44 SPORT Mittwoch, 6. November 2019
Roger Federer kann sich an den ATP Finals in London
revanchieren – ni cht nur gegen Novak DjokovicSEITE 43
Thomas Tuchel ein Trainer auf Abruf? PSG führt zwar
in der Meisterschaft, aber es fehlt ein grosser Titel SEITE 43
Capela, Sefolosha und ein grosser Traum
In Houston passiert gerade Schwei zer Sportgeschichte – von zwei Basketballern in völlig unterschiedlich en Phasen der Karriere
NICOLA BERGER,HOUSTON
«Houston ist eine grausame, verrückte
Stadtaneinem dreckigen Fluss in Ost-
Texas,ohne Zonengesetze und mit einer
Kultur von Sex, GeldundGewalt. Es ist
eine schäbige, ausufernde Metropole,
die von dreistenFrauen,korrupten Cops
und superreichen, pansexuellen Cow-
boysregiert wird, die nach demKodex
desWestens leben – was du so ziemlich
in alle Richtungen auslegen kannst, die
du möchtest.» HunterS. Thompson hat
das geschrieben, 2004, einJahr vor sei-
nem Hinschied, es warTeil eines Essays
über den von ihm verachteten Präsiden-
ten GeorgeW.Bush, einem Sohn der
Stadt Houston.
Houston, mit 2,4 Millionen Einwoh-
nern die grösste Stadt im Bundesstaat
Texas, ist vieles: derzeit Arbeitsort der
SchweizerBasketballer Clint Capela
undThabo Sefolosha – sowie Projek-
tionsfläche für einen globalenKonflikt.
Daryl Morey, General Manager der
HoustonRockets,löste im September
eine diplomatische Krise aus, indem er
den Slogan «Fight forFreedom – Stand
with HongKong» tweetete,eineSoli-
daritätsbekundung mit der demokra-
tischen Bewegung in der chinesischen
Sonderverwaltungszone. Freiheit und
Demokratie, das sind zwei der letz-
ten verbliebenen Grundwerte, auf die
sich Amerika noch verständigen kann.
Harmloser kann man sich kaum aus-
drücken. Doch MoreysTweetsandte
Schockwellenüber den Globus,der
Sturm der Entrüstung in China ist bis
heute nicht wirklich abgeklungen.
Sponsoren beendeten ihre Ge-
schäftsbeziehungen zur Liga,TV-Kanäle
strichen Übertragungen, Online-Shops
nahmenRockets-Memorabilia aus dem
Sortiment.In Schanghai wurdenriesige
Werbeplakate entfernt.Der NBA-Kom-
missionärAdam Silver sagte zudem in
einemTV-Interview, die chinesische
Regierung habe die Absetzung Moreys
gefordert. China bestreitet.
Die Erinnerungenan Yao Ming
Es ist ein Montagabend Ende Okto-
ber in Houston. ImToyota Center tref-
fen dieRockets auf Oklahoma City
Thunder, das Ex-Team der wichtigsten
Rockets-ProfisJames Harden undRus-
sellWestbrook. EinRundgang durch das
Stadion zeigt, dass dieRockets mehr
Grandezza haben als die aufgeregten
Herren in China: An etlichen Stellen
wird unverändertYao Ming gehuldigt,
dem legendären chinesischen Center,
der von 2002 bis 2 01 1 in Houston aktiv
war, eine Epoche prägte und wegen sei-
ner Grösse von 2,29 Metern den galop-
pierend amerikanischen Übernamen
«T he GreatWall» übergestreift erhielt.
SeineRückennummer 11 wird bei den
Rockets nicht mehr vergeben.
Ming, 39-jährig und wandelndes In-
ternet-Meme der ersten Stunde («Bitch
Please»), stand im Zentrum des NBA/
China-Konflikts. Er ist inzwischen der
Präsident des chinesischenBasketball-
verbands, der seine Enttäuschung über
Moreys Aktion sehr deutlich machte.
DerKommissionär Silver sagte in US-
Medien, Ming sei «extrem aufgebracht»
gewesen.
Dabei haben dieRockets und ihre
Angestellten der Schadensbegrenzung
einiges untergeordnet. Morey löschte
denTweet eiligst, was immer etwasRüh-
rendes hat, weil das Internet nie vergisst.
Der StarJames Harden versuchte es mit
einer Charmeoffensive und sagte:«Wir
lieben China.» Der KlubbesitzerTil-
manFertitta sagte, Morey spreche nicht
für dieRockets, man seikeine politi-
scheFranchise – was selbstverständlich
eine Lüge ist, weil jedes amerikanische
Sportunternehmen bei Heimspielen
Kriegsveteranen huldigen lässt und sich
klebrig-kitschigemPatriotismus hingibt.
Der KlubbesitzerFertitta ist einPar-
teispender derRepublikaner, 20 19 hat
er derPartei inTexas 35 500 Dollar zur
Verfügung gestellt, die erlaubte Höchst-
summe. Doch was China angeht, stimmt
seineAussage vermutlich schon: Es ist
ihm entlarvend einerlei, woher die Ein-
nahmenkommen. Hauptsache, das Geld
fliesst,gerne auch aus China, wo die
Rockets seit der Ming-Ära sehr popu-
lär sind.Daist es ärgerlich, wenn einer
denGeldfluss gefährdet, weiler ein
ausgeprägtes Demokratieverständnis
hat. Die «NewYorkTimes» schrieb, der
Tweetkönnte bis zu 25 Millionen Dol-
larkosten.
Fertittakönnte das verschmerzen:
Er ist Multimilliardär,Reality-TV-Star,
Turbokapitalist und seit neuestem Buch-
autor («Halt den Mund und hör zu!
Harte Businesswahrheiten, die dir hel-
fen werden, erfolgreich zu sein»). Doch
genau solche geschäftstüchtige Nimmer-
satte wieFertitta schmerzen Einnahme-
ausfälle besonders.
Es braucht wenig Phantasie, um sich
vorzustellen, dassFertitta intern die Di-
rektive durchgesetzt hat, dieLage zu
beruhigen. Denn dieRockets haben
durchausArbeitnehmer, die sehr dezi-
di ert zu sozialenFragen Stellung neh-
men, den SchweizerThabo Sefolosha
etwa.Im Sommer hatte er in einem
Interview moniert, offenerRassismus
sei in den USA weiterhin erlaubt.Sefo-
losha, 35 Jahre alt,der Sohneines süd-
afrikanischen Musikers, hatRassismus
oft genug erlebt. Sefolosha wagt es, un-
bequemeWahrheiten auszusprechen.
Doch zu China blieb auch er stumm.
ImToyota Center herrscht an die-
sem Montagabend nervöse Betrieb-
samkeit, als Sefolosha in die Garderobe
spaziert. Es gehört zu den Eigenheiten
der Entertainment-Liga NBA, dass die
Kabine nicht nur nach, sondern auch
knapp zwei Stunden vor dem Spiel für
die Medien geöffnet wird.Wobei es den
Spielern überlassen ist, ob sietatsächlich
reden. EinJournalist nähert sich tapfer
dem ExzentrikerRussellWestbrook,
aber der ist damit beschäftigt, mit be-
merkenswerter Entrücktheit zu irgend-
welcher Musik zu tanzen.Ihm bietet sich
dafür genügendPlatz: Harden undWest-
brook haben doppelt so grosse Spinde
wie derRest desTeams. Die Hierarchie,
sie zeigt sich schon hier.
Sefolosha ist in der Garderobe in ein
Telefongespräch vertieft, er suchtnach
einer neuen Bleibe für sich und seine
Familie. Aber wie war das mit China?
Gibt es einen offiziellen Maulkorb der
Liga, der PR-Strategen desTeams? Der
Romand winkt ab und sagt: «Nein, wir
haben keineVorschriften.» Er habe
nichtsgesagt, weil er sich auf dem Ge-
biet nicht gut genug informiert fühle. Er
sagt: «Ich habe mein Leben vor allem
in den USA und der Schweiz verbracht.
Ich masse mir nicht an, China morali-
scheRatschläge zu erteilen und zu sa-
gen, was richtig oder falsch ist.»
Einer, der diesen Satz unterschreiben
würde,ist Sefoloshas Sitznachbar Clint
Capela. Capela, 25-jährig, istmit einem
Jahressalär von 18 Millionen Dollar der
bestverdienende SchweizerTeamsport-
ler der Geschichte. Ob er vor dem Spiel
redet? Er lächelt verschmitzt und sagt:
«Meinetwegen, aber nur ein paarFra-
ge n, so lange, bis ich mich langweile.»
Man denkt, vielleicht etwas Zeit ge-
winnen zukönnen, wenn man ihn auf
seine Shorts anspricht, ein Merchan-
dise-Produkt der Bad Brains, einer
Hardcore-Punk-Band ausWashington,
die einst im legendären CBGB-Klub in
NewYork auftrat und deren Musik im
Film «After Hours» von Martin Scor-
sese verwendet wurde.Aber Capela fin-
det dasThema beliebig; er sagt, erkenne
und höredieBand nicht, es seien ein-
fach Shorts. Dann wendet er sich dem
Handy zu, weil ihn jetzt eben dieLang-
weile erfasst hat, man unterschätzt ja oft,
wierasend schnell so etwas geschieht.
Zuvor hat der Genfer Capela immer-
hin über Sefolosha ausVevey geredet,
über die vielleicht für immer einmalige
Konstellation, dass in einem NBA-Team
zwei Schweizer spielen.Weil es nur zwei
Spieler gibt in der Geschichte der Liga
und weit und breitkeine weiteren Kan-
didaten in Sicht sind.
Capela sagt, er habe Sefolosha vorher
nicht wirklich gekannt beziehungsweise:
Selbstverständlich habe er alsJüngling
zu Sefolosha aufgeschaut, dem Schwei-
zerBasketball-Pionier. Aber eineVer-
bindung gab es nie, sie trainierten nicht
zusammen,tauschten sich nicht aus.
Auch in der Nationalmannschaft gab es
keine gemeinsamen Einsätze,die Ge-
meinsamkeiten endeten beim roten
Pass. Doch dasVerhältnis hat sich verän-
dert, seit sich Sefolosha im September in
einem Mini-Camp inLas Vegas für einen
Vertrag zum Minimalsalär aufdrängte.
Capela sagt:«Wir sind inzwischen ziem-
lich eng miteinander, es tutgut,jeman-
den zu haben, mit dem ich mich in mei-
ner Muttersprache verständigen kann.
Wir können über allesreden, er ist wie
ein grosser Bruder für mich.»
Es ist eine kuriose Analogie. Capela
ist zehnJahre jünger als Sefolosha, aber
er hat ihn längst überflügelt, sport-
lich gesehen.Aus dem einst so schüch-
ternenJüngling ist ein selbstbewusster
Mann geworden, der den Anspruch hat,
einFührungsspieler zu sein und seinem
90-Millionen-Dollar-Vertrag gerecht
zu werden. DerTr ainer MikeD’Antoni
sagte der NZZ schon 2016, dass Capela
auf seiner Position einer der Besten
werdenkönne. Doch inzwischen scheint
es dem Coach mit der Entwicklung zu
langsam zu gehen. BeimAuswärtsspiel
in Brooklyn spielte Capela amFreitag
nicht einmal 20 Minuten, so wenig wie
seit144 Spielen nicht. «Seine Leistung
war nicht gut genug», sagte derTr ainer.
Er bemängelte die defensive Sorgfalt.
Capela im Gegenwind
Es ist nicht das erste Mal, dass Capela in
diesemJahr im Gegenwind steht: Nach
dem schmählichen Scheitern im Play-off
imFrühjahr war monatelang darüber
spekuliert worden, dass die Rockets
ihn transferieren. Capela hat im Play-
off bisher selten überzeugt. DerTr ai-
nerD’Antoni statuierte mit der weni-
gen Spielzeit ein Exempel an Capela; er
forderte allgemein mehrKonzentration
und defensives Gewissen. Und musste
am Sonntagrealisieren, dass seineWorte
ungehört verhallten. Gegen die in jeder
Hinsichtbiederen Miami Heat setzte
es eine Kanterniederlage ab, schon zur
Halbzeit liessen dieRockets sagenhafte
71 Punkte zu.
MitD’Antonis Geduldistesin diesem
Herbst nicht weit her, seinVertrag läuft
aus, Verhandlungen im Sommer schei-
terten. SeinAuftrag ist klar: Er muss die
Ausnahmekönner Harden undWest-
brook, beide schon als wertvollste Spie-
ler der Liga ausgezeichnete Spektakel-
macher, zumTitel führen. Es wäre ein
Erfolg, den dasDuo alsTeamkollegen
bei Oklahoma City verpasst hat, damals,
als auch Sefolosha noch dort spielte, um
2012 herum.
Auch Sefolosha drängt die Zeit: In
diesenTagen lassen ihn seineRasta-
Zöpfe jung erscheinen, aber er ist der
fünftälteste Spieler der Liga.Vielleicht
erlebt er die Saison des Abschieds. Sefo-
losha sagt: «Es ist schön, Harden und
Westbrook wieder zu sehen. Die Zei-
ten haben sich geändert, wir sind älter
geworden, und jetzt bietet sich uns hier
eine echte Chance, Meister zu werden.»
Sefolosha ist bei dieser Mission nicht
mehr als eineReservisten-Rolle zuge-
dacht.Wenn er zehn Minuten pro Abend
zum Einsatzkommt,ist dasviel.Tr otz-
dem hat derTrainerD’Antoni warme
Worte für ihn übrig: «Hohe Spielintel-
ligenz, sehr zuverlässig und pflegeleicht.
Ich liebeThabo.»
Sefolosha, ein Defensivspezialist, soll
demTeam bei der Suche nach Stabilität
helfen. Doch nach dem sehr wechselhaf-
ten Saisonstart derRockets, nach Spie-
len, in denen sich manche Profis der Ab-
wehrarbeit fast schon demonstrativ ver-
weigerten, fragt sich, ob die Equipe nach
denWirrungen um China, dieser schril-
lenAufregung, denFokus verloren hat.
Sefolosha sagt: «Nein,aber dasAusmass
der ganzen Geschichte hat mich schon
überrascht.Wir leben in interessanten
Zeiten.»Wie HunterS. Thompson wohl
über sie schreiben würde?
Gemeinsam unterdem Korb: die Schweizer Clint Capela (links) und Thabo Sefoloshaind en roten Dressen. ERIC CHRISTIAN SMITH/AP
Es ist eine kuriose
Analogie. Capela
ist zehn Jahre jünger
als Sefolosha,
aber er hat ihn
längst überflügelt.
Sportlich gesehen.