon angefan-
genzulesen.JedeWocheholteichmiraus
der katholischen Pfarrbücherei inWein-
garten sechs Bücher; und ebenso erhielt
ich inRavensburg, der Nachbarstadt,
wöchentlich sechs Bücher. Die Litera-
tur wurde zu einemRettungsanker. Der
richtige Leser eines Buches schreibt das
Buch auch mit. So empfand ich damals,
und so begann mein Schreiben.

Gab esAutoren und Bücher aus die-
ser ersten Lebensphase, an die Sie sich
erinnern?
Ich las alles, Kraut undRüben. Ich war
wie ein Schwamm, der alles aufsog. Das
Schlechteste und das Beste.

Haben Sie einBeispiel?
Ich denke an ErnstWiechert, der vom
einfachen Leben erzählte. Als Knecht
versuchte ich auf dem grossen Gutden
anderen Knechten das nahezubringen.
Sie lachten sich kaputt über diesenVier-
zehnjährigen. Sie waren vom Leben ge-
beutelt, hatten oft Krieg und Gefangen-
schaft hinter sich. Endlich sahen mein
Vater und meine Grosseltern ein, dass
etwas geschehen musste. MeinVater
vermittelte mich zu einem Metzger,
der inRavensburg auf Haut- undFell-
verwertung spezialisiert war. Der Orts-
teil hiess die Höll. Dort nutzte ich jede

freie Minute zum Lesen.Förderlich für
die Literatur war auch die Begegnung
mit einem Mädchen, das mit seiner Mut-
ter in der Nähe der Grosseltern in den
Ferien war. Die Liebe war eine unglaub-
liche Erschütterung. Ich lebte sozusagen
nur von den Briefen, die ausWuppertal
kamen und die ich dorthin sandte. Das
eigene Schreiben brach aus wieeine
Explosion.

So waren Liebesbriefe die erste eigene
Literatur?
IchhattezuvorschonGedichtegeschrie-
ben, natürlich völlig epigonale. Denn
Literaturkommt aus Literatur. Es gibt
keinenSchriftsteller,derdemNichtsent-
stammt.Jeder kommt aus dem Schrei-
benanderer.Abernichtjederfindetzum
eigenen Schreiben. Manche bleiben ein
Leben langEpigonen.Aber die Grossen
finden zu ihrem eigenenTon.

Kann man sagen, Musik und Literatur
bildeten den ersehnten Notausgang aus
den bedrängendenVerhältnissen?
Ich erfuhr im Schreiben Leidenschaft
pur. Ich wusste gar nicht, was da aus
mir herauskam. Man fragt sich:Woher
kommen dieseWorte und Sprachfigu-
ren? Was geschieht mit mir, wenn ich
schreibe? Man fühlt sich als etwas Be-
sonderes.Als meine Grosseltern frag-
ten, ob es nicht irgendetwas gebe, was
ich gerne machen wolle, konnte ich zu-
mindest sagen, dass eine Buchhändler-
lehre mir entspreche.

Hofften Sie, in einer Buchhandlung
Ihrer Leidenschaft leben zu können?
Schon mit der ersten Bewerbung zeigte
sich bei mir ein hypertropher Zug. Ich
schrieb an eine Buchhandlung in Ess-
lingen: «Ich kenne die ganzeWeltlitera-
tur.» Solch ein fünfzehnjährigerWahn-
sinniger wurde natürlich nicht ange-

stellt. Später wurde ich vorsichtiger. Ich
kam zu einer Buchhandlung in Lindau,
die im19.Jahrhundert berühmt gewe-
sen war.Allerdings blieb ich nicht sehr
lange. Damals begann ich, meineLyrik
an Dichter zu senden, die ich irgendwie
grossartig fand.Auf meine Briefe erhielt
ic hviele Antworten. Sie waren offenbar
froh, Gehör zu finden, zumal bei einem
blutjungen Menschen, der selbst schrieb.

Suchten Sie nach einemResonanzraum
für Ihr eigenes Schaffen?
Im Jahr erschienen damals vielleicht
zehn neueLyrikbände. Bei denjenigen,
die mir gefielen, suchte ich denKontakt
zu den Dichtern. IngeborgBachmann,
Günter Eich und Karl Krolow gehörten
zu den Angeschriebenen.Viele lud ich
nachRavensburg ein, wo ich mit einem
älteren Schriftsteller, der mein erster
wirklich grosserFreund geworden war,
einen Kreis begründet hatte. Bis auf
Paul Celan kamen alle namhaften Dich-
ter an den Bodensee, wo sie mehr Publi-
kum als in München oder Berlin fanden.

So machten Sie sich in der Provinz
bemerkbar?
Ich lebte sozusagen von derFerne.Aber
zie mlich bald wollte ich die Leute, die
ich anschrieb, auch sehen. Gerade jene
im Osten.Johannes Bobrowski gehörte
zu ihnen, GünterKunert, Volker Braun
und Sarah Kirsch.Sie alle sind heuteTeil
des deutschen Kanons.Vor allemPeter
Huchel wurde zumväterlichenFreund.
Ich sah in ihm, der so vielTrauer aus-
strahlte, das Dichterideal verkörpert.
Die DDR stellte ihn bald kalt.Peter
Huchel lebte – abgeschnitten und ein-
sam – inWilhelmshorst beiPotsdam.

Aber Ihr Blick ging über den deutschen
Sprachraum hinaus?
Ich schriebauchan Nelly Sachs in Stock-
holm. Ihre Gedichte, die unter demTi-
tel «In denWohnungen desTodes» er-
schienen waren,haben mich unglaublich
erschüttert. So machte ich dieAdresse
von Nelly Sachs ausfindig und sandte
ihr Mitte der fünfzigerJahre einen Brief.
Für mich öffnete sich mit dem Brief-
wechsel eine ganz neueWelt, die jüdi-
sche Welt. Nelly Sachs lud mich ein, sie
in Stockholm zu besuchen. So fuhr ich
an den Bergsunds Strand 23, wo sie in
einem Haus der jüdischen Gemeinde
bescheiden lebte, gemeinsam mit ande-
ren Frauen, die ebenfalls gerettet wor-
den waren. Ich stürzte mich auf alles,

was ich über diejüdische Literatur fin-
den konnte, bis hinein insTheologische.
Für Nelly Sachs war das Gespräch mit
mir,der ersten Stimme,die sie aus ihrer
alten Heimat hörte, auch wichtig.Aber
ich lernte in Stockholmauch den damals
blutjungenTomasTranströmer,den spä-
ter en Nobelpreisträger, kennen, der ge-
rade seinen ersten Gedichtband ver-
öffentlicht hatte. Er hiess anspruchsvoll
«17 Gedichte» («17 Dikta»).Mein erster
Gedichtband hiess noch anspruchsvol-
ler «Sieben Gedichte».Wir verstanden
uns sofort fabelhaft und sprachen vor
allem über Musik.Von allen Schriftstel-
lern, die ichkennengelernte hatte, war
Tranströmer derjenige, der am meisten
von Musik verstand und selber wunder-
bar Klavier spielte. Selbst als er in spä-
ten Jahren gelähmt war und nicht mehr
sprechenkonnte, spielte er noch mit der
linken Hand.

Wie gelang es Ihnen, das Publikum für
fremdsprachige Dichter zu begeistern?

Das Wort Begeisterungist zentral. Sie
trug mich auch,als ich in denfrühen
sechziger Jahren auf den Spuren von
Franz Kafka nach Prag fuhr. Dort traf
ich Eduard Goldstücker, den Rektor
der Karls-Universität, der auch Kafka-
Forscher war. Da ich einen Essay schrei-
ben wollte, zeigte er mir dieWohnungen,
in denen Kafka gelebt hatte. Man konnte
in den sozialistischenLändern erstmals
merken, dass der dort verpönte Kafka
eigentlich einRealist war.

Wie kommen Sie darauf?
Vielleichtkannichesambestenmiteiner
Anekdote illustrieren. Eduard Gold-
stücker war im Slánský-Prozess, dem
grossen stalinistischen Schauprozess
gegen jüdische Intellektuelle, zum Tode
verurteilt worden. Später begnadigte
man ihn zu lebenslanger Zwangsarbeit
im Bergwerk. Unter Chruschtschow
durfte Goldstücker wieder an die Uni-
versität zurückkehren. EinesTages ging
er über denWenzelsplatz und begegnete
demJuristen, der ihn zumTode verur-
teilt hatte. Goldstücker blieb stehen und
fragte nur:«Warum?» Der Richter ant-
wortete: «Ich weiss auch nicht, warum.»
Wenn das nicht eine Szene nach Kafka
ist: die vollkommene Absurdität, die zu-
gleich vollkommenrealistisch ist.

Zur Neugierde tritt bei Ihnen dieBe-
wunderung hinzu.Das teilen Sie mit
dem Schweizer Kritiker Max Rychner,
dessen schönen Satz Sie einmal aner-
kennend zitiert haben: «Ich bewundere
die Autoren, über die ich schreibe.»
Ich habe MaxRychner selbst auch
hemmungslos bewundert.Lange Jahre
verantwortete er das phantastische
Feuilleton der ZürcherTageszeitung
«DieTat». Dass er mich als jungen
Mann einfach schreiben liess, war gross-
artig. Rychner wusste, dass ich weder
Abitur noch mittlereReife hatte, schu-
lisch im Grunde gar nichts vorweisen
konnte .Aber das hinderte ihn nicht,
mir denAuftrag zu geben, über Samuel
Beckett zu schreiben,von dem er selbst
nicht viel verstand.Das warein un-
glaublicherVertrauensbeweis und Rit-
terschlag.Später gab ich etwas davon
zurück, indem ich die grosse Arbeit
über MaxRychner und dieKunst des
Essays verfasste.

Wie wichtigwar die Schweiz für Sie?
Die Schweiz brachte mir Glück. Später
kam noch die NZZ hinzu,derenFeuille-
ton damalsWernerWeber leitete. In
Zürich traf man alle.Auch Manuel Gas-
ser und Hugo Loetscher waren mir för-
derlicheRedaktoren. Dort gab es auch
das Antiquariat Pinkus, benannt nach
seinem Leiter, einem altenKommunis-
ten. Mankonntesich tagelang bei ihm
aufhalten, auf Hühnerleitern dieRegal-
wändehinaufsteigen. Man fand alles,
was man suchte.

Die Bücherfunde begleiteten Sie also ein
Leben lang?
Ja, aber besonders waren die nächt-
lichen Leseerlebnisse der jungenJahre.
Wenn meine Grossmutter schlafen ging,
wurde ich wach. Ich sass dann im bes-
seren Zimmer, das man überhaupt nur
für besondere Anlässe wieWeihnach-
ten öffnete. Dortlas und schrieb ich am
Tisch. Die erste grosse Überwältigung
war Dostojewskiund sein «Idiot».Das
war für mich das Buch der Bücher. Ich
weiss noch genau, in welcher Haltung
ich DostojewskisRoman las.Ich stand
am Flügel, auf den ich mich stützte. Es
eröffnete sich mir eineWelt voller Ab-
gründe.Aber die Abgründe waren mir
nicht wirklich fremd.

Matthias Bormuthist Professor für ve rglei-
chende Ideen geschichte an der Universität
Oldenburg. Das Gesprächmit dem am 22.Juli
dieses Jahresverstorbenen Peter Hamm
wurde im Mai 2018 aufgezeichnet und für die-
senAbdruck gekürzt. Es erscheint in diesen
Tagen in dem Band «Die Gäule der Erinne-
rung.Peter HammimGespräch», Verlag
Ulri ch Keicher, Warmbronn.

Als 15-Jähriger dachtePeter Hamm: «Ichkennedie ganzeWeltliteratur.» ISOLDE OHLBAUM

Die erste grosse
Überwältigung
war Dostojewski
und sein «Idiot».
Das war das Buch
der Bücher.

«Eine Reger-Messe
oder das ‹Ave verum›
von Mozart eröffneten
eineWelt, von der man
nichts geahnt hatte.»
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