Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

10 MEINUNG & DEBATTE Mittwoch, 6. November 2019


FEDERICO BORELLA

FOTO-TABLEAU

Haie – verhasst


und begehrt 3/


Die meistenFischarten vermehren sich schnell.
Oft erreichen sie schon binnen einesJahres
die Geschlechtsreife und produzieren dann
stattliche Mengen anLaich. Bei den Haien aber
dauertes mindestens zehn und manchmal bis
zu dreissigJahre, bis sie geschlechtsreif sind,
und dieReproduktionsrate ist gering – manche
Arten bringen nur alle zweiJa hre eine geringe
ZahlJunge hervor. Sokönnen diePopulationen
auf dieDauer dem Druck durch Überfischung
nicht standhalten. Diese aus erlegtenWeibchen
geschnittenenFöten – viele Haifischarten sind
lebendgebärend – hatFederico Borella auf
einem indonesischenFischmarkt entdeckt. Der
italienischeFotograf will mit seinerReportage
auf die Gefahr hinweisen, welche die Dezimie-
rung der Haifische darstellt:«Ein massiver
Schwund der Haifischpopulation», schreibt er,
«zöge dasAussterben vieler kleinerer Spezies
nach sich, und das wiederum hätte drastische
Auswirkungen auf die Menschheit.» Die Haie
stehen im empfindlichen maritimen Ökosystem
weit oben in der Nahrungskette. Nimmt ihre
Zahl zu stark ab, dannkönnen dieFischarten,
von denensie sichernährt haben, sich
kurzfristig so sehr vermehren, dass sie ihre
eigenen Nahrungsbestände überstrapazieren
und infolge desFuttermangels aussterben;
dannwiederholt sich dasselbeauf der
nächsttieferen Stufe.

Für eine handlungsfähige


Demokratie


Gastkommentar
von MANFRED WEBER

Europa ist eine enorme Erfolgsgeschichte wie
auch ein unvergleichbarer Sehnsuchtsort.Kein
andererKontinent verbindeteine freiheitlich-
demokratische Lebensweise mit sozialenRech-
ten und wirtschaftlichenAufstiegschancen, wie
Europa dies tut. Nicht nur wurdenTodfeinde zu
friedlichen Nachbarn und Diktaturen zu Demo-
kratien, sondern Europa schuf auch einen bis da-
hin nie da gewesenenWohlstand. MillionenTote
auf Soldatenfriedhöfen und in Massengräbern,
aber auch rund sechzig Millionen Europäer, die
im19. und in der ersten Hälfte des 20.Jahrhun-
derts Europa denRücken gekehrt haben,um in
anderenTeilen derWelt ihr Glück zu suchen, zei-
gen: Das heutige Europa istkein Naturzustand,
sondern das Ergebnis harter Arbeit und eines fes-
ten politischenWillens, zusammenzustehen.
Europa war nie einreines Elitenprojekt. Keine
Hinterzimmerdiplomatie, sondern die Menschen
auf der Strasse stiessen die friedlicheRevolution
vor dreissigJahren an.KeineFinanzhaie, sondern
die Arbeiter,Ingenieureund Unternehmer schu-
fen EuropasWohlstand.Das heutige Europa ist
der Ertrag seinerBürgerinnen und Bürger. Ihrem
Einsatz, ihremKönnen und ihrem Gemein-
schaftsgeist ist die Erfolgsgeschichte Europas zu
verdanken.
Unser Lebensmodell, unser «European way
of life»,stehtin denkommendenJahren auf der
Kippe.Weder private Internetgiganten noch
Staatswirtschaften undAutokratien wie China
undRussland werden die richtigeBalance zwi-
schenFreiheit und Sicherheit,Wohlstand und
Fairness,Toleranz und Ordnung für uns sichern.
Das müssen wir Europäer schon selber leisten.
DieseJahrhundertaufgabe kann aber nicht als fer-
nes Elitenprojekt funktionieren,sondern die Bür-
ger müssen wissen, dass sie ihr Schicksal in die
eigene Hand nehmen müssen.
Die Bewahrung unseres europäischen Lebens-
stils wird nur gelingen, wenn sich Europa zu einer
wirklichen parlamentarischen, handlungsfähigen
Demokratie weiterentwickelt. Europas Bürgerin-
nen und Bürger müssen das entscheidendeWort
haben, wer ihrenKontinentregiert und welche
Zukunftsentscheidungen in ihrem Namen umge-
setzt werden.
Die parlamentarische Demokratie entstand
nicht nur in Europa, sondern sie ist heute nahezu
überall auf unseremKontinent gelebteRegie-
rungspraxis: warum nicht auch endlich auf euro-
päischer Ebene? Bis 2024 sollten wir die Grund-

sätze der parlamentarischen Demokratie im
EU-Entscheidungsprozess fest verankert haben,
beispielsweise,indem der Spitzenkandidaten-
Prozess verbindlich festgeschrieben wird, damit
dieWählerinnen undWähler bestimmen, wer die
EuropäischeKommission anführt und mit wel-
chem Programm.
Dieser demokratische Legitimationsschub
würde die Grundlagen schaffen, um Europas der-
zeitige Sprachlosigkeiten zu beenden.Das fängt
bei derAussenpolitikan, bei der das Einstimmig-
keitsprinzip abgeschafft werden muss, da es von
Tsipras bis Orban allzu oft dazu benutzt wurde,
Europa in derWelt den Mund zu verbieten.
Auch muss Europa mit mehr Elan sprechen,
um eine fairereWeltwirtschaftsordnung mit ambi-
tionierten Handelsverträgen zu schaffen, dasPari-
ser Klimaabkommen weltweit verbindlich fortzu-
schreiben und in Europa eine wirkliche Sicher-
heitsunion aufzubauen, dieTerroristen die Stirn
bietet und sich neuen digitalen Gefahren wir-
kungsvoll entgegenstellt.
Gleichzeitig müssen wir Europäer auch wieder
mehr miteinander sprechen. Die in den vergan-
genenJahren eingetretene partielle Sprachlosig-
keit zwischen Süd und Nord, aber vor allem auch
zwischenWest und Ost, ist langfristig Gift für den
europäischen Zusammenhalt. Nur gemeinsame,
europaweite Debatten über die Zukunft unse-
res Kontinents werden das gegenseitige Miss-
trauen überwinden und das allzu häufige politi-
sche Schwarzpeterspiel durch einenWettstreit
um die besten Ideen ersetzen.Dafür brauchen
wir europaweiteWahlkämpfe, bei denen über die
wirklich entscheidendenFragen gesprochen, ge-
rungen und letztlich entschieden wird.
DurchsetzungsstarkePolitik verliert sich weder
in Sonntagsreden, noch heischt sie kurzfristig Bei-
fall, sondern sie stellt sich mit klaren alternati-
venPolitikangeboten denWählerinnen undWäh-
lern. Nur wenn die Menschen wirklich das Sagen
haben, wird denPopulisten der Boden unter den
Füssen weggezogen.
Lasst die Bürgerinnen und Bürger einfach
selbst entscheiden, wie sie miteinem starken
demokratischenFundament ihr Haus von Europa
bauen wollen. MeinTr aum von Europa ist ein
demokratisches Europa.

Manfred WeberistdeutscherPolitiker, Vorsitzenderder
Fraktionder EuropäischenVolkspartei (Christlichdemokra-
ten) imEuropäischenParlament und stellvertretenderPar-
teivorsitzenderder CSU.Der BeitragentstandimRahmen
des NZZ-PodiumsBrüssel vom1. 10.2019zumThema
«DereuropäischeTraum».

Europas Traum


und Trauma


Gastkommentar
von ROBERT HABECK


Europa kam durch Gewalt nach Europa. Und
sie war eineFremde. Zeus entführte die phöni-
zische Prinzessin, indem er sich als Stierausgab,
und brachte sie nach Kreta. Dort zeugte er mit
ihr drei Kinder. Heute würde man wohl von einer
Vergewaltigung sprechen. Und die Mutter der ers-
ten Kinder auf europäischem Boden kam aus der
Gegend, wo heuteSyrien, Libanon oderIsrael lie-
gen. Man sollte das nicht als Sage abtun. In die-
sem ältestenWissen stecktWeisheit. Europa baut
aufFremden auf. So wie für uns Heutige die kre-
tische Europa Antike ist, war für die damaligen
Menschen derVordere Orient, Phönizien, Ägyp-
ten,Persien Antike. Immer gab es Einflüsse von
früher, nie war das Eigene ureigen.
Europa durchlebte verschiedene Stationen.War
inTeilenKaiserreich undKolonialmacht. Aber
immer blieb ihm die Spur von Gewalt eingeschrie-
ben. Und immer wurde derTr aum von Europa zu
einem Albtraum, wenn man das Unheil nichtrecht-
zeitig erkannte. Dasunterscheidet Europa vonden


USA, wo Martin Luther King «I have a dream» sa-
genkonnte und damit meinte,dass dasVerspre-
chen der amerikanischenVerfassung auch für
Afroamerikaner gelten sollte.Auch ich wünsche
mir eine europäischeVerfassung und dass unser
vernarbter, geschundenerKontinent weiter zusam-
menwächst und ganz eins wird. Aberandersals in
den USA muss EuropasTr aum seinesTr aumas ein-
gedenk bleiben. Es hat eine andere Geschichte, es
hat zu oft vergessen, dass es eine Geschichtehat.
Walter Benjamin hat über ein Bild vonPaul
Kleeeinmalgeschrieben:«Es gibt ein Bild von
Klee, das ‹Angelus Novus› heisst. Ein Engel ist dar-
auf dargestellt, der aussieht, als wäreerimBegriff,
sichvonetwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine
Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und
seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Ge-
schichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der


Vergangenheit zugewendet.Woeine Kette von
Begebenheiten vorunserscheint, da siehtereine
einzige Katastrophe, die unablässigTr ümmer auf
Tr ümmer häuft und sie ihm vor dieFüsseschleu-
dert. Er möchte wohl verweilen, dieToten wecken
und das Zerschlagene zusammenfügen.Aber ein
Sturm weht vomParadieseher, der sich in seinen
Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der
Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm
treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft,derer den
Rückenkehrt, während derTr ümmerhaufen vor
ihm zum Himmel wächst.Das, was wir denFort-
schrittnennen,istdieserSturm.»
Mit demRücken voran in die Zukunft schrei-
ten heisst nicht, selbstvergessen und frohgemut
nach vorne zu marschieren, sondern sich immer
wieder dessen zu vergewissern, was man hinter
sich gelassen hat.Konkret heisst das für Europa,
dass wir uns daran erinnern, dass derFrieden
unserer Zeitauf unseremKontinent einVerspre-
chen ist,keine Selbstverständlichkeit.Dass für ihn
immer und immer wieder neu gearbeitet werden
muss.Dass Nationalismus und nationaler Chau-
vinismus diesemKontinent und seinen Menschen
stets Unglück brachten und wir daran arbeiten
sollten, dass die Staaten Europas nicht inKon-
kurrenz zueinander, sondern in Solidarität mitei-
nander leben und wirtschaften.
Wir sollten die Europäische Union zu einer
sozialen Union machen, unsereWährung so stabil
gestalten,dass sie krisenfest ist, ja dass wir durch
sie weltpolitikfähig werdenkönnen.Das bedeutet
aber auch, weitereRechte nach Europa zu geben.
Und das wiederum bedeutet, Europa zu einer ech-
ten föderalenRepublik zu machen, mit Mehrheits-
entscheidungen imRat, mit einem Initiativrecht des
Parlaments, mit einer gemeinsamenAussenpolitik.
Und Europa sollte seine Handelsbeziehungen so
ausbauen, dass dieWertschöpfung den Menschen
dient, nicht der Kapitalvermehrung als Selbstzweck.
Umwelt- und Sozialstandards sollten hoch,
überprüfbar und einklagbar sein.Undschliesslich:
Erinnern wir uns daran, woher wirkommen. Und
helfenwirden Menschen, die heute imLandstrich
unserer Herkunft vor Krieg und Gewalt fliehen.
Oft auf griechische Inseln.Das sagt uns unsere Le-
gende, das lehrt unsunser Engel der Geschichte,
der vonFrieden träumen will, aber gelernt hat,
dass er dieAugen nicht schliessen darf. Undver-
schliessen schon gar nicht.

Robert Habeckistdeutscher Politiker und seit 2018Bun-
desvorsitzendervon Bündnis 90 /DieGrünen. Der Bei-
tragentstandimRahmendes NZZ-Podiums Brüssel vom


  1. 10.2019 zumThema «Dereuropäische Traum».


Europa – ein globaler Leuchttu rm für Demokratie, Wohlstand und Menschenrechte?


Europa muss sich stets


daran erinnern, dass der


Frieden auf dem Kontinent


ein Versprechen ist, keine


Selbstverständlichkeit.

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