Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

32 ZÜRICH UNDREGION Freitag, 8.November 2019


INTERNATIONALE AUSGABE


Zürich rüttelt am Verkehrskompromiss

In den Richtplänen werden neu Massnahmen verankert, die das Klima in der Stadt verbessern sollen


ADI KÄLIN


Zürich hat derzeit gut 430 000 Einwoh-
ner. Diese Zahl soll sich bis insJahr
2040 auf etwa 520 00 0 erhöhen.We l-
chen Kraftakt dies darstellt und was die
Stadt tun muss, um diesesWachstum gut
zuverkraften, zeigen die Richtpläne für
die Siedlungsentwicklung und denVer-
kehr auf. Nur schon um die zusätzlichen
Schülerinnen und Schüler unterbringen
zukönnen, sind rund 400 neue Klas-
senzimmer nötig. BaulicheVerdichtung
wird vor allem imWesten und Norden
der Stadt angestrebt.


Gegen 1000 Einwendungen


Bei der öffentlichenAuflage im letzten
Jahrkonnten die Bevölkerung und Inter-
essengruppen Einwendungen zu den
Richtplänen machen. Beim Siedlungs-
richtplan gingen 590 Anträge ein, beim
Verkehrsrichtplan 400. Nur einen klei-
nenTeil davon hat der Stadtrat bei der
Überarbeitungberücksichtigt. Weitere
Änderungen wird nun der Gemeinde-
rat bei der Bearbeitung vornehmen.
Einige Anpassungen gegenüber
der ersten Richtplanversion vom letz-
tenJahr betreffen das Klima in irgend-
einer Art.Auffallendistetwa, dass der
Stadtrat beabsichtigt,den historischen
Verkehrskompromiss «weiterzuentwi-
ckeln». Künftig sollen nicht mehr alle
oberirdischenParkplätze in der Innen-
stadt, die abgebaut werden, in unterirdi-
schen Anlagen ersetzt werden müssen.
Zehn Prozent derParkplätze sollen er-
satzlos gestrichen werden dürfen. Der
Stadtrat empfiehlt dem Gemeinderat
diese «massvolleAnpassung»,dierot-
grüne Seite desParlaments dürfte aber
wohl noch weitergehen wollen.
Es brauche eine Neuverteilung des
öffentlichen Raums, sagte derTief-
bauvorsteher RichardWolff an einer
Medienkonferenz des Stadtrats.AufTei-
len derFahrbahn und aufParkplätzen
sollPlatz geschaffen werden fürFuss-
gänger,Velofahrer und für den öffent-
lichenVerkehr, aberauch für zusätzliche
Bäume oder Boulevardcafés.
In den Hitzesommern der letzten
Jahre ist klargeworden, dass es in der
Stadt Zürich sehr heisse Gebiete gibt,
die zum Problem werdenkönnen – vor
allem für die ältereBevölkerung.Diese


«Hotspots» fliessen nun auch in die
Richtplanung ein. Die Behörde wird
verpflichtet, Massnahmen zurVerbes-
serung des lokalen Klimas zu prüfen.
Dazu gehören etwa dichteFussverbin-
dungen, zusätzlicheBäume und Brun-
nen.Auch künftig soll die kalte Luft in
der Nacht von den Hügeln ringsum in
die Stadt fliessenkönnen.
Auch die Überdeckung von Gleis-
feldern, etwa des Seebahngrabens oder
desBahneinschnitts in Oerlikon,könnte
dazu beitragen, zusätzlichen Grün- und
Freiraum zu generieren – auch wenn
dies eine teure Sache werden dürfte.
In einer Einwendung wurde sogar an-
geregt, das gesamte Gleisfeld zwischen
Hauptbahnhof undBahnhof Altstetten
zu überdecken. Der Stadtrat verdankt
denVorschlag in seinem Bericht zu den
Einwendungen als «wertvollen Diskus-
sionsbeitrag»,lässt aberdeutlichdurch-

blicken, dass er die Idee für allzu uto-
pisch hält.
BeimThemaVerdichtungkommen
praktisch aus allen Quartieren der Stadt
Anträge,dass genau ihr Gebiet ver-
schont bleiben möge.Aus Altstetten und
Zürich Nord scheinen dieseVorschläge
am ehesten gerechtfertigt,weil diese Be-
reiche die Hauptlast derVerdichtung zu
tragen haben.Wahrscheinlichkommt
die Idee, auch den Zürichberg baulich
zu verdichten, aus diesen Kreisen.

Zweitwohnungenim Fokus


Der Stadtrat hält von all diesen freund-
nachbarlichenVorschlägen herzlich we-
nig.Man müssedort verdichten, wo es
die übergeordnete Planung vorsehe, wo
es ein dichtesÖV-Netz gebe und wo
Siedlungsstruktur und Denkmalschutz
dies überhaupt erlaubten. Beim Zürich-

bergtreffe all dies nicht zu:Vor allem
seier eher schlecht mit dem öffentlichen
Verkehr erschlossen, und dieFreiräume
seien vor allem private Gärten.
In der Richtplankarte sind neu auch
ökologischeVernetzungskorridoreauf-
gezeigt, die Bestimmungen zurWei-
terentwicklung der Gartenstadt wur-
denkonkretisiert und die Liste mit den
Quartierzentren ergänzt. Neu gibt es
auch Bestimmungen zumAnteil der
Zweitwohnungen: Regelmässig soll
diese Zahl künftig überprüft werden.
Sollten sich heikle Entwicklungen an-
bahnen, müssten die Behörden geeig-
nete Massnahmen ergreifen.
Zürich wachse auf jedenFall, sagte
Stadtpräsidentin Corine Mauch, auch
ohne Richtplanung. Die vorliegenden
Planungsinstrumentekönnten aber da-
für sorgen, dass diesesWachstum in einer
guten Qualitätvor sichgehe.

Die Überdeckungdes Seebahngrabensbeim Lochergut (links)könnte zusätzlichen Grün- undFreiraum schaffen. SELINA HABERLAND/NZZ

Die ETH plant


ein Zentrum für


Rehabilitation


Acht neue Professure n und ein
Masterst udiengang vorgesehen

NILS PFÄNDLER

Ein Unfall kann Menschen aus dem Le-
benreissen. Ein SturzvoneinemBau-
gerüst, eine unglückliche Sportverlet-
zung oder eine kurze Unachtsamkeit im
Strassenverkehr – und nichts ist mehr,
wie es vorher war.Viele Opfer erleiden
irreparable Schäden und sind mitunter
auf lebenslange Hilfe angewiesen.
DieETH Zürich möchte künftig mit-
helfen, die Lebensqualität und dieTeil-
habe von Menschen mitkörperlichen
Einschränkungen zu verbessern. Die
Hochschule hat am Mittwoch bekannt-
gegeben, gemeinsam mit Kliniken,Stif-
tungen und Behörden ein neuesKom-
petenzzentrum für eine ganzheitliche
Rehabilitation zu schaffen. Darin sollen
Forscherinnen aus unterschiedlichen
Disziplinen mitPatienten, Ärztinnen,
Behindertenorganisationen und Unter-
nehmen zusammenarbeiten.

Finanzierung teilweise gesichert


ETH-PräsidentJoël Mesot hob bei der
Präsentation des Projekts den Leit-
gedanken des neuen Kompetenz-
zentrums hervor: «DieReha-Initiative
stellt den Menschen ins Zentrum und
bezieht die Betroffenen von Beginn in
dieForschung ein.» An der Hochschule
sollen zu diesem Zweck bis zu acht neue
Professuren sowie ein neuerMaster-
studiengang in «Rehabilitation Science
andTechnology» geschaffen werden.
DieFinanzierung desKompetenz-
zentrums ist allerdingsnoch nicht ab-
schliessend gesichert.Vier der ange-
strebten acht Professuren werden von
zwei Stiftungen und derETH selbst ge-
tragen.Dabei handelt es sich um eine
Professur fürDatenwissenschaften für
personalisierte Gesundheit,eine im Be-
reich barrierefreie und inklusive Archi-
tektur, mobile Gesundheitssysteme so-
wie gesundes Altern.
Die Suche nachKooperationspartner
für die vier weiteren Professuren ist der-
zeit amLaufen. Diese sind zu denThemen
Behinderung und Gesundheitstechnolo-
gien in der Gesellschaft,Wundheilung,
Ökonomie von Gesundheitstechnolo-
gien sowie personalisierte Gesundheit
in derParaplegiologie geplant.
Angeregt hat die InitiativeRobert
Riener, Professor für sensomotorische
Systeme an derETH Zürich und der
UniversitätsklinikBalgrist. Sein Blick
auf dieRehabilitation von Menschen
mitkörperlichen Einschränkungen ver-
änderte sich mit dem Cybathlon 2016 –
einemWettkampf,beidemMenschen
mit Behinderungen alltägliche Auf -
gaben mittels modernster technischer
Assistenzsysteme lösen.

Hochschule setztauf Medizin


«Ich stellte fest, dass die tatsächlichen
Bedürfnisse der Menschen mit einer Be-
hinderung zu wenig in die Entwicklung
von unterstützendenTechnologien ein-
fliessen», sagt Riener. Umgekehrt wür-
den wichtige Ergebnisse aus derFor-
schung nicht in der Praxis ankommen.
Erst fundiertesWissen über dieWirkung
von Prävention,Therapie undTr aining
ermöglichten es,diese Bereiche zu ver-
bessern, ist derForscher überzeugt.
DieReha-Initiative folgt demTr end,
dass sich dieETH Zürich vermehrt auf
Bereiche der Medizin fokussiert. Heute
befassen sich bereits rund ein Drittel der
Professorinnen und Professoren in ver-
schiedenen Departementen direkt oder
indirekt mit der medizinischen For-
schung.Mit«T he Loop Zurich» soll in
denkommendenJahren in Zusammen-
arbeit mit der Universität undverschie-
denenKliniken zudem ein neues Zen-
trum für Präzisionsmedizin entstehen.
Vermehrt wird auch die Interdiszi-
plinarität und die Zusammenarbeit mit
anderen Institutionen gefördert. Joël
Mesot zeigte sich überzeugt, dass die-
ser Ansatz der richtige sei.«Die medi-
zinischen Behandlungen werden immer
komplexer. Deshalb sind verschiedene
Perspektiven nötig.»

Die Erwachsenenbildung entlässt 50 Angestellte


Die Weiterbildungsschule des Kantons Zürich steigt aus dem t raditionellen Kurswesen aus


LENA SCHENKEL


Die EB Zürich setzt zum Befreiungs-
schlagan: Wiedie Weiterbildungsschule
am Mittwoch mitgeteilt hat, steigt sie
per Herbst 2020 aus ihrem bisherigen
Kerngeschäft,dem traditionellenKurs-
wesen, aus. Stattdessen möchte sie sich
als «innovativer Nischenplayer» und
Partner in Bildungsaufgaben profilieren.
Dass sich die EBZürichneu aus-
richten muss, war schonlänger be-
kannt. Der kantonalen Bildungsinstitu-
tion hatte dieprivateKonkurrenz zu-
nehmend zugesetzt. Bei vielen Kursen
sind die Anmeldezahlen seit mehreren
Jahren rückläufig.
Seit zweiJahren muss sie zudem in-
folge einer Gesetzesänderung auch


als öffentliche Schule für einen Gross-
teil ihrerWeiterbildungskursekosten-
deckende Preise verlangen – aber wei-
terhin kantonale Löhne zahlen. Ein
schwieriges Marktumfeld, umkonkur-
renzfähig zu bleiben.

GeringqualifizierteimVisier


Nun widmet sich dieWeiterbildungs-
schule vier neuen Geschäftsfeldern:
Grundkompetenzen, berufliche Zu-
kunft, digitales Lernen sowie Berufs-
bildungsprofis. Bei den Grundkompe-
tenzen geht es etwa darum, Erwach-
senen Mathematik für den Alltag bei-
zubringen oder sie beim Lesen und
Schreiben zu unterstützen,um ihre
Arbeitsmarktchancen zu verbessern. Im
Bereich berufliche Zukunft will die EB
Zürich Berufswechsel und -abschlüsse
mit Umschulungen,Nachholbildungen
und Integrationsvorlehren ermöglichen.
Diese bietet sie entweder selbst an, oder
si e entwickelt sie mit.
Für das digitale Lernen baut die
Schule zusammen mit dem Kanton be-
ziehungsweise der Kantonalen Maturi-
tätsschule für Erwachsene einen Digi-
tal Learning Hub auf. Ersoll eine
Plattform schaffen, wo sich Lernende
gegenseitig austauschen und inspirie-
renkönnen. Schliesslich will die EB
Zürich weiterhin Berufsbildungsver-
antwortliche ausbilden und die Lern-

orte Arbeits- undAusbildungsplatz mit-
helfen zu vernetzen.
Die Neuausrichtungder kantonalen
Weiterbildungsschule erfolgt in Abstim-
mung mit der Zürcher Bildungsdirek-
tion beziehungsweise dem Mittelschul-
und Berufsbildungsamt (MBA). Offen-
bar haben hier diePersonalwechsel auf
der Chefetage für neuen Schwung ge-
sorgt:Verantwortlich zeichnen der seit
Anfang letztenJa hres tätige neue EB-
RektorSvenKohler und der Ende 20 17
ins MBA berufene Niklaus Schatzmann.
NachJahren der Ungewissheit mache
sich nun eine gewisseAufbruchsstim-
mung bemerkbar, heisst es intern.
DerAusstieg aus dem traditionellen
Kurswesen solllaut Mitteilung der EB
Zürich «in einem geordneten Prozess»
erfolgen. Er hat jedoch einen Stellen-
abbau zurFolge: Die Schule streicht per
31.Oktober 2020zirka 15 Vollzeitstellen.
Weil viele Mitarbeitende in Kleinpensen
angestelltsind, muss sie rund 50Perso-
nen entlassen. Betroffen sind zum einen
Verwaltungsangestellte, zum anderen
Dozentinnen und Dozenten. Ein Sozial-
plan sei inVorbereitung, heisst es weiter.
Er startete am Dienstagabend miteiner
ersten Information der betroffenen Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter.
Die GewerkschaftVPODhatte die
«Massenentlassung» bereits imVorfeld
der Medieninformation publik gemacht
und kritisierte in der entsprechenden

Mitteilung einen mangelnden politi-
schenWillen. Es sei gemässWeiterbil-
dungsgesetz durchaus möglich, Ange-
bote vomWettbewerb auszunehmen,
wenn ein öffentliches Interesse daran
bestehe. Nun aber werde die Erwachse-
nenbildung als öffentlicheAufgabe mit
fairen Arbeitsbedingungen fallengelas-
sen und der Logikdes freienWettbe-
werbs ausgesetzt.

Wiederanstellungenmöglich


Die Gewerkschaft hofft weiter, dass
«wenigstens dieFehler, die beim ver-
gangenen Sozialplan für Unmut sorg-
ten», nicht wiederholt würden. Bereits
imFrühling 20 18 baute die EB Zürich
24 Vollzeitstellen ab und kündigte 65
Kursleitern.Damals kam es offenbar zu
Fehlinformationen und ungenügenden
Regelungen punktoPensionskasse.
Die EB Zürich sagt dazu auf An-
frage, man habe aus denFehlern der
Vergangenheit gelernt und erachte den
Sozialplan als sehr grosszügig, auch bei
denPensionskassen.Aufgrund einer ge-
wissen Überalterung der Angestellten
lasse sich die Neuausrichtungrelativ so-
zialverträglich auch über natürliche Ab-
gänge undPensionierungen abwickeln.
DieWeiterbildungsschule hofft wei-
ter, einenTeil der entlassenen Dozen-
ten über die neuen Angebote wieder an-
stellen zukönnen.

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