Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

Freitag, 8. November 2019 FEUILLETON 23


INTERNATIONALE AUSGABE


Die Schweiz legt Europa ein Ei


Die Eidgenossen gelten als bedächtiges Völklein. Doch sie sind gar nicht so mutlos, wie viele glauben. Etwa, wenn es umKüken geht


DANIELE MUSCIONICO


Wir sind die Bergler, die keine Berg-
ler sein wollen. Denn das Image passt
schlecht zu einer modernen Dienstleis-
tungs- undTourismusnation. Doch es
ist und bleibt nun einmal eine unab-
änderliche topografischeTatsache: Der
Schweizer Horizont ist eingeschränkt.
Berge links und Bergerechts, vielleicht
sogar einTalriegel – sie prägen unser
Bild derWelt.


Allein gegen denRestder Welt


Wer in einem unserer zahllosen Täler
aufwächst, allein im Kanton Graubün-
den gibt es deren150 Stück, mag viel-
leicht zeit seines Lebens die Befürch-
tung hegen, hinter dem Horizont, un-
sichtbar für uns, würden Pläne geschmie-


det, die unsKopf und Kragenkosten
können. Geharnischte Skepsis gegen-
über Unbekanntem ist eine Schweizer
Selbstbehauptungsstrategie.
Doch Bedacht mit solchen Klischees!
Im Kern sind wir Eidgenossinnen und
Eid genossen in derTat ein harmonie-
bedürftiges, konfliktscheues und da-
bei bedächtigesVölklein. Doch wir sind
auch die Ersten, die sich für ihre Eigen-
schaften im Bedarfsfall ein klein biss-
chen schämen.Wie gerne wären wir –
manchmal– wie alle anderen auch.Aber
dann geschieht etwas, das uns hoffen
macht:Wir ertappen uns dabei, wage-
mutig zu handeln und unerschrocken
Grosses zu beschliessen.
Im Bereich desTierschutzes zum Bei-
spiel ist die Schweiz Pionierin.Das Par-
lamenthat kürzlich einen Beschluss ge-
fasst , der in Europa einen neuen ethi-

schen Standard setzen wird.Das in
der Eierindustrie gebräuchlicheTöten
von männlichen Eintagsküken durch
den Schredder ist ab nächstemJahr
verboten. Und die Schweiz geht die-
sen neuenWeg sogar ohne Vorbild.
2013 hatte das Bundesland Nordrhein-
Westfalen ein Schredder-Verbot verfügt,
doch der Bundestag hob es wiederauf.
DasArgument obsiegte, durch denVer-
zicht würden die Brutbetriebeins Aus-
land abwandern.
DerTodderHähnchenisteinMassen-
sterben. Über 45 Millionen männliche
Küken we rden jedes Jahr in Deutsch-
land geschreddert. Mehrere Millionen
sind es in Österreich. Die Schweiz tö-
tet jährlich drei Millionen wenige Stun-
den alteKüken. Der Grund ist ökono-
mischer Natur: MännlicheKüken legen
keine Eier, und für die Mastproduktion

nehmen dieTiere nicht schnell genug zu,
um sie lohnend aufzuziehen.
Doch dasTöten müsste längst nicht
mehr sein.Auf dem Markt existieren
Verfahren, die das Geschlecht derTiere
schon im Ei erkennen und das Schlüp-
fen männlicherKüken verhindern. Nur
noch Eier mit weiblicher DNA auszu-
brüten, wärkeine Zauberei, sondern
praxistauglich.

Ein zweifelhafterGott


Ende gut,alles gut für das Leben der
männlichenKükeninderSchweiz?Natür-
lich nicht. Das Schredder-Verbot ist nicht
das Ei desKolumbus. Denn statt dieTiere
lebendig zu zerschneiden, lässt man sie
nun im Gas sterben. DerTierschutz hält
diese Variante, auch wenn er sie grund-
sätzlich ablehnt, für die weniger grau-

same und qualvolleTodesart.Auch wenn
derWegzurVerminderung desTierleides
erst zur Hälfte gegangen ist,man kann die
Stärkung desTierschutzes in der Schweiz
nicht laut genug loben. Und man meint,
sich freuen zu dürfen. Doch schon beim
zwei tenNachdenkenkannmanwiederum
ziemlich still werden. Denn dieFrage ist
nichtaus derWelt zu schaffen: Ist unser
Umgang mit demTier rechtens? Die
Selbstverständlichkeit, mit der wir über
unsereMitgeschöpfe verfügen, ist jeden-
falls ein bemerkenswerterTatbestand.
Der Mensch darf Gott spielen, denn
er kann, das istwohl so. Dochwieso
spielt er ihn als einen Schöpfer und Rich-
ter, der über andere Kreaturen unnötig
Leid bringt? ImAuftrag , uns dieTiere
untertan zu machen, ging wohl etwas
vergessen.Vielleicht ist es die Kleinig-
keit, die sichVerantwortung nennt.

89 war unser 68

Wie ihr im Westen hatten wir uns im Osten der Anpassung an die Verhältnisse verweigert.Von Martin Ah rends


In dem Moment, als wir unsereWelt
zur unseren machen wollten – und das
unterscheidet uns von euch –, wurde sie
uns aus den Händen geschlagen. Nicht
von euch.Von der Geschichte. Es war
einfach zu spät.In punctoVerhinderung
von Geschichte hatten die greisen Ge-
nossen ganzeArbeit geleistet.Wir waren
unsere eigenen Nachzügler.
68 war es ja auch bei uns schon fast so
weit. Stellt euch vor,inPragwären keine
russischenPanzer gerollt, derReformso-
zialismus hätte im Ostblock eine Chance
bekommen. Stellt euch vor, dies hätte die
DDR so attraktiv erscheinen lassen, dass
es zur sozialistischenWiedervereinigung
gekommen wäre. In den ersten gesamt-
deutschenWahlen hätten aber nicht die
linkenRebellen desWestens , sondern die
(reformierte) Staatspartei des Ostens ob-
siegt.DasLand, auf das sich eureAmbi-
tion bezog, hätte es nicht mehr gegeben.
Ihr hättet euch unter fremdenVer-
hältnissen gefunden, in einemLand, das
euer Verändernwollen, eure Ideen nicht
braucht, weil die ja dem kapitalistischen
Herrschaftssystem entstammen, das ja
nun in ganz Deutschland überwunden
ist. DieFührungspositioneneures west-
lichen Deutschland würden ganz selbst-
verständlich besetzt mit den erfahre-
nen Genossen aus dem Osten.Aus dem
Rausch des grossenAufbruchs wäret ihr
erwacht in diesem anderen Deutschla nd,
wo das nicht gefragt ist, was ihr nur des-
halb so differenziertund genau formu-
lierenkönnt, weil ihr es gelebt und tau-
sendfach durchdacht, miteinander ver-
handelt und ausgetauscht habt.
Erwacht in einem neuen Deutsch-
land, wo alles, was ihr endlich verän-
dern wollt, angeblichlängst verwirk-
licht ist. Ihr wärt plötzlich überflüssig
mit eurer zur Aktion gereiften Erfah-
rung. Und von der eigentlichenReifung
im «Marsch durch die Institutionen» ab-
geschnitten. So ähnlich erging es uns 89.


Vom eigentlichenVerlust


Nicht die BRD, sondern die DDR wurde
nach demWettstreit derSysteme nicht
mehr gebraucht.Was da inJahrzehn-
ten gewachsen war ausserhalb der staat-
lich orthodoxen Denkstrukturen, das
wurde mit demBade ausgekippt.Das
Kind, dieFrucht, mit dem abgestande-
nen Badewasser der Stagnation.Das ist
der eigentlicheVerlust: die nicht frucht-
bar gewordene Erfahrung,die in diesem
ostdeutschenAufbruchderspätenachtzi-
ger Jahresteckte.Der Mauerfall war ein
NebenproduktdiesesAufbruchs,warvon
denstammelndenGreisendesPolitbüros
als Ventil gedacht. Nun ist derAufbruch
hinter dem historischen Grossereignis
des Mauerfalls kaum mehr erkennbar.
Betrogen fühlen wir uns nicht um die
«sozialen Errungenschaften der DDR»,
sondern um dieFrucht, das Kind, den
Sinn,dendiesevierzigJahrehättenhaben
können ,wenndersoverspäteteAufbruch


den Entfaltungsraum gehabt hätte, den
ihr, die Achtundsechziger, hattet.
Die eigentliche Leistung von uns Ost-
deutschen wird vor allem darin gesehen,
den kompletten Zusammenbruch des
eigenen Lebenssystems zu verkraften.
In dieser Sicht bleiben wir Opfer. Die
eigentliche Leistung der Ostdeutschen
bestünde im siebzigstenJahr der Bun-
desrepublik darin, diese andere Erfah-
rung im vereinigten Deutschland frucht-
bar werden zu lassen. Und damit sind
nicht Ampel- und Sandmännchen ge-
meint. Gemeint ist ein anderer Lebens-
stil.Andere Prioritäten. Die in der Man-
gelwirtschaftgelerntenKonsumgewohn-
heiten waren nachhaltiger als unsere jet-
zigen. Und eine ökologischeDummheit
wie diesen milliardenteuren Billigflug-
hafen BER hätten wir uns mit Blick auf
einenzukunftsfähigenLebensstilerspart.
Die DDR hat zu lang und nicht lang
genug existiert.Zu lang, als dass sie nicht
zur Gewohnheit hat werdenkönnen.
Dauer schafft Normalität. All die unge-
liebten Schulungsveranstaltungen, die
FDJ-,Partei-, Gewerkschaftslehrjahre,
sind so wirkungslos nicht geblieben, wie
mancherTeilnehmer das vermutet.Diese
Politversammlungen galten zwar offiziell

alsDiskussionsforen,sieerzogenunsaber
vor allem dazu, den Mund zu halten, um
uns nicht unnötig in Schwierigkeiten zu
bringen. Zu kurz hat die DDR nach der
friedlichenRevolution existiert, um uns
öffentlich frei sprechen zu lehren,um den
Mund wieder zu öffnen, auf dass wir uns
hätten bewusst werdenkönnen, was uns
in diesen vierzigJahren widerfahren ist.

So viel Anfang


Rudi Dutschke kam 1961 rechtzeitig aus
Luck enwalde nachWestberlin, er hätte
in der DDR nichtJournalistik studieren
dürfen,wie er es vorhatte. Nun konnte er
imWesten reden lernen.Wir fingen 1989
gerade erst damit an. AlleWelt konnte
das hören und sehen, als DDR-Bürger
zum ersten Mal öffentlich dasWort er-
griffen und versuchten, das zu formulie-
ren, was sie bisher nie hatten ausspre-
chen dürfen, wovonsie geglaubthatten,
dass es in ihnen bereitläge und nur dar-
auf wartete, endlich gesagt zu werden.
Das nun aber so unreif zutage kam,dass
man davor erschreckenkonnte, wenn
man nicht darüber schmunzeln wollte.
1990 sass ich in derRedaktion der
«Anderen», einerWochenzeitung des

NeuenForums,undwähntemichamrech-
ten Platz.Ich wollte da anknüpfen,wo ich
wegeneines Arbeitsverbots und meiner
Ausreise hatte abbrechen müssen.So viel
Anfang. Spannende Monate. Der neu-
gewählteVorsitzende des DDR-Schrift-
stellerverbandes lud mich mit ande-
ren weggegangenenAutoren zu einer
Lesereise und der Beteiligung an einer
Anthologie in einem grossen DDR-Ver-
lag ein. EineWiedergutmachung, wie er
esnannte.Ichfühltemichzum erstenMal
ernst genommen in meinem Ostdeutsch-
land.In diesemJahr 1990 dachte ich:Jetzt
ist doch noch alles gut ausgegangen.

EineArt Notreifung


Sehr bald schon verschwanden die
Wochenzeitung des NeuenForums und
der alte Schriftstellerverband mitsamt
ein er DDR, in der gerade vieles an-
brach,vonderBildflächederGeschichte.
Nun konntendie v erstummten, die weg-
gesperrten und ausgewiesenen Stimmen
sich endlich erheben. Nunkonnte end-
lich das Unerzählte erzählt,Verborge-
nes aufgedeckt, dasVerschleier te ge-
klärt, nunkonnte endlich aufgearbeitet
werden. Aber das war kaum noch von

Interesse.DiefrischgebackenenBundes-
bürger hatten übergenug damit zu tun,
sich neu zu erfinden und obendrein ihre
DDR-Biografie zu verteidigen.
Westliche Bildungsträger veranstal-
ten seitJahrzehnten gutgemeinteForen
zur DDR-Geschichte. Sie sehen sich mit
einer Ablehnung der Einheimischen
konfrontiert, die ebenso irrational wie
verständlich ist. Genauso wie man vor-
dem die politischen Pflichtveranstaltun-
gen ablehnte als Übergriff einer frem-
den Deutungshoheit,so l ehnt man nun
die westliche Deutung der selbst geleb-
tenGeschichteab.MitdemUnterschied,
dass man jetzt straflos fernbleiben kann.
DiemundtoteDDRhatvielzulangge-
dau ert und die mündige viel zu kurz, um
dieallzulangunterdrücktepolitischeRei-
fung nachzuholen. Es ist eine Art Notrei-
fung geblieben, die bis heute spürbar ist.

Martin Ahrendsist Journalist un d Schriftstel-
ler. Geboren 1951 in Berl in-Zehlendorf (im da-
maligen Westse ktor), siedelte er mit seiner
Familie1957 nachKleinmachnow (DDR) über.
Nach einem politisch begründeten Arbeitsver-
bot stellt e er 1982 einen Ausreiseantrag, dem
1984 stattgegeben wurde.Zuletzt erschien
sein Roman «D er märkische Radfahrer» (2017).

Nichts wieraus hier–die DDR wurde nachdem Wettstreitder Systeme nicht mehr gebraucht. Szene an einem Grenzübergang am 10. November1989. DPA/KEYSTONE
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