Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

Mittwoch, 6. November 2019 SPORT43


Auf angesägtem Stuhl


Nach eineinhalb Jahren als Trainer der Startruppe von Paris Saint-Germain fehlen dem Deutschen Thomas Tuchel grosse Erfolge


ROD ACKERMANN,PARIS


Nein, er lesekeine Berichte und höre
auch nicht hin bei Interviews, hatTho-
masTuchel, seit Sommer 20 18 Tr ainer
im FCParis Saint-Germain, kürzlich an
einer seiner Pressekonferenzen zu ver-
stehengegeben. Er wolle «weder Zeit
noch Energie verlieren damit»,basta.
Die anwesenden Medienleute, fastaus-
nahmslosFranzosen, mochten diesen
Bescheid sorecht nicht abnehmen. Zu
oft haben sie feststellenkönnen,dass
ihreKommentare sehr wohl ankamen
und nicht immer auf die leichte Schul-
ter genommen wurden. Kritik ist nicht
willkommen in der PSG-Teppichetage,
wie unter anderem deren – gelinde ge-
sagt – kühlesVerhältnis zumFachblatt
«L’Equipe» zeigt.
Zwar waren imFalle vonTuchel die
Journalisten anfangs gerne bereit, ihre
Augen zuzudrücken. Denn der Schlaks
aus dem Schwabenland lieferte der
auf Glanz und Gloria erpichtenVille
Lumière das beste Gegenargument:
Siege. Nach seiner Ankunft vor knapp
eineinhalbJahren eroberte er mit sei-
nem hochkarätigen Ensemble den
sechsten Ligue-1-Titel der ÄraKatar
quasi mit links.
Dakonnte ihm noch einmal nachge-
sehen werden, dass in der Meisterklasse,
wo es am Mittwoch gegen Brügge geht,
dasAus imAchtelfinal kam.Ausge-
rechnet in der Champions League, also
dort, wo diePariser und ihre Geldgeber
vomPersischen Golf seit je die gröss-
ten Ambitionen hegen,aberMal um
Mal enttäuscht werden, scheiterte auch
Tuchel – und zwar am kriselnden Man-
chester United.


LästigePflichtübung


Demgegenüber nimmt sich die na-
tionale Meisterschaft wie eine lästige
Pflichtübung aus.Trotz bisher drei Nie-
derlagen, darunter ein blamables 1:2
beimTabellenletzten Dijon amFrei-
tag, liegt der Ligue-1-Titelhalter nach
zwölfRunden unumstritten inFührung.
Der gegenwärtigeVorsprung von sie-
ben Punkten auf den erstenVerfolger
Angers verleiht Sicherheit. Er ist zudem
ein schlagender Beweis für die Schwä-
che derKonkurrenz, wodurchTuchels
Tr uppe leichtes Spiel hat.WasWunder
bei der schwindelerregenden Diskre-
panz der Saisonbudgets: Mit 580 Mil-
lionen Euro steht inParis fast das Dop-
pelte vonLyon und mehr als dasFünffa-
chevon Marseille zurVerfügung.
Immer lauter sind inzwischenVor-
würfe anTuchelsAdresse zu hören. Die
zwei wichtigsten: Allzu oft stelle der
Tr ainer sein Spielsystem um und allzu
selten verschaffe er sich Gehör bei sei-


ner Mannschaft.Von da ist es nicht mehr
weit bis zurFrage, ob der seitFrüh-
sommer wieder eingestellte, inParis
schoneinmal entlassene Sportdirek-
tor Leonardo noch lange Geduld hat,
ganz zu schweigen vom wankelmütigen
Publikum, das von der teuren Mann-
schaft ganz andere und grössereTaten
erwartet. Ganz gemäss dem im Prinzen-
park prominent plakatiertenVereins-
Slogan: «Rêver plus grand» –«Träumen
wir noch grösser».
Ironisch dabei ist, dass esTuchel an
Rundum-Support lange Zeit nicht fehlte.
ErsteSympathiepunkte hatte der Deut-
sche schon beim Amtsantritt gewonnen,
als er sich zum allgemeinen Erstaunen
geläufigaufFranzösisch ausdrückte – in
der Grande Nation unabdingbareVor-
aussetzung, umernst genommen zu wer-
den. Inden 16 Monaten seither hat sich
seinAusdrucksvermögen noch verbes-
sert, und sollte dieKörpersprache hinzu-
gerechnet werden, dann lässt derTr ainer
keineWünsche offen. Mit geradezu süd-
ländischemTemperament pflegt er am
Spielfeldrand zu gestikulieren; verschie-
dentlich haben seineAusbrüche bei den
Unparteiischen Missfallen erregt.
So hatten sich diePariser einen Deut-
schen nicht vorgestellt, war da doch we-
nig von jener Distanziertheit zu spüren

oder garder Kälte,die maninFrank-
reich klischeeartigden östlichen Nach-
barn zuschreibt. Ganz im Gegenteil: Da
ist einer, zart zwar, aber aus Fleisch und
Blut. Einer, der mitfiebern und mitlei-
den und mitjubeln kann. Der vortreff-
lich zumanderen Klub-Slogan passt: «Ici
c’estParis.»Tuchel ist anders als seinoft
spröde wirkender Amtsvorgänger, der
Baske Unai Emery, dem man inParis
keineTr äne nachweinte.

Fünf MillionenEuro jährlich


Auch hat sich noch niemand aufge-
regt überTuchels offiziell nie bestätig-
tes Salär vonrund fünfMillionen Euro
brutto proJahr. Es ist deutlich kleiner
als bei prominenteren Berufskollegen
in anderen europäischen Ligen, weni-
ger auch, als der von den katarischen
Klubbossen als Erster auf denTr ainer-
sessel geholte Carlo Ancelotti oder des-
sen NachfolgerLaurent Blanc erhielten,
denen die Gage noch netto ausgerichtet
wurde.Die Geldgeber vomPersischen
Golfrechnen inzwischen vorsichtiger,
demFinancialFairplay der Uefa-Kon-
trolleure seiDank.
Doch Geld ist nicht alles, mehr zählen
Macht und Einfluss bei den Chefs. Dies-
bezüglich hatteTuchel imFrühsommer

einen wichtigenEtappensieg verbuchen
können, als er den langen, durch Streite-
reien wegen diverserTr ansfers punktier-
ten Rivalenkampf mit dem Sportdirek-
tor Antero Henrique zu seinen Gunsten
entschied.
Ob derTr ainer mit dem als Nachfol-
ger des hinauskomplimentiertenPortu-
giesen Henrique, dem aus Italien her-
beigeholten Brasilianer Leonardo, bes-
ser zurechtkommt? Zu seinem Glück
konnteTuchel das beschwerliche Dos-
sier Neymar junior dem Sportdirektor
überlassen. Er hat mit dem Management
seines vor Stars und Egos überquellen-
den Kaders mehr als genug zu tun.
AktuellesFallbeispiel: die umstrit-
tene Besetzung der Offensive.Vor der
Auswahl zwischen Edinson Cavani,
dem besten Goalgetter des Klubs, dem
neu verpflichteten, von Inter ausgelie-
henen Mauro Icardi,Frankreichs auf-
strebendem jungemWeltmeisterKylian
Mbappéund dem virtuosenBallzuliefe-
rerAngel Di Maria darfTuchel sich fast
glücklich schätzen, dass Neymar junior
wieder einmal infolge einerVerletzung
ausfällt.Das Fehlen des brasilianischen
Stars, denTuchelvor nicht allzu langer
Zeit noch als seinen Schlüsselspieler be-
trachtete, hat imFussvolk einzig deshalb
(noch)kein Grollen verursacht, weil der

teuerste Spieler derTr ansfergeschichte
sich mit seinenWeggangsgelüsten man-
cheSympathien verscherzte.
In Sachen Mannschaftsaufstellung
markiert der Deutsche nun den harten
Mann. Er habe dakeine Angst, gab er
jüngst zurAuskunft. Schliesslich sei es
seineAufgabe alsTr ainer,Entscheide zu
treffen und diese den Spielern zu erklä-
ren.Dann aber sei es derenJob,sie zu
akzeptieren, auch wenn sie damit nicht
zufrieden seien.
DieAussage war deutlich an die
Adresse von Mbappé gerichtet, der sich
zu wenig berücksichtigt gefühlt und dies
via Social Media unmissverständlich
kundgetan hatte. Betroffen fühlte sich
indes auch Cavani, der plötzlich in den
Schatten von Icardi geraten ist.Tuchels
Schlusswort zurAngelegenheit:«Die
wichtigsteReaktion besteht darin, ver-
eint zu bleiben.»

DeutscheWertarbeit


Gebetsmühlenhaft versichertTuchel an
Medienkonferenzen vor Matches, dass
er sich «zuverlässige» Spieler wünsche,
die «zu hundert Prozent bereitseien,
Intensität zu schaffen». Mit anderen
Worten: Er verlangt von seinem über-
wiegendlateinamerikanischenPersonal
die vielgerühmte deutscheWertarbeit.
Abgeliefert werden zwar mehrheitlich
Siege – deren 53 bei insgesamt 71 Spie-
len der ÄraTuchel (7 Unentschieden
und 11 Niederlagen). Unvergessen der
Start zum letztjährigen Championnat
mit 14 Siegen de suite.
AberTuchels Streben nachPoly-
valenz wird von seinen Kritikern zu-
nehmend für eine Marotte zum Nach-
teil der Equipe gehalten. Seine unabläs-
sigenVeränderungen in derAufstellung
gehen auch aufKosten derAutomatis-
men.Dabei hat einetraumwandlerische
Sicherheit, unter Druck das Richtige zu
tun,noch immer eine grosse Mannschaft
ausgezeichnet.
Im vergangenenFrühling, kurz nach
dem peinlichen Champions-League-
Out gegen Manchester United, war
TuchelsVertrag um einJahr bis Sai-
sonende 2020/21 verlängert worden.
WenigeWochen darauf kam Leonardo,
der Sportdirektor, wieder an Bord. Der-
selbe Leonardo, der sich vor achtJah-
ren nicht gescheut hatte, dem damaligen
Tr ainer AntoineKombouaré ungeachtet
der Leaderposition mitten in der Meis-
terschaft denLaufpass zu geben – um
daraufhin den Italiener Carlo Ancelotti
zu engagieren.Vielleicht wiederholt sich
dieGeschichte, vielleicht ruft der brasi-
lianische Sportdirektor erneut einen Ita-
liener herbei.Freiverfügbar wäreMas-
similiano Allegri, der mitJuventusfünf-
mal nacheinander Meister wurde.

Wohin desWeges àParis? ThomasTuchel und PSG vor einer spannendenZukunft. DANIEL COLE/ AP

Chancen zur Revanche


Federer an den ATP Finals in der Gruppe mit Djokovic


(sda)· RogerFedererkennt seine Grup-
pengegner an den am Sonntag begin-
nendenATPFinalsin London.Der
Baselbieter bekommt es mit Novak Djo-
kovic, DominicThiem und Matteo Ber-
rettini zu tun. In der anderen Gruppe
sindRafael Nadal, der zu Beginn die-
serWoche Djokovic als Nummer 1 im
Ranking nach einemJahr wieder abge-
löst hat, der russischeAufsteigerDaniil
Medwedew, der deutscheTitelhalter
Alexander Zverev und der Grieche Ste-
fanos Tsitsipas eingeteilt.
Federer, der mit 17 Teilnahmen
und sechsTurniersiegen derRekord-
halter des Saisonschluss-Events ist, er-
hält gleich zweimal die Gelegenheit
zurRevanche. Gegen Djokovic hatte er
Mitte Juli denepischen, dramatischen
Final inWimbledon nach zwei vergebe-
nen Matchbällen und knapp fünf Stun-
den in fünf Sätzen verloren. An denAT P
Finals spielteerletztmalsvor vierJahren
gegen den Serben.Auch damals unter-
lag er imFinal.

GegenThiem, die Nummer 5 der
Welt, hatFederer sogar zweiRechnun-
gen offen. In IndianWells hat er im
Frühjahr gegen den Österreicher imFi-
nal verloren, in Madrid, einem weiteren
Masters-10 00 -Turnier,imViertelfinal.
GegenThiem liegtFederer in der Ge-
samtbilanz genauso wie gegen Djoko-
vic (22:26) imRückstand (2:4). Gegen
Berrettini, den drittenRookie amFinal-
turnierneben Medwedew und Tsitsipas,
spielteFederer erst einmal. InWimble-
don schlug der Schweizer den Italiener
imAchtelfinal deutlich in drei Sätzen.
Rafael Nadalreiste trotzeiner klei-
nenBauchmuskelzerrung nach London.
«Die Idee ist, bei denFinals spielen zu
können», schrieb der 33-jährige Spanier
aufTwitter. Nadalhatte sichdieVerlet-
zung am Samstag am Masters-10 00 -Tur-
niervonParis-Bercynur wenige Minu-
ten vor dem Halbfinal gegen den Kana-
dier Denis Shapovalov beimAufwärmen
zugezogen und sich aus demTurnier zu-
rückziehen müssen.

Dortmunder Aufholjagd


3:2 nach 0:2-Rückstan d gege n Inter in der Champions League


STEFAN OSTERHAUS


Borussia Dortmund hat erstaunliche
Wochen hinter sich. Der geradezu
masslosen Kritik amTeam samtTr ai-
ner LucienFavre folgte eine bemer-
kenswerte Serie, deren jüngster Coup
der 3:2-Sieg gegen Inter in der Cham-
pions League ist.Durch zweiTr effer von
Achraf Hakimi und einTor vonJulian
Brandt wahrte derBVB die Chance
auf denAchtelfinal, zugleich gelang die
Revanche für das 0:2 in Mailand.
Dabei hatte lange gar nichts auf die-
sen Erfolg der Dortmunder hingedeu-
tet.Wie schon im Hinspiel überzeugte
Inter zunächst durch eine geradezu un-
verschämte Effizienz: Ein frühesTo r
vonLautaro Martinez sowie eines von
MatiasVecino vor der Halbzeit sorg-
ten dafür, dass mancher nachvollzie-
henkonnte, warum Inters Coach Anto-
nio Conte einen geradezuväterlichen
Stolz für diesesTeam empfindet.Virtuos
verstandenesdie Mailänder, die An-


griffe desBVB ins Leere laufen zu las-
sen. Ziemlich genau eine Halbzeit lang
wirkte der Match wie eineKopie des
Hinspiels, das Inter ohne grosse Mühe
fürsich entscheidenkonnte. Damals
hatte ein frühesTor der Italiener die
Pläne desBVB durchkreuzt, ehe durch
einen spätenTr effer die Entscheidung
herbeigeführt wurde.
Diesmal schien die Sache schon nach
den ersten 45 Minuten erledigt:Wiebe-
reits im erstenAufeinandertreffen war
erneut der Argentinier Martinez erfolg-
reich. Er setzte zu einem Solo an. Mats
Hummelskonnte ihm nicht folgen, doch
die Schuld lag nicht beim Abwehrchef
allein. Manuel Akanji hatte sich ver-
schätzt, und da es nicht das erste Mal
war, dass derBVB nach einemFehler
Akanjis in Bedrängnis gerät, dürfte dies
den Kritikern des SchweizersAuftrieb
ge ben. Beim 0:2 indes war der Schwei-
zer Internationale schuldlos.
So ging es für denBVB mit einem
klarenRückstand in die Kabine.Ange-

sichts des Eindrucks, den die Dortmun-
der eine Halbzeitlang hinterlassen hat-
ten,erscheint das,was dann in der zwei-
ten Hälfte passierte, geradezu sensatio-
nell.Dortmund forcierte ein schnelles
Angriffsspiel.JenePässe,denen zuvor
noch die Präzision gefehlthatte,fanden
nun ihreAdressaten, dasPositionsspiel
war weitaus besser, und so kam es, dass
Inter immer häufiger einen Schritt spä-
ter war als die Dortmunder.
Es war Hakimi, der zum Match-
winneravancierte. Schon in der ersten
Hälfte war er der agilsteBVB-Spie-
ler gewesen, mehrfach war er bis zur
Grundlinie vorgedrungen und hatte gute
Hereingabengeschlagen. Nun zeigte der
Aussenläufer seine Qualitäten als Goal-
getter.In der 51. Minute traf er zum 1:2,
und plötzlich schien dieses sorobuste
Inter verwundbar. Dreizehn Minuten
später gelangJulian Brandt derAus-
gleich. Inter wankte nun, und in der 78.
Minute entschied Hakimi mit seinem
zweitenTor zum 3:2 den Match.
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