Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Mittwoch, 6. November 2019


Muslime sind ein Problem. DieseAuffassung ist in
unserer Gesellschaft verbreitet. BesondereAuf-
merksamkeit erhielten in den letztenJahrenradi-
kalisierte, vorwiegend junge Männer undFrauen,
die einen Hass auf allesWestliche entwickelt hatten
und im Extremfall auch vor Gewalt nicht zurück-
schreckten – die «Gefährder». Doch mit dem Nie-
dergang des sogenannten Islamischen Staates und
dem damit verbundenen Ende von Jihad-Reisen
sowie demAbflauen derTerrorwelle inWesteuropa
gerät dasThema vorerst aus demFokus. Stattdes-
sen drängt ein anderes Bild wiederin denVorder-
grund: das des frauenverachtenden und homopho-
ben Muslims.
An Beispielen mangelt es nicht.Das Bundes-
gericht hatkürzlich dieAusweisung eines inSt.Gal-
len tätigenkosovarischen Imams verfügt, weil er
seine Gattinverprügelt und vergewaltigthat. Im
Sommer riet ein irakischerPrediger den Besuchern
des Freitagsgebets in Kriens, ihre Frauen durch Sex-
entzug oder«le ichte Schläge» zu disziplinieren.Sol-
cheAusfälle überraschen wenig, zumal einige der in
der Schweiz tätigen Imame an salafistischen Uni-
versitäten in Saudiarabien studiert haben.
Grosses Echo fand in diesem Herbst zudem
eine Befragung der Zürcher Hochschule für An-
gewandteWissenschaften (ZHAW) bei17- und
18-Jährigen.Laut dieser sind fast 20 Prozent der
jungen Muslime der Meinung, dass der Mann das
Oberhaupt derFamilie sei und sich notfalls mit
Gewalt durchsetzen dürfe. Und dass der Gatte die
Ehefrau schlagen dürfe, wenn sie ihn betrüge.
Da drückt sich ein aggressives Dominanzge-
baren aus, das laut der Soziologie im Zusammen-
hang steht mit einer «toxischen Männlichkeit». Die
Machoattitüde kann Gewalt legitimieren gegen-
über jenen, die als minderwertig betrachtet wer-
den: Frauen, aber auch Homosexuellen. Die Er-
kenntnisse der Studiesind erschreckend. Offenbar
wachsen in diesemLand Tausende junger Männer
auf, die für die Errungenschaften der Emanzipation
nur Verachtung übrig haben.Wo es so viele poten-
zielleTäter gibt, gibt es zahlreiche potenzielle Op-
fer – insbesondere muslimischeFrauen.


Frauenfeindliche Religionen


So wichtig die Debatte auch ist: Plakative Begriffe
wie «toxische Männlichkeit»können zu einerPau-
schalisierung führen.Wer alle Angehörigen einer
Bevölkerungsgruppe in einenTopf wirft, wird dem
Einzelnen nie gerecht. Es ist ein zentraler Pfeiler
einer offenen Gesellschaft, dass das Individuum
nur für sein eigenesVerhalten in der Pflicht steht.
Weder juristisch noch moralisch darf es eine Sip-
penhaftung geben.
Schwarz-Weiss-Malerei bringt den politischen
Diskurs nicht voran.Weder droht eine Islamisie-
rung des Abendlandes, noch sind alle Muslime
Unterdrückte,die es gegen jegliche Kritik abzu-
schirmen gilt.Die rund 200000muslimischen Män-
ner hierzulande sind eine heterogene Gruppe. Ihre
Weltbilder sind nicht nur durch ihren Glauben ge-
prägt, sondern auch durch die Herkunft aus völlig
unterschiedlichenLändern,dasAusbildungsniveau


und die soziale Stellung. Ein Arzt aus Bosnien hat
mit einem anatolischenBauarbeiter wenig gemein
ausser dem Etikett «Muslim».
Kaum mit unseremWertesystem zu vereinbaren
sind patriarchale Einstellungen, die manche isla-
mische Immigranten aus ihrem Heimatland mit-
bringen und die auch in der zweiten und der drit-
ten Diasporageneration nicht einfach verschwin-
den. DieReligion istTeil dieser kulturellen Prä-
gung. Dass Frauen in Saudiarabien oder in Iraneine
untergeordnete Stellung haben, liegt jedoch nicht
daran,dass der Islam prinzipiell misogyner wäre als
die anderen abrahamitischenReligionen.Das ist er
nicht.Vielmehr liegt das Übel unter anderem darin,
dass der Glaubein diesen Regionen bis anhin eine
dominierende Stellung bewahrt hat, die er inWest-
europa schon längst verloren hat.
Die Faustregel ist:Je weiter sich eine Gesell-
schaft säkularisiert und sich damit von überhol-
ten Vorstellungen löst, umso freierkönnenFrauen
und jene, die nicht der sexuellen Norm entspre-
chen, leben. Abgeschlossen ist dieser Prozess auch
im christlich geprägten Okzident nicht. Nur noch
wenigen Menschen ist die Bibel die Richtschnur
für denAlltag, dennoch entfaltenPassagen wie jene
aus dem Briefdes Paulus an die Epheser weiterhin
Wirkung: «Aber wie nun die Gemeinde sich Chris-
tus unterordnet, so sollen sich auch dieFrauen
ihren Männern unterord nen in allen Dingen.»
So hebt zwar die katholische Kirche dieJung-
frau Maria auf einPodest, diskriminiert aber ihre
weiblichen Mitglieder und verwehrt ihnen den Zu-
gang zum Priesteramt. Frauenfeindliche Haltungen
sind nicht nur bei Muslimen überproportional vor-
handen, sondern auch beijungen Katholiken, wie
die ZHAW-Studie zeigt.Wenn 7Prozent von ihnen
innerfamiliäre Gewalt in Ordnung finden,ist das in
absoluten Zahlen ein gravierendes Problem – denn
es leben hierzulande rund fünfmal so viele Katho-
liken wie Muslime.
Auch Homophobie istkeine islamische Exklusi-
vität.Es gi bt zwar immer wiederBerichte darüber,
dass Männer mit Migrationshintergrund für Atta-
cken auf Schwule und Lesben verantwortlich sind.
Doch Einheimische pöbeln ebenfalls kräftig mit.
Neben physischer gibt es zudem psychische Gewalt.
Nichts anderes ist der Druck, den Freikirchen ver-
einzelt aufJugendliche ausüben, die sich zum glei-
chen Geschlecht hingezogen fühlen – und die sich
von ihrer sexuellen Orientierung heilen lassen sol-
len. Bezeichnend für eine zumindest subkutan vor-
handene Homosexuellenfeindlichkeit ist weiter der
Fall Lenzburg: Eine Spielgruppenleiterin wies zwei
kleine Buben ab, weil diese zweiVäter haben.
Eine biblischeWeisheit lautet: «Du siehst den
Splitter in deines BrudersAuge und nicht denBal-
kenindeinem eigenen.» Beherzigen sollten diese
Worte die selbsternanntenVerteidiger des christ-
lichen Abendlandes, die konservativen Islamkriti-
ker. Denn in mancher Hinsicht ähneln ihreVorstel-
lungen vom «richtigen»Verhältnis von Mann und
Frau jenen muslimischerFundamentalisten. Noch
in den1980erJahren bekämpfteSVP-Vordenker
Christoph Blocher die damaligeRevision des Ehe-
rechts , welche die gesetzliche Unterordnung der
GattinunterihrenMannbeendete.2003wehrtesich

die Partei ebenso erfolglos dagegen, dass dieVer-
gewaltigung in der Ehe zum Offizialdelikt wurde.
Es ist also nicht angebracht, allen muslimi-
schen Männern undifferenziert problematische
Werte vorzuhalten, die auch sonst in der Gesell-
schaft verbreitetsind. Mehr Sinnergibt es, genau
hinzuschauen, wo dieWurzeln eines gefährlichen
Machismo liegen.Wer die eigene Männlichkeit be-
tonen mussund gleichzeitig allesWeibliche und
«Unmännliche» herabsetzt,tut dies selten aus einer
Position der Stärke heraus. «Auch eine sozial-struk-
turell schlechtereLage führt zu höherer Zustim-
mung zu gewaltaffinen Männlichkeitsnormen», so
formulieren es die ZHAW-Forscher.
Der deutsche Erziehungswissenschafter Ahmet
Toprak schreibt in Bezug auf den arabisch- und tür-
kischstämmigen Nachwuchs in Deutschland:«Viele
dieserJugendlichen wachsen,vor dem Hintergrund
ihrer häufig ländlichen und Unterschichten-Her-
kunft, in autoritärenFamilienstrukturen auf, in
denen Gehorsam, Unterordnung und nicht selten
auch Gewalt denAlltag dominieren.Daher bringen
sie eine deutlich geringere Affinität zu Selbstän-
digkeit mit.» Dies, so TopraksThese, führe dazu,
dass sich dieseJungen schwertäten mit dem Schul-
system, das stark auf selbständiges Arbeiten setze


  • und dass sie entsprechend später weniger Chan-
    cen auf demJobmarkt hätten. Der demonstrative
    Machismo ist entsprechend eine Überkompensa-
    tion für beruflichesVersagen undAussenseitertum.


Die Schlüsselrolle der Imame


Diese Diagnose dürfte auch auf jene Minderheit
der hiesigen Muslime zutreffen, die frauenverach-
tendes und homophobes Gedankengut hegen.Das
wirksamste Gegenmittel ist eine gute Inklusion in
den Arbeitsmarkt mitAussichten auf den sozialen
Aufstieg. Das gelingt der Schweiz im internatio-
nalenVergleich bis jetztrelativ gut, gerade dank
dem dualen Bildungssystem.Wenn eine Stigmati-
sier ung junger Muslime aber dazu führt,dass sie
kaum mehr eine Lehrstelle finden, sind diese Er-
rungenschaften in Gefahr.
Gleichzeitigsolle n Schulen, Behörden,Poli-
tiker und dieJustiz jungen Machos klarmachen,
dass frauendiskriminierende Aktionen – etwa
das Verweigern des Handschlags – und erstrecht
Handgreiflichkeiten hierkeinen Platz haben. Eine
Schlüsselfunktionkommt in diesem Prozess eben-
falls den Moscheevereinen und den Imamen zu.
Hassprediger dürfenkeine Plattform bekommen.
Noch besser wäre es jedoch,wenn Imame vermehrt
als positiveVorbilder für identitätssuchende junge
Männer wirken würden.
Der Weg dahin ist weit. EinFortschritt wäre es,
wenn angehende Prediger ihreAusbildung ganz
oder teilweise im deutschsprachigenRaum absol-
vierenkönnten, wie dasForscher des Zentrums für
Islam und Gesellschaft inFreiburg empfehlen. Es
geht nicht darum, einen völlig verwestlicht-säkula-
risierten Islam zu schaffen, zumal die Muslime sel-
ber einen solchen kaum annehmen würden. Aber
die muslimischenWortführer müssen dieWerte der
Aufklärung anerkennen – ohneWenn und Aber.

Dass Frauen


in Saudiarabien oder in Iran


eine untergeordnete Stellung


haben, liegt nicht daran,


dass der Islam prinzipiell


misogyner wäre als die


anderen abrahamitischen


Religionen.


Toxische Männlichkeit ist


keine islamische Exklusivität


Das Frauenbild mancher Muslime verstört. Doch die Gründe


dafür liegen nicht nur in der Religion. Und wer mit dem Finger


auf Fremde zeigt, macht es sich oh nehin vie l zu einfach.


Von Simon Hehli

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