Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

Freitag, 8.November 2019 FEUILLETON 25


INTERNATIONALE AUSGABE


Eine Hochschule flüchtet 800 Kilometer nach Westen


Die Donezker Universität wurde 2014vonprorussischen Separatistenbesetzt. Imwestukrainischen Winnyzja fandsie eine neue Bleibe


ULRICH M. SCHMID


Im Westen der podolischen StadtWin-
nyzja befindet sich dieJuwelenfabrik
«Kristall», ein hässl icher Plattenbau aus
der Sowjetzeit.Auf dem Boulevard vor
dem Gebäude fahren alte blau-weisse
ZürcherTrams, die vor zwölfJahren in
die Ukraine übergeführt wurden. Seit
2014 mietet die exilierte Donezker
Nationaluniversität dasVerwaltungs-
gebäude derFabrik.Der Boden ist holp-
rig, an denWänden blättert dieFarbe ab.
In derAula stehen zwei grosse Plastik-
behälter,die das von der Decke trop-
fendeWasser auffangen. Gleichwohl
sind dieregierungstreuen Dozierenden
und Studierenden der Donezker Uni-
versität froh,Asyl gefunden zu haben.
Die Flucht war dramatisch. Der An-
griff auf die Universität begann mit der
Beschlagnahmung der 25 universitäts-
eigenenFahrzeuge. Söldner erschienen
in der Garage und forderten die An-
gestellten auf, ihnen dieAutoschlüs-
sel zu übergeben. Als Nächstes besetz-
ten die Separatisten ein Studentenheim.
Die meisten von ihnen kamen aus der
nahe gelegenen Kleinstadt Slawjansk,
di e 20 14 eine prorussische Hochburg
war.Das Studentenheim brauchten sie
als Unterkunft für ihre eigenenFami-
lien. ImAugust 2014 erschien ein frü-


herer Geschichtsdozent mit einer Pis-
tole auf dem Campus und erklärte sich
selbst zum neuenRektor. Er fuchtelte
mit seinerWaffe herum und verkündete:
«Wer mit der neuen Macht nicht einver-
standen ist,kanngehen.» Einer der an-
wesenden Dozenten fragte,auf welcher
gesetzlichen Grundlage er solcheAus-
sagen mache. Darauf antwortete der
Usurpator: «Es gibtkeine Gesetze, wir
schreiben sie gerade neu.»

Der Cloudsei Dank


Roman Grynjuk,derRektor der Univer-
sität, erinnert sich gut an dieWarlords,
die aus dem Nichts auftauchten und die
Universität der «Donezker Volksrepu-
blik» unterwarfen.«Wir verstanden,dass
es keinen Kompromiss geben kann. Ich
war damals schon nach Kiew geflohen,
im besetzten Donezk hätte man mich in
einenKeller werfenkönnen. DerBil-
dungsminister schlug vor, die Universi-
tät nachWinnyzja zu evakuieren.In die-
ser Situation wandte ich mich über die
sozialen Netzwerke an dieAngehörigen
der Universität mit der Bitte, sich auf
einerspeziellenWebsite für den Umzug
einzuschreiben.»
Etwa 70 Prozent der Dozenten und
die Hälfte der Studenten waren bereit,
nachWinnyzja zukommen. Grynjuk er-

läutert die unterschiedlichen Gründe
de rjenigen, die bleiben wollten: Zu-
nächst gab es feurigeAnhänger der Ein-
heit der «russischenWelt». Dann konn-
ten sich ältere Dozenten kaum mit den
Idealen des Euromaidan anfreunden,
weil sie sich immer noch als Sowjet-
menschen fühlten. Schliesslich wollten
viele ihre Wohnungen nicht aufgeben
oder ihre Eltern nicht im Stich lassen.
Die Studenten verfügten über mehr
Optionen.Einige kamen nachWinnyzja,
aber viele studierten in Charkiw, Dnipro
oder Kiewweiter. Eine wichtigeVoraus-
setzung für den erfolgreichen Umzug
war dieTatsache, dass die Universität
ihre wichtigstenDaten in einer Cloud
gespeichert hatte und deshalb den Be-
trieb inWinnyzjarelativ nahtlos wieder
aufnehmenkonnte.
Überhaupt ist Grynjuk stolz auf die
Innovationen seiner Universität. Er ver-
weist auf die Gründung einer neuen
Fakultät für angewandte Informations-
technologien,in der Lehrstühle fürPoli-
tikwissenschaft,Journalismus, Informa-
tik und angewandte Mathematik vereint
sind. Eine RückkehrderUniversitätnach
Donezk schliesst Grynjuk auch für den
unwahrscheinlichenFall einer Normali-
sierung derLage aus: Die junge Genera-
tion im Donbass sei nun schon seit fünf
Jahren ideologisch bearbeitet worden,

es werde lange dauern, bis sie wieder
kritisch denkenkönne. Umgekehrt will
Grynjuk aber auch am Namen «Donez-
ker Nationaluniversität» festhalten, weil
die Herkunft einen wichtigenTeil der
Hochschul-Identitätdarstelle.Allerdings
kursieren auf dem Campus Gerüchte
über eine mögliche Umbenennung in
«Podolische Nationaluniversität».

Gerangel bei der Namensgebung


Mit der offiziellen Bezeichnung der
Universität verbindet sich eine zweite
Debatte.Nachder«orangenRevolution»
2004 forderte eine studentische Gruppe
dieUniversitätauf,denNamendesukrai-
nischen DichtersWasyl Stus (1937–1984)
anzunehmen. Stus war ein mutiger Kri-
tiker des Sowjetregimes und engagierte
sich im Helsinki-Prozess. Er verbrachte
langeJahre in sibirischenLagern, wo
er schliesslich – wegen der verschärften
Haftbedingungen entkräftet – starb.
Für die Sowjetnostalgiker in Donezk
war der Name Stus natürlich eine Pro-
vokation. Eine prorussische Prorekto-
rin stellte sogar einen Gegenkandidaten
auf, den kommunistischenParteisekretär
Wladimir Degtarjow (1920–1993). Eine
tragische Ironie der Geschichtewill es,
dassWasyl Stus die beidenKonflikt-
parteien in Donezk sogar hätte vereini-

genkönnen:StuswareinaufrechterKom-
munist, der Stalins und Chruschtschows
Herrschaft kritisierte und zu Lenins «hei-
ligenIdealen»derOktoberrevolutionzu-
rück kehrenwollte.Eswarallerdingsnicht
sein Fehler , dasser die prekäre Wahr-
heit über LeninsTerrorherrschaft nicht
kannte–entsprechendehistorischeZeug-
nisse wurden erst nach dem Ende der So-
wjetunion veröffentlicht.
Der Streitan der Donezker Universi-
tät endete 2009 in einerAbstimmung im
akademischenRat mit einer vorläufigen
Ni ederlage der Studierenden: 61 von 63
Mitgliedern stimmten gegen den Namen
«Wasyl-Stus-Universität». Erst nach der
Evakuation aus Donezk akzeptierte
eine Mehrheit der Universitätsangehö-
rigen die Umbenennung. Eine wichtige
Rolle spielte dabei derTod des ehema-
ligen StudentenJuri Matuschak (1987–
2014),der mit einemFreiwilligen-Batail-
lon in den Krieg gegen die Separatisten
gezogen war und in derKesselschlacht
von Ilowaisk ums Leben kam. Matu-
schak hatte die Studentenorganisation
«Impuls» gegründet,die in Donezk noch
ohne Erfolg für die Ehrung vonWasyl
Stus lobbyierte. Heute wird Matuschak
durch ein Bronzerelief in der Eingangs-
halle der Donetzker Universität inWin-
nyzja geehrt – unmittelbar neben seinem
VorbildWasyl Stus.

«Das Drama, die Konflikte interessieren mich»

SeinNamewirdgenannt, woimmer wichtige Postenzubesetzensind. Jetzt ist der DirigentAntonio Pappano auf Tournee inder Schweiz


GEORGRUDIGER,ROM


«Zuerst brauche ich meineBanane»,
ruft AntonioPappano und sinkter-
schöpft auf die Couch in seinem Büro.
Ein langerTag liegt hinter ihm: Proben
zu einem Galakonzert imPalazzoFar-
nese, bei dem er am Originalschauplatz
Auszüge aus Puccinis«Tosc a» für Spon-
soren präsentieren wird. Zudem stand
eine Leseprobe mit Schumanns 2. Sinfo-
ni eauf der Agenda. Mit dem Orchestra
dell’Accademia Nazionale di Santa Ceci-
lia hat der 59Jahre alte Dirigent seit der
Saisoneröffnung Mitte Oktober bereits
zwei unterschiedliche Programme mit
insgesamt sechsKonzerten absolviert.
«Zu Beginn der Spielzeit haben wir
das Requiem und die‹Symphonie fan-
tastique› von Berlioz gemacht. Ich bin
ein grosserFan diesesKomponisten. Die
Musik von Berlioz muss man erzählen.
Die Extreme müssenkommen: extrem
leise , extrem laut, extrem schnell.Auch
das Rauschhafte ist in dieser Musik.»
Doch nun steht bereits das nächste Pro-
jekt an, das er dieserTage imRahmen
einerTournee auch in der Schweiz prä-
sentieren will:Mit MarthaArgerich spielt
erin Romdas1. KlavierkonzertvonLiszt,
das die Meisterpianistin anschliessend
auch in Genf (7.11.) und Luzern(9. 11.)
interpretieren wird. Alternierend wird
Francesco Piemontesi mit dem1. Kla-
vierkonzert von Chopin in Bern, Zürich
(8. 11.)undLugano(10. 11.)zuhörensein.


«Ich komme von derOper»


DenSchweizer Pianisten undFestival-
leiterkennt Pappano erst seit einigen
Monaten. Im März haben sie zusammen
Beethovens 3. Klavierkonzert in Mos-
kau aufgeführt. Nun freut er sich auf das
Wiedersehen: «Piemontesi weiss genau
um den Zusammenhang des Stücks, das
er spielt. Dieser Pianist singt am Klavier.
Und verfügt in seinem Spiel über eine
wunderbare Kombination vonStrenge
und Freiheit, vonKopf und Herz.»
Zu denKlavierkonzerten von Liszt
und Chopin hatPappano jeweils die
«Euryanthe»-Ouvertüre Carl Mariavon
Webers und Schumanns Zweite gestellt.
«Alle dreiKomponisten standen in Be-
ziehung zu Hector Berlioz, alle waren
grossePianisten.Schumannhatdie‹Sym-
phonie fantastique› in derTranskription
von Liszt für eine hymnische Kritik in
der ‹Neuen Zeitschrift für Musik› analy-


siert», erläutertPappano. Dass dasTour-
neeprogramm dennoch ausgesprochen
konservativ ist, bestreitet der Maestro
nicht.«Weber,Schumann,Chopin,dasist
natürlichnichts Neues.Aber als italieni-
schesOrchesterhabenwireinenanderen
Zugang zu diesenWerken als ein deut-
scher Klangkörper.Wir bringen beson-
dere Farbenhinein.DiesesOrchesterbe-
sitzt eine bemerkenswerte Kantabilität
undentwickeltgrosseEnergie.Allesgeht
nach aussen. Ich selbstkomme von der
Oper. Das Drama,dieKonflikte interes-
sieren mich auch in sinfonischer Musik.»
Im Sommer hatPappano seinenVer-
trag inRom bis 2023 verlängert, weil

ihn die Zusammenarbeit nach wie vor
erfüllt. Das Selbstvertrauender Orches-
termitglieder sei durch die vielen erfolg-
reichenTourneen und anspruchsvollen
Programme gewachsen.«Ich kann gleich
mit der Arbeit beginnen und dieInter-
pretation formen.Das macht mich sehr
glücklich.Wir habenkeine Zeit zu ver-
lieren.» Bei der Probe am nächstenTag
im vonRenzo Piano entworfenenAudi-
toriumParcodella Musicasitze nSchul-
kinder zwischen den Musikern.Wäh-
rend der Maestro seine Brille putzt,wird
gestimmt,dieAtmosphäre ist locker und
ein wenig unruhig.Aber als sichPap-
pano mit der freundschaftlichen An-

rede «Ragazzi» an sein Orchester wen-
det, verstummt das Gemurmel sofort.
Er erzählt auf Italienisch von den bei-
den SeitenRobert Schumanns, die der
Komponist selbst mit dem draufgängeri-
schenFlorestanunddemnachdenklichen
Eusebiusbeschriebenhabe.Dieseschnel-
lenWechsel in der Musik müsse man be-
achten. Dann gibt er den Einsatz zum lei-
sen Beginn desKopfsatzes – und bricht
nach wenigenTakten ab. Die Linie in den
Streichernmüsseweitergehen,dürfeaber
auf keinen Fall zu laut werden. Nicht zu
viel Espressivo, sondern denKollegen
Raum geben – und Geduld haben für die
dyn amischen Steigerungen. Sofort setzt

das Orchester, das mittlerweile über 112
Planstellen verfügt, die Anweisung um.
Viele junge Gesichter sind auf der Bühne
zu sehen; das Durchschnittsalter der
Orchestermitglieder liegt bei 45Jahren.
Für die Blechbläser gibt es nach dem
ersten Satz sogar ein Extralob vonPap-
pano. Das anschliessende, schnell genom-
mene Scherzo zeigt die hohe Qualität der
Streicher, die all die unbequemen Sech-
zehntelketten vom erstenTakt an mit
Leichtigkeit und völlig homogenrealisie-
ren. Der schwierige Übergang zum ers-
tenTrio klappt perfekt,weilPappano vor-
ausschauenddenBodenbereitet.Obwohl
derPianistundKorrepetitornieeineregu-
läre Dirigierausbildung erhalten hat,viel-
mehr durch Learning by Doing zum Pult-
star wurde, ist seine Schlagtechnik heute
so ausgefeilt, dass er damit auchkomple-
xeste Strukturen verdeutlichen kann.

Umarmt vonMusik


Heute gilt Sir AntonioPappano, der
2012 von der Queen zumRitter ge-
schlagen wurde, als führender Dirigent
der mittleren Generation. Der Brite mit
italienischenWurzeln, aufgewachsen in
den USA, galt als heissester Kandidat
für die Nachfolgevon KirillPetrenko
al sGeneralmusikdirektor derBayeri-
schen Staatsoper. «Ich bin gefragt wor-
den – und habe Nein gesagt. Ich wollte
nicht an einem anderen Opernhaus neu
anfangen.Man kann nicht alles machen.
Ich spiele jetzt mehr Klavier und mache
vieleAufnahmen.Ich bin glücklich da,
wo ich stehe», sagt Pappano.Was er nach
2023 tun wird, wenn seinVertrag als
Musikdirektor desRoyal Opera House
in Londonausläuft, weiss er noch nicht.
«Ich möchte es auf jedenFall ruhiger
haben, sonst arbeite ich mich zuTode.»
Nachdenklich macht ihndie der-
zeitigePolarisierung der Gesellschaft,
in Italien wie in Grossbritannien. Man
könnemitFreundengarnichtmehrüber
Politik sprechen, weil alles so persönlich
geworden sei.Trotzdem hofftPappano
darauf, dass dieKunst auch künftig eine
wichtigeRolle in der Gesellschaftspie-
len wird:«Wenn Menschen zusammen
in einemKonzert sind, entsteht ein Ge-
meinschaftsgefühl. Sie teilen etwas, was
für allewichtigist.VieleSäleundOpern-
häuser sind rund,als würde diese Ge-
meinschaft umarmt werden von dem,
was auf der Bühne passiert. Das ist ein
schönesSymbol.»

AntonioPappano ist nahbar, aber streng, wenn es um die Musik geht. FABIO MASSIMO ACETO/LUZ
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