FEUILLETON Mittwoch, 6. November 2019 Mittwoch, 6. November 2019 FEUILLETON
HerrBoghossian, Sie sind Philosoph.
In den letztenJahren sind öffentliche
Debatten immer mehr von identitäts-
politischenBelangen überlagertworden:
Wer etwas sagt, ist wichtigerals das, was
jemand sagt.Triviale Informationen zu
Geschlecht, Herkunft, Nationalität oder
Religionwerden wie ein Gütesiegel ge-
handelt.Auch in IhremFach hat dieser
Trend Einzug gehalten.Wann wurde das
Unbehagen so gross, dass Sie sich ent-
schieden haben, etwas dagegen zu unter-
nehmen?
Das war imJahre 2014. Es ist nichts
Neues, wenn ich Ihnen sage: Menschen
blicken für gewöhnlich durch ihre epi-
stemischeLandschaft, um die Urteile,
die sie ohnehin schon haben, zurecht-
fertigen. Die entsprechende Einsicht
des Wissenschaftsjournalisten und
Skeptikers Michael Shermer lautet:Je
schlauer du bist, desto besser bist du
auch imRationalisieren einer schlech-
ten Idee. Die klügsten Leuterationa-
lisieren die Dogmen der gerade herr-
schende Orthodoxie, in diesemFall Vor-
stellungen vonRasse und Gender. Das
passiert nun eben längst auch in philo-
sophischen Seminaren, die zu Sprach-
rohren für dieseTrends gewordensind.
Konkreter, bitte.
Nehmen wir denFall RebeccaTuvel.
2017 veröffentlichte die amerikanische
Philosophin einenText im «Peer-review-
ten» akademischenJournal «Hypatia».
Darin argumentierte sie:Wenn es mög-
lich ist, dass einePerson sich mit einem
anderen Geschlecht identifizieren kann
als demjenigen,mit dem sie geboren
wurde – warum sollten Menschen das
nicht auch mit derRasse tunkönnen?
Es folgte eine Hexenjagd.Auch promi-
nente Philosophinnen flippten aus.Was
Tuvel schrieb, widersprach der herr-
schenden Lehre der Gender-Theoreti-
ker und Anti-Rassisten gleichermassen.
Das klingt beinahe so, als sähen Sie die
Geisteswissenschaften ideologis ch be-
lagert.
Das sind sie, ganz offiziell. Die neue
Orthodoxie ist heutean amerikanischen
Unis wirklichgenau das: eine Orthodo-
xie,auch wennsie wissenschaftlicher
Evidenz entbehrt. Aber Letztere ist
auch gar nicht nötig. Denn wer diese
Orthodoxie nicht teilt, gilt als Häretiker.
Die Deutungshoheit liegt vor allem bei
jüngerenFächern, die den Zusatz «stu-
dies» führen. Sie verfügen an den Uni-
versitäten über den nötigen organisato-
rischen und institutionellenRückhalt.
Moment,bitt e. Als akademische Diszi-
plin scheint die Philosophie gegenüber
solchenTrends doch erst einmalweni-
ger anfällig zu sein.
Das stimmt längst nicht mehr. Wirklich
schlaue Leute machen wirklich seltsame
Dinge. Und darin sind die klügsten Men-
schen noch gewandter, so dass sie diesen
Ideen–die unterdem Titel«Diversi-
tät», «Gleichheit», «Inklusion», «Trigger-
Warnung», «Safe Spaces» oder «Mikro-
Aggressionen» kursieren – zumDurch-
bruchverhelfen.
Vermuten Sie ein ideologischesKom-
plott?
Nein, nur den Siegeszug schlechter
Ideen – und eine Gruppe von höchst
empfindsamen Menschen, die Macht
über Erkenntnis stellen.
Sie haben gemeinsam mit dem Mathe-
matikerJames Lindsay beschlossen,
Ihreerste Entlarvung der Ungenauig-
keit en imFeld der Gender-Studies zu
lancieren. Sie haben ein frei erfunde-
nes Paper in einem akademischenJour-
nal veröffentlicht, das einen Zusammen-
hang zwischen dem männlichen Geni-
tal und dem Klimawandel herstellte –
augenscheinlich haarsträubenderUnfug,
der aber dennoch publiziert wurde.
Darf ich etwasausholen?
Gerne.
Wir waren vom Physiker Alan Sokal in-
spiriert, der1996 das akademischeJour-
nal «SocialText» mit einem frei erfunde-
nen Artikel zur Quantenphysik foppte.
Wir entdeckten denTwitte r-Account
@RealPeerReview, der wirklich wahn-
sinnige Artikel aus den Geisteswissen-
schaften teilt.Da wir aus der Bewegung
der neuen Atheisten gekommen waren,
begriffen wir:So wie Christen die Bibel
und Muslime denKoran haben, so haben
eben Anhänger der Gender- Studies ihr
eigenes Glaubensbekenntnis.Wir woll-
ten also derenWissensbasis delegitimie-
ren und zeigen: «Seht:Das ist nicht, was
ihr meint, das es ist.»Das Problemda-
bei war, dass dasJournal, dem wir den
Bären aufgebunden hatten,kein hoch-
rangiges Gender-Studies-Periodikum
war – da hatten die Kritikerrecht.
«Sokal Squared» – der Hintergrund
jsb· Der PhilosophPeter Boghossian,
der MathematikerJames Lindsay und
die Frühneuzeit-Forscherin Helen Plu-
ckrose: Unter wechselnden Pseudony-
men verfassten die drei Akademiker
von 2017 bis 2018 zwanzig wissenschaft-
licheAufsätze mit absurdenThesen. Die
Autorenreichten ihrePapers bei aner-
kanntenFachzeitschriften für Gender
Studies und verwandteFachgebiete ein.
Vier wurden veröffentlicht und weitere
drei für dieVeröff entlichung akzeptiert,
obwohl sie alle Nonsens behaupteten.
Das Projekt ist unter demTitel «Grie-
vance Studies Affair» oder – in Anspie-
lung auf ein ähnliches Projekt des Physi-
kers Alan Sokal imJahre 1996 – «Sokal
Squared», bekannt.
Das Ziel: die Entlarvung einer intel-
lektuellenKorruption, die sich in be-
stimmten geisteswissenschaftlichen
Studiengängen amerikanischer Univer-
sitätenetabliert zu haben scheint. Be-
sonders in der Soziologie, den Gender-,
Race- und Sexuality-Studies werden ge-
mäss denAutoren zunehmend nur noch
Thesen undThemen behandelt, die sich
aus dem postmodernenPoststruktura-
lismus speisen. Menschen werdenhier
anhand von Geschlecht, Hautfarbe und
sexuellen Begehrenin unterschiedliche
Gruppen eingeteilt und moralisch be-
wertet. Besonders schlecht wegkom-
men westliche weisse Männer, die für
Kolonialismus undRassismus verant-
wortlich seien,einepatriarchale Gesell-
schaft aufrechterhielten und aufKos-
ten anderer Gruppen weiterhin gesell-
schaftlicheVorteile geniessen würden.
DieKonsequenz: Akademiker sollten
sich nicht nur dem postmodernenDuk-
tus, sondern auch dem Kampf gegen
weisseund männlichePrivilegien ver-
schreiben.
Dieser Anspruch ist derart tief in
den entsprechenden Disziplinen ver-
ankert, dass selbst offenrepressive
Forderungen, die Boghossian, Lind-
say und Pluckrose in die Artikel ein-
bauten, von denPeer-Reviewern mit
hohen Bewertungen versehen und ge-
lobt wurden. So forderten dieWissen-
schafter in demPaper «Dog Parks»,
dass man Hunden undMännern die
Neigung zur sexuellen Gewalt abtrai-
nieren sollte. In einem anderenAufsatz
üb ernahmen dieWissenschafter ganze
Passagenaus Hitlers «Mein Kampf»,
statteten sie mit Schlagworten aus dem
Gender-Jargon aus und empfahlen die
Inhalte als Anleitung für einen femi-
nistischen Befreiungskampf.
Widerstand gegen solche ideologi-
schenTrends innerhalb der Geistes-
wissenschaften regt sich mittlerweile
auch an Universitäten im deutsch-
sprachigenRaum. ImJahr 2017 ver-
öffentlichte die Berliner Geschlechter-
forscherinPatsy l’Amour laLove den
Sammelband «Beissreflexe». Hier wird
analysiert, inwiefern der ideologische
Aktivismus der queeren Bewegung zu
repressivenVerhaltensweisen, Diffamie-
rungen und Sprechverboten im akade-
mischenRaum führen.
Der promovierte Historiker und Ge-
schlechterforscherVojin SašaVukadino-
vic ́ führt diese Kritik in seinerAntholo-
gie «Freiheit istkeine Metapher» fort.
40 Aufsätze analysieren hier, wie vor
allem postkoloniale Denkansätze zur
Verharmlosung und teilweise zur Glo-
rifizierung des politischen Islam und zu
Antisemitismus führen.
«Du wirst nie
Probleme lösen
können,
wenn du nur
beleidigt bist»
Aus Orten des freienDenkens und Forschens werden
zunehmend Institutionen der Unfreiheit: Der
amerikanische Philosoph PeterBoghossian, ein
angesehener Vertreterseines Fachs, gehtmit
dogmatischen VertreternvonGender- und Race-
Studies hart ins Gericht. Vojin SašaVukadinovic ́ hat
ihn inPortlandgetroffen
Peter Boghossian
PD Philosoph
Wo man sichSamthandschuhe überzieht,gehenDenkräume verloren.VerhülltePortalfiguren vor einem Gebäudeder UniversityofCalifornia inBerkeley. CHRISTOPH KELLER / VISUM
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