Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 SPORT47


Der dritte Mann

Novak Djokovic bleibt auch al s domin ierender Tennisspieler der Gegenwart ein Aussenseiter – das treibt ihn an


DANIEL GERMANN, LONDON


Novak Djokovic hat nie ein Hehl dar-
aus gemacht, dass ihn nur interessiert,
das Beste, der Beste zu sein. Seit frühs-
terJugend wurde er von einem Ehrgeiz
getrieben, der fast schon krankhaft ist.
Er lechzte nach Siegen, er lechzte nach
Anerkennung.
Dann, auf dem Gipfel des Erfolgs,
stürzteer ins Leere.Von Selbstzwei-
feln geplagt,kehrte er nachKopaonik in
den serbischen Bergen zurück, wo seine
Karriere einst begonnen hatte. Djokovic
zeigte sich vor derWand, gegen die erdie
erstenTennisbälle geschlagen hatte und
die nun von Löchern übersät ist. In einer
Videosequenz sagt er sichtlich gerührt:
«Die Löcher in derWand stammen von
den Bomben. Es ist erschütternd. Ande-
rerseitsist es auch schön, zu sehen, dass
sie trotzdem weiterhin steht.»
Kopaonik liegt an der serbisch-koso-
varischen Grenze.Während des Krieges
deckten die Nato-Truppen die Gegend
drei Monate lang mit einem Bomben-
teppich zu. Die Narben sind bis heute
nicht verheilt. Nicht auf demTennis-
platz, auf dem Djokovic die erstenBälle
schlug, und schon gar nicht in seiner
Seele. Djokovic schreitet über den Platz,
filmt die Tr ostlosigkeit mit der Handy-
kamera.Vor einer Hütte,die nur noch
halbwegs steht, hält er an. «Hier hatten
wir eine kleine Lounge,auf der wir uns
ausgeruht, bei der wirFeuer gemacht
haben.»Dann wechselt er vom Engli-
schen in die serbische Sprache.


Zwei Gesichter


Wer wissen will, wer Djokovic ist, was
ihnantreibt und weshalb ihmder Er-
folg noch eine Spur wichtiger ist als all
seinenKonkurrenten, der muss dieses
Video sehen. In ihm verdichtet sich die
Essenz seiner Existenz. Djokovic spielt
nicht nur für sich. Er spielt für Serbien.
Das macht ihn in seinemLand zum Hel-
den und imRest derWelt zumAussen-
seiter. Kaum ein anderer Spieler auf der
Tennis-Tour hat zwei so verschiedene
Gesichter wie er. Neben dem Platz kann
Djokovic der charmanteste Mensch sein.
Doch auf dem Platz wird er zum Krie-
ger. Diesen erbarmungslosen, unerbitt-
lichenTeil seinesWesenssymbolisierte
die Szene amAustralian Open 2012,
als erRafael Nadal im längsten Grand-
Slam-Final der Geschichte nach 5:53
Stunden niedergerungen hatte und den
Sieg feierte, indem er sich sein Shirt vor
der Brust zerriss.


Novak Djokovic ist der besteTen-
nisspieler des Moments. Keiner hat in
diesemJahrzehnt mehr grosseTurniere
gewonnen als er.Inden 2010erJahren
holte er 15 seiner 16 Major-Titel und 29
seiner 34 Masters-10 00 -Titel. Er siegte
zwischen 20 12 und 20 15 viermal inFolge
an denATP-Finals. Nach dem ersten
Tr iumph inWimbledon 2011 wurde er
erstmals die Nummer1. Seither hat er
dasRanking während 275Wochen an-
geführt. Sollte Djokovic Nadal diese
Woche in London noch abfangen, würde
er dasJahr zum sechsten Mal als bester
Spieler der Saison abschliessen und da-
mit denRekorddes AmerikanersPete
Sampras egalisieren.
Das ist die Statistik einesAusnahme-
spielers. Dabei ist Novak Djokovic erst
32 Jahre alt. Nach dem Sieg imJuli in
Wimbledon liess erkeine Zweifel daran,
dasserFederersRekorde von 20 Major-
Titeln und von 310Wochen an derWelt-
ranglistenspitze angreifen will. Bleibter
einigermassen gesund, ist es möglich,
nein sogarwahrscheinlich,dass ihm das
gelingen wird.

Und doch:Wenn es um die Gunst
der Zuschauer geht, bleibt er der
dritte Mann. Djokovic steht nicht nur
im Schatten vonRogerFederer, son-
dern auch vonRafael Nadal. Und dar-
unter leidet nicht nur er, sondern die
ganzeFamilie. Die Mutter Dijana sagte
vor kurzem in einem Interview mit der
indischenAusgabe des Magazins «GQ»,
di eAnhänger kämen nicht damit klar,
dass ihr Sohn heute erfolgreicher sei
alsFederer und Nadal.«DasPublikum
respektiert zwar Novaks Erfolg.Aber
sobald er gegenFederer spielt,jubeln
dieFans diesem zu.»
Das wird auch am Donnerstag so
sein, wenn Djokovic an denATP-Finals
gegenFederer um den Platz im Halb-
final spielt.Das Publikum wird nicht
verhehlen, wem seineSympathien ge-
hören. Es wird möglicherweise die
Grenzen derFairness ritzen.Vielleicht
wi rdes sie auch überschreiten wie am
US-Open-Final 20 15, als Djokovic nicht
nurFederer, sondern auch 90 Prozent
der Zuschauer gegen sich hatte.

Rückkehr nach Kopaonik


Djokovic pflegt in solchen Momenten in
sich selber abzutauchen.Innerlichkehrt
er dann zu denTr ümmern seinerJugend
nachKopaonik zurück. Die Löcher in
derTenniswand werden zu Rissen in
seiner Seele und machen ihn zum Krie-
ger, der nicht einmal, sondern zweimal,
dreimal oder vielleicht sogar viermal ge-
schlagen werden muss, ehe er wirklich
amBoden liegt.
Federer weiss, wie schwer es dann
wird,gegen Novak Djokovic zu gewin-
nen. Die Liste ihrer bisher 48 Begeg-
nungen ist voller kleinerer und grösse-
rer Dramen, die meist mit Siegen von
Djokovic endeten. 2010 und 2011 ver-
lorFederer am US Open zweimal nach-
einander im Halbfinal nach zwei ver-
gebenen Matchbällen. Er verlor 2014 in
Wimbledon, 20 15 in Wimbledon und am
US Open drei Grand-Slam-Finals. Und
diesen Sommer gipfelte die Rivalität
imWimbledon-Final, denFederer nach
zwei Matchbällen nochverlor.
Das Publikum hatte sichFederer
als Sieger gewünscht. Es hatte ihn an-
getrieben bis zum letztenBallwechsel.
Djokovic hatte später gesagt, er habe
dieRoger-Roger-Rufe in seinemKopf
in Novak-Novak-Rufe umgedeutet. So
denkt einer, der auf einer Mission ist.
Sie ist noch nicht beendet. Novak Djo-
kovic kämpft weiter. Für sich, fürKo-
paonik.

Kaum ein andererSpieler auf derTennis-Tour hat zwei so verschiedene Gesichter wie Novak Djokovic. ALASTAIR GRANT/AP

Mit Karacho auf die nächste Wand


Im Schweizer Eishockey werden erneut Salärexzesse und die Ausl änderbeschränkung diskutiert


NICOLA BERGER


Vor einemJahr kam es an derVersamm-
lung der National League zur Abstim-
mung über ein währendMonatenkon-
trovers diskutiertesThema: dieAufsto-
ckung desAusländerkontingents von vier
auf sechs Spieler. DasVotum geriet zur
Farce; von derTagung in Solothurn bleibt
in Erinnerung, dass sich der Initiant
Genf/Servette mit der Episode unsterb-
lich machte, am Ende gegen die eigene
Resolution zu stimmen – das Manage-
ment um Chris McSorley war vomVer-
waltungsrat zurückgepfiffen worden.
Über dieReform war deshalb dis-
kutiert worden,weil sich die Salärspi-
rale im SchweizerEishockey unabläs-
sig dreht.Das Problem ist altbekannt:
Es gibt zu wenige Spieler für zu viele
Kaderplätze.Als logischeKonsequenz
explodieren die Preise, es ist das simple
Gesetz von Angebot und Nachfrage.
Die Befürworter der Erhöhung hatten
argumentiert, dass eine Erweiterung
desAusländerkontingentes dem Markt
die Überhitzung nehmen würde, weil
es mehr Alternativen zu den sündhaft
teuren Spielerngäbe. Doch die Motion
fandkeine Mehrheit, die Gegner berie-


fen sich auf dieJuniorenförderung; es
herrschteKonsens darüber, dass es das
falsche Signal für das Schweizer Eis-
hockey wäre. AmEnde waren imJa-La-
ger nur noch der SC Bern, derLausanne
HC und derHCDavos übrig.

Die Causa Andersson


Es ist nicht klar, obsich an den Kräfte-
verhältnissen seither etwas geändert hat,
sicher aber sind die Probleme geblieben.
ImFall des mit Schweizer Lizenz spie-
lenden schwedischenVerteidigers Calle
Andersson vom SC Bern geistert die
phänomenale Zahl von 80 0000 Fran-
ken Jahressalär durch die Medien.Das
ist eine irrsinnige Summe,die in der
Branche eifrig diskutiert wird. Anders-
son wird sich zwischen Bern und den
ZSC Lions entscheiden, in den nächs-
tenTagen soll Klarheit herrschen.Inter-
essanterweise sind es Exponenten die-
ser Klubs, die den Betrag vehement be-
streiten. Manager anderer ursprünglich
interessierterVereine bestätigen ihn.
Sollte er sich bewahrheiten, würde das
eine neue Dimension bedeuten.
Andersson ist fraglos ein erstklas-
si gerVerteidiger,seineVerpflichtung

würde jedem Kader der Liga gut anste-
hen. Aber der 25-Jährige istkein inter-
nationaler Star, seineLänderspielerfah-
rung für Schweden beschränkt sich auf
sechs Spiele. Seit der U-18-WM 2012 ist
er nie mehr fürTitelkämpfe nominiert
worden. Es geht nicht darum, Anders-
sons Meriten kleinzureden, er gehört zu
den besten Defensivkräften derLiga.
Nur hat man Spieler seines Kalibers bis-
her nicht in dieser Grössenordnung be-
zahlt. Er ist nicht das einzige Beispiel:
Die Preise steigen unentwegt, quer
über allePositionen und Altersklassen
hinweg.Weshalb die Diskussionen aus
demVorjahr abermals geführt werden,
wenn bisher auch nur intern und in Hin-
terzimmern – und nicht offiziell,etwa an
der Nationalligaversammlung von die-
serWoche.

Martin Steinegger ist der Sportchef
des EHC Biel, eines Klubs,der 20 18
Nein stimmte.Wer ihn heute fragt, wie
sich der Markt in den 365Tagen seit der
Abstimmung entwickelt hat, erhält zur
Antwort: «Gut für die Spieler, schlecht
für die Klubs.» Und dann sagt er: «In
meinerWahrnehmung bewegen wir
uns in ziemlich hohemTempo auf eine
Wand zu.Vielleicht muss erst einVer-
einKonkurs anmelden, bevor ein Um-
denken stattfindet.» Bedeutet das, der
EHC Biel würde heute anders abstim-
men? Steinegger sagt, dazukönne er
nichts sagen, man führeinterne Gesprä-
che,nur so viel: «Rein persönlich bin ich
inzwischen am Punkt, an dem ich sagen
muss,dass ich mir eine totaleÖffnung
vorstellen kann.So wie bis jetzt kann es
nicht weitergehen, irgendwann explo-
diert das Gebilde.»

Lüthis Lobbyismus


Es sindVoten ganz nach dem Gusto von
MarcLüthi, dem CEO desSC Bern und
Mann, der vor einemJahr am fleissigs-
ten für eine Erhöhung auf sechsAus-
länder lobbyierte. Er sagt: «Es bringt
nichts, nun wieder eine öffentliche Dis-

kussion zu führen. Aber das Anliegen
ist nicht vomTisch. Die Lohnentwick-
lung hat inzwischen komischeAus-
masse angenommen.»
In diesem Punkt herrscht in der
LigaKonsens.Aber in der wildenTi-
telhatz und der derzeitigen Marktsitua-
tion findetsichimmer wieder ein Klub,
der seineVorsätze und Schmerzgren-
zen vergisst.Wobei es auch erstaunt,
wie sehr es gerade jenen Klubs an Mut
fehlt, die sichFarmteams zurAusbildung
ihrer Nachwuchsspieler leisten.DieZSC
Lions haben kürzlich dieVerpflichtung
des Zuger JohannMorantbekannt-
gegeben, der EV Zug verpflichtete den
Langnauer Claudio Cadenau. Beide sind
mehr als 30Jahre alt, bei beiden fragt
man sich, ob es für sie tatsächlichkeine
Alternative aus der eigenen Talent-
schmiede gäbe. Die beidenTitelkandi-
daten haben dieseFrage mit Nein be-
antwortet – und damit das Angebot auf
demTr ansfermarkt weiter verknappt.
Es braucht nicht viel Phantasie, um
sich vorzustellen, dass SteineggersVision
irgendwann Wirklichkeit wird; dass
irgendein Klub dieRechnung für die
allgemeinenTr ansferexzesse bezahlen
muss. DieFrage ist nur, wer – und wann.

Calle Andersson
Verteidiger
PD SC Bern

Roger Federer unter Druck


gen.· Rafael Nadal und Novak Djoko-
vic liefern sich an denATP-Finals in Lon-
don einen Kampf um dieWeltranglisten-
spitze.Vor dem letztenTurnier desJahres
betrug derVorsprung des Spaniers 640
Punkte.Will Djokovic ihn noch abfangen
und die Saison zum sechsten Mal nach
2011, 2012, 2014,2015 und 20 18 als Num-
mer1 abschliessen, muss er dasTurnier
gewinnen. Gleichzeitig darf Nadal nicht
weiter als in die Halbfinalskommen.
Nadal verbesserte seineAusgangslage
am Mittwoch mit einem kaum mehr er-
warteten Comeback gegenDaniil Med-
wedew. DerRusse führte im Entschei-
dungssatz 5:1 und kam zum ersten Match-
ball, ehe seine Nerven zu zittern began-
nen und Nadal Game für Game aufholte.
Medwedew haderte mit sich. Immer wie-
der ging sein Blick zu den Betreuern, die
machtlos zusehen mussten, wie der klare
Vorsprung schmolz. Am Ende gewann
Nadal6:7, 6:3,7:6. EineKombination aus

Glück,Fehlern von Medwedew und eige-
nen guten Momenten hätten das Come-
back möglich gemacht, sagte Nadal. «Es
war ganz sicher nicht das beste Spiel mei-
ner Karriere. Aber ich habe mich imVer-
gleich zum ersten Match gesteigert.» Die
Bauchmuskelzerrung, die seinen Start in
London fraglich gemacht hatte, behin-
dert ihn nicht mehr.
Nadal wirdamFreitaggegen Stefanos
Tsitsipas umeinen Halbfinalplatz kämp-
fen. Auf RogerFederer wartet der Show-
down bereits am Donnerstag gegen Djo-
kovic (21 Uhr).Will er bei der17.Teil-
nahme amFinalturnier zum16.Mal die
Halbfinals erreichen, muss er sich stei-
gern. Seit vierJahren hatFederer gegen
Djokovic nicht mehr gewonnen.Von den
acht qualifizierten Spielern in London
hat er seit dem Sommer am wenigsten
Punkte gesammelt. Der Erfolgreichste
warMedwedew, dem nun aber die Ener-
gie auszugehen scheint.
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