Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

Freitag, 8. November 2019 SCHWEIZ29


INTERNATIONALE AUSGABE


Keller-Sutter willPendenzen


imAsylwesen rasch abbauen


Die Kantone fürchten sich vor den Folgen der zu langen Verfahren


TOBIASGAFAFER


Auch die Schweizer Behörden kamenan
ihre Grenzen.Auf dem Höhepunkt der
Flüchtlingskrise von 2015 beantragten
hierzulande über 40000 Personen Asyl.
Die hohe Zahl der Gesuche führte zu
sehr langen Verfahren, die teilweise bis
heute andauern.Gegenwärtig sind beim
Staatssekretariat für Migration (SEM)
nochrund1600Anträge hängig, die von
2016 und früherstammen.
KaumbemerktvonderÖffentlichkeit,
hatdieJustizministerinKarinKeller-Sut-
ter (fdp.) nun angeordnet, dassder Pen-
denzenbergrascher als vorgesehen ab-
gebautwird.Die rund 8000Gesuche, die
gestellt wurden, bevor das neue Asyl-
gesetz im März in Kraft trat, sollen bis
im Herbst 2020 erstinstanzlich erledigt
sein. Dies gab das SEM im September
verstecktineinerMitteilungzuRückfüh-
rungen vonAsylbewerbern bekannt.Ur-
sprünglichhatteesgeplant,diealtenFälle
bisimFebruar 2021zuerledigen.


Mehr Tempo geforde rt


Vordergründig mag es nur um einige
Monategehen. Doch dieVerfahrens-
dauer hat potenziell weitreichende
Implikationen. Namentlich die Kan-
tone forderten vom Bund mehrTempo.
Sie befürchten, dass sie mit sehrviel en
Härtefallgesuchenkonfrontiert sein wer-
den , wenn das SEM nichtrasch über die
Gesuche entscheidet.Dies hatrechtliche


Gründe: Abgewiesene Asylsuchende
odervorläufigAufgenommenekönnen
eineAufenthaltsbewilligung beantra-
gen, wenn sie sich seit fünfJahren in der
Schweizaufg ehalten haben.
Die Betroffenen müssen dafür ge-
wisse Bedingungen erfüllen. Sie dürfen
etwa nicht von Sozialhilfe abhängig sein,
und die Integration muss fortgeschritten
sein.Im vergangenenJahr bewilligten
die kantonalen Migrationsbehörden 124
entsprechende Gesuche; nur14 lehnten
sie ab. Zudem erhielten1949 vorläufig
Aufgenommene nachträglich eineAuf-
enthaltsgenehmigung. Lediglich einen
Antrag hiess ein Kanton nicht gut.
«Wir sind froh, dass Bundesrätin
Karin Keller-Sutter vorwärtsmachen
will», sagt Marcel Suter, Präsident der
Vereinigung der kantonalen Migrations-
behörden. Esgelt e die Chance zu nut-
zen, zumal die Asylzahlen gegenwärtig
tief seien.Personen mit einem negati-
ven Entscheid seien wenn möglichrasch
wegzuweisen,sagt er. «Es ist nicht fair,
wenn manche wegen der langenVerfah-
ren voneiner Härtefallregelung profitie-
ren,während andere die Schweiz verlas-
sen mussten.» Zudem sei es stossend,
dass Asylbewerber bis zu fünfJahre auf
einen Entscheid warten müssten.
Auch Rechtsvertreter von Asyl-
suchendenstörensichandenlangenVer-
fahren. DieFürsprecherinLaura Rossi
schrieb im April auf der Plattform hu-
manrights.ch, die Praxis des SEM sei für
die Betroffenen belastend und verstosse

gegen dieVerfahrensgarantie. In einem
Brief wandten sich dreissig Asylanwälte
an den SEM-Staatssekretär Mario Gat-
tikerunddieVizedirektorinEstherMau-
rer. Sie verlangten, dass Gesuche aus
HerkunftsstaatenwieSyrienoderAfgha-
nistanrasch bearbeitet werden.

Fast 7000alte Fälle noch hängig


Das SEM behandelt voraussichtlich
schwach begründete Asylgesuche prio-
ritär.Wer gute Chancen hat, Schutz oder
eine vorläufigeAufnahme zu erhalten,
kommt dagegen erst an zweiter Stelle.
Die Vizedirektorin Maurerräumte in
ihrer Antwort an die Asylanwälte aber
ein, dass es wegen der zahlreichen Ge-
suche von 2015 zu Verzögerungen ge-
kommen sei. In den letzten zweiJahren
konnte der Bund diePendenzenredu-
zieren. Ende Oktober waren noch 6799
alteVerfahren hängig, wie eine Spreche-
rin d es SEM sagt.Auch die Kantone lo-
ben die Bemühungen des Bundes.
Bereits zeichnet sich jedoch ab, dass
das SEM rund tausend Asylverfahren
nicht bis im Herbst 2020 abschliessen
kann. Dies betrifft besonders aufwen-
dige Fälle mit laufenden Abklärungen.
Dass rasche Entscheide für fast alle Be-
teiligtenVorteile bringen, bestreitet je-
doch kaum jemand.Eine Verbesserung
sollen namentlich die beschleunigten
Verfahren bringen, die seit März die-
ses Jahres in Kraft sind.Für eine erste
Bilanz ist es noch zu früh.

Sollen Pfarrer straffrei

Flüchtlingen helfen dürfen?

Allianz aus Landes- und Freikirchen fordert eine Änderung des Ausländerrechts


DANIEL GERNY, SIMON HEHLI


«Es war garkeine Frage:Wenn ich die
Botschaft des Evangeliums ernst nehme,
muss ichhelfen.» Schaut der Zürcher
Pfarrer Josef Karber zurück, ist er über-
zeugt, dasser richtiggehandelt hat –
auch wenn ihm seinTunÄrger mit der
Justiz eingebracht hat. Er beherbergte
von 2011 bis 2018 eine krebskranke
Migrantin in der Notwohnung seiner
Pfarrei, obwohl dieFrau keine Aufent-
haltsbewilligung hatte. So bekam sie eine
Behandlung, dank der sie heute laut Kar-
ber auf demWeg der Heilung ist. «Hätte
ich sie den Behörden gemeldet,wäre das
Risiko gross gewesen, dass man sie aus-
geschafft hätte – und das wäre wohl ihr
Todesurteil gewesen, weil in ihrem Hei-
matlandkeine adäquate medizinische
Behandlung möglich gewesen wäre.»
Also stellte der Priester dasWohl eines
Menschen über das Gesetz. Dass ihn die
ZürcherJustiz dafür in diesemSommer
zu einer bedingten Busse in Höhe von
mehreren tausendFranken verurteilt
hat, ist der Preis, den Karber in Kauf
nimmt. «Ich kann mit derVerurteilung
leben – und dieFrau durfte überleben.»


Ziviler Ungehorsam


Kirchen undPolitiker aus dem linken
Lager verlangen nun aber, dass Men-
schen wie Karber in Zukunft für ihre
Hilfeleistung nicht mehr vor Gericht
landen. Nächstenliebe dürfe nicht be-
straft werden, argumentiert die Schwei-
zerische Evangelische Allianz, eine
Organisation im Schnittbereich von
reformierter Landeskirche und Frei-
kirchen. Die Bischofskonferenz (SBK)
betont,es gehöre zum Grundauftrag der
Kirchen,Menschen in Not zu helfen.Sie
beruft sich dabei auf das Kirchenasyl.
DieseWoche befasst sich die Staats-
politischeKommission (SPK) des Natio-
nalrats mit demThema – imRahmen
ein er parlamentarischen Initiativeder


grünen Nationalrätin Lisa Mazzone. Sie
will dasAusländer- und Integrations-
gesetz so ändern, dassPersonen, die aus
«achtenswerten Gründen» Hilfe leisten,
dafür nicht mehr bestraft werden.Jahr
für Jahr werden Hunderte von Strafen
wegen derFörderung derrechtswidri-
gen Ein- undAusreise sowie desrechts-
widrigenAufenthaltes ausgesprochen.
2018 waren es 972Fälle.
Auch diereformierte Pfarrerin Sibylle
Forrer setzte auf zivilen Ungehorsam,
als sie 2016 einer sechsköpfigenFami-
lie aus Tschetschenien Asyl im Pfarr-
hausvon Kilchberg gewährte. Das Bun-
desverwaltungsgericht hatte dieAuswei-
sung derFamilie verfügt.Dagegenregte
sich in der Zürcher GemeindeWider-
stand, undForrer hielt es für gerecht-
fertigt, die Tschetschenen vor der Ab-
schiebung zu bewahren. DieFamilie
entschied sich nach vierWochen im von
der Polizei umstellten Pfarrhaus für eine
freiwilligeAusreise–auch ausAngst vor
einer Zwangsausschaffung. «Es ist eine
menschlicheTragödie», sagt Forrer. Und
ist überzeugt,dass man sie hätte verhin-
dernkönnen. «Der zuständigeRegie-
rungsrat MarioFehr hätte sich nicht ge-
traut, das Pfarrhausstürmen zu lassen , zu
gross wäreder Reputationsschaden ge-
wesen.» Die Staatsanwaltschaft erhob im
Nachgang der AffäreAnzeige gegen die
Pfarrerin, doch das Gericht entschied,
Forrer nicht zu belangen.
Bis vor zehnJahren blieb Hilfe, wie
sie Forrer und Karber erbrachten, straf-
los, «soweit sieaus achtenswerten Be-
weggründen geleistet» wurde. Doch
dannzogenBundesratundParlamentdie
SchraubeanundverschärftendasGesetz.
Zu dieser Zeit rückten Schlepperorgani-
sationenzunehmendinsBewusstseinder
Öffentlichkeit. «Es gibt praktischkeine
Schlepper, die nicht sagen, sie hätten es
aus ehrenwerten Gründen getan», er-
klärte der damalige Justizminister Chris-
tophBloc herbeiderBeratungdesneuen
Gesetzes im Nationalrat.Ähnlich argu-

mentiert heute der ZürcherSVP-Natio-
nalr atund KatholikGregorRutz.Er will
MazzonesVorstoss in der SPK bekämp-
fen. Eine Umsetzung ihrerForderung
habe de facto eine Unterstützung des
Schlepperwesens zurFolge. Rutz ist der
Ansicht, die Schweiz sei im Asylbereich
«eher zu tolerant». Es brauche Sanktio-
nen, denn sonst «würde die Schweiz als
Rechtsstaat unglaubwürdig».

Regeln für das Kirchenasyl


Doch sindRecht und Gerechtigkeit
immerdeckungsgleich?AufdiesesSpan-
nungsfeld machen nicht nur Mazzone
und ihre Mitstreiter aufmerksam, son-
dern es führt auch kircheninternregel-
mässigzuDiskussionen.DasKirchenasyl
hat in der Schweiz zwarTradition, doch
eineGrundlageinFormvonSonderrech-
ten für die Kirche existiert nicht. Der
Evangelische Kirchenbund formulierte
deshalb2016Richtlinien, an denen sich
das Kirchenasyl orientieren müsse. Er
machte klar, dass Kirchenasyl dieAus-
nahmebleibenmüsse,nichtimVerborge-
nen geschehen dürfe und von der Kirch-
gemeinde mitgetragen werden müsse.
Pfarrerin SibylleForrer weiss, dass es
problematisch ist, wenn sich Einzelne
mit Verweis auf die Moral über das Ge-
setz erheben.«Wir haben einenRechts-
staat und müssen uns an dieRegelnhal-
ten. Aber manchmal treffenPolitik und
Justiz Entscheide, die aus menschlicher
Sicht einfach falsch sind.» In solchen
Fällen müssten sich dieVerantwort-
lichen einer Kirchgemeinde überlegen,
ob Widerstand angebracht sei. «Aber
ein solcher Entscheiddarf nie leichtfer-
tig und im Alleingang passieren.»
Priester Karber wünschtsich, dass
der Gesetzgeber Artikel 116 streicht


  • od er zumindest modifiziert.«Man
    könnte ins Gesetz schreiben, dass der
    Richter von einer Strafe absieht, wenn
    sich die Helfer mit einer extremen Not-
    situationkonfrontiert sehen.»


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