Mittwoch, 6. November 2019 WIRTSCHAFT 27
Spaniens Wirtschaft fürchtet den Brexit mehr als die Wahlen
Der Staat hat währendder jüngstenBoomjahre zu wenig gegen die Verschuldungunternommen
UTE MÜLLER, MADRID
Fast sechsJahrelang boomte Spaniens
Wirtschaft und wuchs deutlich stärker
als der EU-Durchschnitt. Doch jetzt
könnte demAufschwung langsam die
Luft ausgehen. In ihrem neuestenKon-
junkturbericht warnt dieBank von Spa-
nien denn auch vor einerReihe von
Risiken für die spanischeWirtschaft,
allen voran vor einem ungeregelten
Brexit und der verfahrenen Situation
in Katalonien.Das sindkeine guten
Nachrichten für den amtierenden spa-
nischen MinisterpräsidentenPedro Sán-
chez, der seineLandsleute amkommen-
den Sonntag zu den Urnen gerufen hat,
weil er nach seinemWahlsieg im April
keine mehrheitsfähigeRegierung bilden
konnte. Der Sozialist Sánchez hatte vor
denWahlen im April die Unternehmer
mitForderungen nach Steuererhöhun-
gen verschreckt, sich aber nicht mit
der linken Protestpartei UnidasPode-
mos (UP) auf eineKoalition einigen
können.KeinWunder, dassJohn de
Zulueta, der Präsident des spanischen
Unternehmerverbands Círculo de Emp-
resarios, die Neuwahlen jetzt als das ge-
ringereÜbel sieht.
LeereRentenkassen
De Zulueta hofft, dass Sánchez, der auch
bei denWahlen am Sonntag alsFavorit
gilt, diesmal eine Allianz mit denPar-
teien der Mitte anstreben wird. Ähn-
lich sieht das der Präsident der spani-
schen Handelskammer, José Luis Bo-
net. Zwar habe die spanischeWirtschaft
die vielen Monate ohneRegierungrela-
tiv gut überstanden, aber jetzt sei es an
der Zeit, die nötigenReformen in An-
griff zu nehmen,sagte er gegenüber der
Tageszeitung «El País». Ganz oben auf
der Liste stehe eineRentenreform. In
SpaniensRentenkasse klafft bald ein
Loch, obwohl man schon vorJahren das
Rentenaltersukzessiveauf 67Jahre an-
hob.Jeden Monat müssen mittlerweile
9,5 Mrd. € an diePensionäreausbezahlt
werden, die Einnahmen der Sozialver-
sicherungreichen aber wegen der immer
prekäreren Arbeitsverträge und der
Überalterung der Bevölkerung schon
lange nicht mehr aus. Ein vor der Krise
angelegter Notfonds wird voraussicht-
lich bis zumJahresende auf 1,5 Mrd. €
zusammengeschrumpftsein.Spätestens
nächstesJahr muss die neueRegierung
dann eine Lösung zurFinanzierung der
Pensionen finden.
Kritik ausBrüssel
Mehr Schulden aufnehmen kommt
kaum infrage, denn die spanische Zen-
tralbank sieht jetzt schon in der hohen
Staatsverschuldung ein erhebliches
Risiko für Wirtschaft undBanken. Im
vergangenenJahr lag die Neuverschul-
dung in Spanien bei 2,5% des Brutto-
inlandprodukts (BIP), damit hat das
Land die zweithöchste Defizitrate in
der Euro-Zone. Und die Staatsver-
schuldung, die 98,9% des BIPentspricht,
liegt 13 Prozentpunkte über demDurch-
schnittswert der Euro-Zone. Brüssel kri-
tisierte denn auch bereits, dass Spanien
während desWirtschaftsaufschwungs
der letztenJahre zu wenig getan habe,
um sein Haushaltsdefizit in den Griff zu
bekommen. Die schwächereKonjunk-
tur dürfte jetzt die Haushaltskonsoli-
dierung zusätzlich erschweren.Spanien
verzeichnet derzeit das geringsteWachs-
tum seit dem Ende derWirtschaftskrise
20 14.Für die nächstenMonaterechnet
dieBank von Spanien mit einerVer-
schlechterung derKonsumlaune der
Spanier, weil derzeit deutlich weni-
ger Stellen entstehen.Der einzige Sek-
tor, der momentan noch boomt, ist der
Tourismus. Dort aberkönnte ein abrup-
ter Brexit negativeFolgen haben, denn
Grossbritannien ist gegenwärtig noch
der wichtigste Markt für SpaniensTou-
rismusbranche.
Über 80 Mio.Touristen besuchen
Spanien jährlich, jeder fünfte davon ist
Brite.Nun befürchtet man, dass viele
dieserKunden nach einem chaotischen
Brexit zu Hause bleiben oder billigere
Destinationen ansteuernkönnten. Die
Bank von Spanien schätzt, dass der un-
kontrollierte Brexit das spanischeWirt-
schaftswachstum in den nächsten fünf
Jahren um 0,7% verlangsamen wird.
Neben derTourismusindustrie sindauch
die spanischen Kreditinstitute, allen
voran Santander, gefährdet, denn sie
kontrollieren rund16% des britischen
Bankenmarktes und spielen damit sogar
noch eine grössereRolleals die ameri-
kanischenBanken (15,9%).
Katalonienkrise bleibt einRisiko
Die Notenbank hat in ihrem Herbst-
Konjunkturbericht die Katalonienkrise
wegen der anhaltenden Unruhen in
Barcelona jetzt wieder als Risikofaktor
für die spanischeWirtschaft eingestuft.
Katalonien ist mit seinen7, 6 Mio. Ein-
wohnern die zweitgrössteRegion Spa-
niens. Beim Bruttoinlandprodukt steht
die nordspanische Region allerdings
an erster Stelle, das Pro-Kopf-Einkom-
men liegt mit 30 769€deutlich über dem
Landesdurchschnitt. Mit einemWegfall
Kataloniens verlöreSpanien 20% seiner
Wirtschaftsleistung. Noch lässt sich die
Notenbank aufkeineRechenspiele ein.
Die Situation sei jedoch noch nicht so
dramatisch wie 20 17, hiesses bei ihr. Da-
mals waren bereits vor dem nichtverfas-
sungskonformenReferendum über eine
Abspaltung von Spanien viele Depots
vonden Kreditinstituten in Katalonien
abgezogen worden.
Eine «soziale Bombe» in Süditalien
erschüttert die Regierung in Rom
Die Übernahme eines Stahlwerks in Tarent scheitert nachträglichanUmweltschutzbestimmungen– 14 000 Arbeitsplätze sindgefährdet
ANDRESWYSLING,ROM
Der Stahlkonzern ArcelorMittal wider-
ruft die Übernahme des Stahlwerks im
süditalienischenTarent. Zuvor hatte das
italienischeParlament eine Sonderrege-
lung gekippt, mit der dasWerk von den
sonstgeltenden Umweltschutzbestim-
mungen ausgenommen wurde. Nun
droht erneut die Schliessung.
Das Werk ist bekannt unter dem
Namen Ilva, obwohl dieser eigentlich
verschwunden ist. Es gilt als das grösste
Stahlwerk in der Europäischen Union
und hat über 10 000 Angestellte; über
14000 Arbeitsplätze hängen insgesamt
davon ab. Nach einerSchätzung wurden
2016 knapp6Mio.tStahl produziert,
derVerlust lag bei 600Mio.€.Die Wirt-
schaft inTarent und Umgebung hängt
in grossem Masse vondiesem kaum
lebensfähigenKoloss ab.
In Branchenkreisen heisst es, die ehe-
malige Ilva belaste den Geschäftsgang
vonArcelorMittalschwer, das Engage-
ment in Italien sei hauptsächlich verant-
wortlich für den erwarteten Gewinn-
rückgang auf 930 Mio.$im drittenTr i-
mester;im selben Zeitraum desVorjahrs
betrug der Gewinn noch 2,7 Mrd. $. Der
Konzern habe jedes Interesse, diesen
Klotz am Bein loszuwerden.
Ruf nachVerstaatlichung
Die Hiobsbotschaft vom Dienstag kam
nach dem Parlamentsbeschluss vom
Montag jedenfalls nicht völlig uner-
wartet. Dennoch erwischt sie dieohne-
hin auf schwachen Beinenstehende ita-
lienischeRegierung auf dem falschen
Fuss. In Gewerkschaftskreisen ist von
einer «sozialen Bombe» dieRede, und
diePolitiker üben sich in gegenseitigen
Schuldzuweisungen.
Unweigerlich ertönt auch schon der
Ruf nach einer Verstaatlichung des
Stahlwerks.Man müsse die Arbeits-
plätze inTarent, den strukturschwa-
chen Süden und die italienische Indus-
trie überhauptretten. Zweifler fragen:
Mit welchem Geld soll der Staat ein-
springen? Und kann er das Stahlwerk
auf lange Sicht dann auch wirklichret-
ten?Von anderer Seite wird gefordert,
den jüngstenParlamentsbeschluss um-
zustossen und die Umweltauflagenwie-
der auszusetzen, um ArcelorMittal zum
Bleiben zu veranlassen.
ArcelorMittal war erst im Sommer
2018 bei Ilva eingestiegen. 4,1 Mrd. €
hätte der indisch-französischeKonzern
für dieAkquisition aufbringen sol-
len, dieses Geld will er sich jetzt spa-
ren. Die weitgehendeAussetzung der
Umweltvorschriften war ausdrücklich
Teil desHandels. Konkret erlaubte man
dem Stahlwerk nach damaligen Pres-
seberichten, die Luft weiter im glei-
chenAusmass zu verschmutzen wie bis
anhin.
Auf die Abmachung vom letztenJahr
weist der französisch-indischeKonzern
jetzt in einem Communiqué hin. Unter
denveränderten gesetzlichen Bedingun-
gen sei es nicht möglich, den «Umwelt-
plan umzusetzen», heisst es, man mache
darum jetzt von einerAusstiegsklau-
sel in demVertrag Gebrauch.Von ita-
lienischer Seite wird eingewandt, diese
Interpretation desVertrags sei unzuläs-
sig. Am Mittwoch sollenVerhandlungen
stattfinden, aber eine Einigung scheint
nicht in Sicht.
Viele Fällevon Lungenkrebs
Die Luftverschmutzung durch das Stahl-
werk hat inTarent und besonders im
Arbeiterviertel Tamburi drastische
Folgen. DieTodesfälle durch Lungen-
krebs liegen deutlich über dem natio-
nalenDurchschnitt, und auch dieFall-
zahlen bei Atembeschwerdenund über-
haupt bei sämtlichen Krankheitsgrup-
pen sind erhöht. Der Missstand besteht
seitJahrzehnten, er wurde auch schon
fr üh erkannt.
Die Eigentümer – zuerst der Staat,
ab 1995 dann Private – haben die ver-
heerende Situation hingenommen. Ab
201 2 wurden zwar wegen der Umwelt-
frage jahrelange Prozesse geführt, und
dasWerk wurde unter staatlicheAuf-
sicht gestellt. Doch zu schlechter Letzt
hat der Staat dieVergiftung der Bevöl-
kerungvonTarent ausdrücklich gut-
geheissen – anders ist die Abmachung
mit ArcelorMittal nicht zu erklären.
Im Grunde wirft die neuesteWen-
dung im Fall Ilva einmal mehr ein
Schlaglichtauf die grassierendeRechts-
unsicherheit in Italien. Gesetze werden
erlassen, hier zum Schutz der Umwelt
und der Bevölkerung, aber die längste
Zeit werden sie nicht angewendet.
Dann sollen sie plötzlich doch gel-
ten, oder vielleicht auch nicht, je nach
Opportunität, je nach wechselnden
Mehrheiten imParlament oder nach
Gutdünken der gerade amtierenden
Regierung. Damit wird Missbrauch
gefördert, Investitionen aber werden
verhindert.
Weltweite Überkapazitäten
Für die lokale und die nationalePoli-
tik ergibt sich dieses Dilemma: Man
schliesst das Stahlwerk und Tarent
verarmt, oder man produziert weiter,
und die Bevölkerung wirdweiter krank.
Ein dritterWeg wären Umweltmass-
nahmen imWerk, die Erfüllung der ge-
setzlichen Umweltauflagen.Das würde
denBau neuer, emissionsarmer Hoch-
öfen erfordern. Es war auch schon
davon dieRede, dasWerk mit einer
grossenKuppel einzuschliessen. Doch
nichts deutet darauf hin, dass solche
Grossinvestitionen tatsächlich insAuge
gefasst würden.
Die Stahlbranche kämpft derzeit
weltweit mit Überkapazitäten. Arcelor-
Mittal hat die erste sich bietende Ge-
legenheit genutzt, um sich möglichst
schadlos von einem ohnehin zweifel-
haften Engagement zu verabschieden.
Der Einstieg desKonzerns beiIlva vor
einemJahr erfolgte wohl ausschliesslich
in der Absicht, dasWerk nicht einem
Konkurrenten zu überlassen, und nicht,
um hier im grossen Stil zu produzieren –
auchwenn es anderslautende Absichts-
erklärungen gab.
Das Stahlwerk steht in Tarent
eigentlich am falschen Ort. Es wurde
1965 vom italienischen Staat eröff-
net in einer doppelten Absicht: Einer-
seits wollte man den industriellenAuf-
schwung des strukturschwachen Südens
anstossen, anderseits die italienische In-
dustrie mit italienischem Stahl versor-
gen. Doch heute stellt man fest: Es gibt
global ein Überangebot an Stahl und
regional zu wenig Nachfrage. Die ita-
lienischeAutoindustrie schrumpft, und
derBalkan und Nordafrika sind auch
keine besonders verheissungsvollen
Absatzmärkte.
Für den inTarent produzierten Stahlgibt es kaum Abnehmer–und dasWerk belastet die Umwelt. ALESSANDRO BIANCHI / REUTERS