Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

14 SCHWEIZ Mittwoch, 6. November 2019


Der Meister des Kompromisses wird 90


Unternehmer, Politiker, liberaler Vordenker – Ulrich Bremi bestimmte die Geschicke der Schweiz mit


MARTIN MEYER


AufAugenhöhe mit der Zeit und ihren
Wirklichkeiten:Während wichtigerJahr-
zehnte prägte Ulrich Bremi, denwir hier
alsPersönlichkeit von vielenTalenten
begrüssenkönnen, das öffentliche Le-
ben in unseremLand. Der Unterneh-
mer, der das Metier von Grund auf er-
lernte; derPolitiker, der nach brillan-
tem Start bisin höchste Ämter gelangte;
der Mann in der und für die Zivilgesell-
schaft – so prägnant war Bremi wahrzu-
nehmen, und so, nämlich bei allem enga-
giert und bodenständig, hielt er auch die
Nähe zu den Menschen. Gäbe es einen
Idealtypus für dieVerkörperung im
Milizsystem, für den Einsatz an diversen
Fronten ohneWenn und Aber, Bremi
wäre dessen vollkommenes Abbild.
Das hört er vermutlich nicht gern
oder höchstens mitgemischten Gefüh-
len. Denn zu allem, was zu schildern
und zu loben wäre, tri tt noch hinzu: eine
interessante Mischung aus Bescheiden-
heit und Diskretion. Gewiss, dieser Zeit-
genosse ist schon von der äusseren Er-
scheinung her unübersehbar. Doch
umso weniger müsste er sich inszenie-
ren – eine notorische Krankheit zumal
unterPolitikern –, währendsein Selbst-
bewusstsein, ebenfalls durchaus prä-
sent, in der inneren Schwerkraft ruht.
DasWahltier wäre der hochintelligente
Elefant, doch nicht im Zoo,sondern
auf freierWildbahn. Als Ernst Mühle-
mann, auch er ein Mann von Deutlich-
keiten, ein Urgestein im helvetischen
Landschaftsgarten, erzählte, dass Ulrich
Bremi doch tatsächlich einmal wahrhaf-
tig wütend, ja geradezu furios geworden
sei, da berichtete er mit dem Erstaunen
der Überraschung, und eine Spur von
Erschrecken übertrug sich auch auf die
Zuhörerschaft.


AggressiverZuhörer


Natürlich aber war und ist Ulrich Bremi
vor allem und dabei stets mit strategi-
schem Atem ein Meister derKompro-
misse. Bremi erkannte früh, dass in die-
semLand nichts mit der Brechstange
durchzudrücken ist – weder in derWirt-
schaft noch in derPolitik, und im sozia-
len Ambiente noch weniger. Stattdes-
sen sindVerhandlungen angesagt und
diplomatische Aktionen, deren wichti-
ges Ingrediens derRespekt, ja die An-
erkennung des anderen wäre. Als stand-
fest freiheitlich gesinnterFreisinniger
musste BremikeinFreund der Sozial-
demokratie einerseits, der Schweizeri-
schenVolkspartei anderseits sein oder
werden, umrasch zu sehen, was über die
Parteigrenzen hinaus berechtigte Anlie-
gen mit Blick auf dieKohärenz imSys-
tem derKonkordanzen waren.
Als Bremi in den frühen achtziger
Jahren dem Zenit seiner beruflichen
Karriere zustrebte – übrigens auch mit
der Eleganz des verschwiegenen Netz-
werkers –, da fand eineParole aus der
Denkküche seinerPartei unerwartet
schlagartig starken Zuspruch. Sie lau-
tete in ihrer dichtestenFormel:«Mehr
Freiheit und Selbstverantwortung, weni-
ger Staat.» Nun war unserFreund zwar
auch damals niemals ein Libertärer,
der in utopischerVerirrung den Mini-
malstaat gefordert und gepredigt hätte.
Aber er erkannte – und viele andere
sahen es dann auch –, dass der Büro-
kratie einWachstumsdrang innewohnt,
der nicht nur schwer zu bremsen ist,
sondern die zentraleRessource für den
Wohlstand auch und gerade unter Be-
dingungen derVerteilungsgerechtigkeit,
nämlich dieWirtschaft, insKorsett fort-
während neuerRegulierungen pressen
wollte.Eine fruchtbareZeit langhatte
dieParole für die politische Praxis Er-
folg.Heuteliessen sich davon allenfalls
nochTr äume für Nostalgiker ableiten.
Wer nun Ulrich Bremi aus der Nähe
kennt – und Bremi ist bis heute ein
offener, zugänglicher und umgänglicher
Mensch geblieben –, der spürt sogleich:
Hier ist jemand unverstellt neugierig.
Nicht mit der Neugier des Gewerbes zu
eigenemVorteil oder heimlichemVer-
gnügen,sondern mit der Neugier des-
sen, der bereits einen Schritt weiter


denkt – im Sinn desThemas, imAuf-
trag einerSache, die von der allgemei-
nen Ökonomie über dieVersicherungs-
industrie oder diePolitik bis zu sozialen
und kulturellen Anliegen führen kann.
Einer,der ihn offenbar gut beobach-
tet hat, sprach in derFolge davon, dass
Bremi – aber auf durchaus hinreissende
Weise – ein geradezu aggressiver Zu-
hörer sei.Wer führen und gestalten will,

wer weiss, dass er immer noch mehr wis-
sen muss, wer, wie man heute so gerne
sagt, etwas bewegen will, der beginnt tat-
sächlich und wenn immer möglich mit
dem Zuhören.

Auf der Seitedes Optimismus


Zuhören als Lernprozess: Dakäme auch
Ulrich Bremis Biografie ins Spiel. Der
Lehrling der Mechanik, der Student an
der EidgenössischenTechnischen Hoch-
schule, bald darauf derVerantwortungs-
träger zuerst bei der PneufabrikFirestone
in Pratteln, dann bei derBauer Kaba
AG,die er in kurzer Zeit modernisierte
und strategisch neu fokussierte – dieses
höchst unternehmungs- und unterneh-
merlustige Ineinander liess schon damals
erkennen, dass Intelligenz,Leistungs-
bereitschaft und Entscheidungsfreude
einen hervorragenden Kandidaten ge-
funden hatten. Nicht alles funktionierte
ohneRückschläge; ohneRevisionen am
Selbstverständnis und amVerstehen des

Gegenübers. Aber der Mann, der noch
länger stolzdarauf seindurfte,bei vie-
lem auch denAutodidakten einzubrin-
gen, hatte sich von jeher auf die Seite
des Optimismus geschlagen.
Fortschritt war gut, «trial and error»
zählten zu dessenVoraussetzungen, und
dieWirtschaft stellte denTr äger,der dies
alles in die Zukunft skalieren sollte. Im
Bereich desPolitischen gab es dafür nur
eine einzigeParteinahme: jene für die
FDP, die mit profiliertenKöpfen auch
Andersdenkende für sich einnahm. Sie
war dieVolkspartei desAufbruchs, und
noch gab es nur wenige, die den von
ihnen beargwöhntenWirtschaftsfreisinn
vom politischen Freisinn abzusetzen
versuchten.1963 wurde Ulrich Bremi in
den Zürcher Kantonsrat gewählt, dem
erbis1975 als vitale Stimme angehörte,
worauf er für weitere sechzehnJa hre als
Nationalrat, alsFraktionspräsident und
schliesslich anno1991, imJubiläumsjahr
der Eidgenossenschaft,alsPräsident der
grossen Kammer die Geschicke in die-
semLand mitbestimmte – immer auch
mit Ohr undAuge für anderes, für an-
dere,was noch weiterhin dadurch be-
günstigt wurde, dass sich diePolitisie-
rung derThemen wie der Gegnerschaf-
ten in ziemlich zivil anmutenden Gren-
zen verhielt.
Politik als Beruf, nicht mit demFuror
der Gesinnung, sondern mit derVer-
nunft derVerantwortung – und dennoch
fehlte es auchdamals nichtanheissen
Themen. Seit der Ölkrise wurde man
der Problematik desWachstums gewahr,
erstmals sah man den Eintritt der Öko-
logie in die politische, wirtschaftliche
und gesellschaftliche Arena, das Stich-
wort Kaiseraugstsorgte hüben und drü-
ben fürroteKöpfe, und nach dem Nein
zum EWR hiess es gleichwohl oder erst
recht, diePerspektiven auf Europa zu
schärfen. Bremi musste sich nicht mit
populistischenVerbeugungen als guter
Europäer präsentieren, um die Sache
selbst ernst zu nehmen. Anlässlich sei-

nerRütlirede am1. August1991 rief er
dazu auf,das gesamteEuropa derVöl-
ker mitzudenken. Knapp dreiJahre zu-
vor war das Sowjetimperiumkollabiert.

Ein Mann fürsGanze


Daneben und danach: dieWirtschaft.
Die ureigenste Domäne, einTerrain, das
beschleunigt neue und überraschende
Herausforderungen brachte. Ulrich
Bremi wurde Präsident desVerwal-
tungsrats grosser und grössterFirmen,
die Krönung war1993 mit dem Spitzen-
mandat für dieSwissReerreicht. Doch
was heisst schon Krönung.War es nie-
malsFron, so war es doch, vor allem zu
Beginn, wie Bremi noch heute einräumt,
einWagnis und die täglicheAuseinan-
dersetzung mit einerFülle vonVor-
lagen struktureller und personeller Art.
Nicht anders bei der «Neuen Zürcher
Zeitung».Auch dieses Präsidium, das
Bremi1988 von HansRüegg übernom-
men hatte, erstreckte sich über ebenso
fruchtbare wie ereignisreicheJahre.Es
konnte dabei durchaus geschehen, dass
der oberste Chef ins Büro kam, fragte,
woran man gerade arbeite,zwei kluge
Fragen stellte, die man vorsichtshalber
ausweichend beantwortete, und mit
einer aufmunternden, doch intensiven
Blicknahme weiterzog.
Engagiert also, sehr wach, auch ein-
mal sehrkritisch, dazu auf beinah stoi-
sche Weise pointenreich,ein Mann
fürs Ganze, ein energischerWanderer
im Zürcher Oberland oder im Unter-
engadin, dazuVater und Grossvater,
die längste Zeit über begleitet von sei-
nerFrau Anja, ohne Allüren, begabt,
das Richtige auf den Punkt zu bringen


  • das brachte und bringt vielRespekt,
    auchDankbarkeit gegenüber einerPer-
    sönlichkeit, die denTitel vollumfänglich
    verdient – auch wenn er wieder gleich
    abwinken wollte.Wir gratulieren Ulrich
    Bremi sehrherzlich. Heute feierter sei-
    nen neunzigsten Geburtstag.


1991, imJubiläumsjahr der Eidgenossenschaft,hatte UlrichBremi das Amt des Nationalratspräsidenten inne. KARL-HEINZ HUG / KEYSTONE

Kommission


will faire Preise


Ja zu indirektem Gegenvorschlag


(sda)·DieWirtschaftskommission des
Nationalrats (WAK) will etwas gegen
die hohen Schweizer Preise unter-
nehmen. Sie unterstützt denindirek-
ten Gegenvorschlag des Bundesrats
zurFair-Preis-Initiative, allerdings mit
Änderungen und einemknappen Ab-
stimmungsergebnis. Dieses belief sich
nach Angaben derParlamentsdienste
vom Dienstag auf 12 zu 10 Stimmen bei
3 Enthaltungen.Beider letzten Bera-
tung derVorlage im Oktober war die
WAKüber dieVorschläge des Bundes-
rats hinausgegangen.
Sie beschloss unter anderem, dass sich
dieRegeln fürrelativ marktmächtige
Unternehmen nicht von jenen für markt-
beherrschende Unternehmen unter-
scheiden sollen.Daran hat dieKommis-
sion nun wieder Abstriche gemacht. So
sollen die Sanktionen gegen unzulässige
Wettbewerbsbeschränkungen fürrelativ
marktmächtige Unternehmen nicht gel-
ten. Nur marktmächtige Unternehmen
könnten mit bis zu 10 Prozent des Um-
satzes der letzten drei Geschäftsjahre be-
lastet werden. DieInitiativeempfiehlt
dieWAK mit 10 zu 6 Stimmen bei 9 Ent-
haltungen zur Ablehnung. Der indirekte
Gegenvorschlag nehme derenForderun-
gen in vielen Punkten auf, schreibt sie.

Kapital der


Sozialwerke steigt


Positive Entwicklun g im Jahr 2017


(sda)·Die Sozialversicherungen haben
sich 20 17 positiv entwickelt. Die Ein-
nahmen stiegen um 3,2 Prozent, wäh-
rend dieAusgaben nur um 1,7 Prozent
wuchsen.Damitresultierte ein Ergebnis
von 20 MilliardenFranken.Das Sozial-
versicherungskapital stieg um 75,9 Mil-
liardenFranken auf 998,4 Milliarden
Franken. Erstmals erreichte es fast die
Grenze von einer BillionFranken, wie
das Bundesamt für Sozialversicherungen
(BSV) am Dienstag mitteilte. Der Über-
schuss kam vor allem durch die höchs-
ten bisher ausgewiesenen Kapitalwert-
gewinne von 58 MilliardenFranken zu-
stande.Ein deutlich stärkeresWachstum
der Einnahmen als derAusgaben war in
der Gesamtrechnung zuletzt 2011 und
201 3 zu verzeichnen. Die derzeitige Ent-
wicklung zeige,dass sich die finanzielle
Situation der Sozialversicherungen ver-
bessert habe,heisst es im Bericht. In den
letzten 30Jahren haben sich die Gesamt-
einnahmen mehr als verdreifacht.

Beteiligu ng an


Flughafen erhöht


Tessin willLugano-Agno stärken


(sda)·DerTessiner GrosseRat hat mit
deutlicher Mehrheit einer Erhöhung
der Beteiligungsquote am Flughafen
Lugano-Agno zugestimmt. Der Grosse
Rat des Kantons stimmteamMontag-
abend mit 57Ja-Stimmen zu 24 Nein-
Stimmen einer Erhöhung der Beteili-
gung an der Lugano AirportSAzu. Da-
mit erhöht der Kanton seine Beteiligung
von 12,5 auf 40 Prozent.Auch einerRe-
kapitalisierung der Gesellschaft stimmte
der Kantonsrat zu. Mit dem Entscheid
macht der GrosseRat denWeg frei für
die Suche nach einer Lösung für den
Flughafen Lugano-Agno. Dieser steckt
seit dem Grounding der AirlineDarwin
in grossen Schwierigkeiten. Die Unter-
stützung desTessiner GrossenRatesist
jedoch an eine noch ausstehende Ent-
scheidung des Luganeser Gemeinde-
rates geknüpft.Das Kantonsparlament
verlangt vom Gemeinderat Luganobis
2020 eine klare Strategie sowie einen
Betriebsplan für den Flughafen Lugano-
Agno. Der Betriebsplan soll auch eine
allfällige Beteiligung von privatenFir-
men miteinbeziehen.

Ulrich Bremi erkannte
früh, dass in
diesem Land nichts
mit der Brechstange
durchzudrücken ist.
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