Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

NZZ-Verlagsbeilage6. November 2019 NZZ Real Estate Days 5


Gemäss Vittorio Magnago Lampugnani müssen Planungen vermehrt grossflächig erfolgen. Studio di Architettura

Vittorio Magnago Lampugnani,


eme ritierter ETH-Professor für


Städtebau, erzählt im Interview
über Wachstum, Verdichtung so-


wie den vorbildlichen Städtebau


des 19. Jahrhunderts. Ausser-


dem erklär t er dieverfehlte Be-


geisterung für Hochhäuser.


Herr Professor Lampugnani, wir erl e­
ben in der Schweiz gerade einen gros­
sen Wachstumsschub. Es wird in den
grossen St ädten enorm viel gebaut. Er­
folgt Stadtwachstum, historisch be­
trachtet, ei gentlich stets in solchen
Schüben?
Ja, wobei die Schübemal grösser, mal
kleiner ausfallen.Einflussfaktoren sind
die demografischeEntwicklung, die Zu­
wanderung oderauchdie wirtschaftli­
che Lage. Stadtwachstum erfolgt nie ste­
tig und gleichmässig.


Sie sind ja einer derbekanntesten Ken­
ner derGeschichte des Städtebaus. Er­
kennen Sie in der Vergangenheit eine
Epoche, die mit der jetzigen vergleic h­
bar ist?
Inder zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­
derts gabesinEuropa eineWachstums­
intensität, die historisch gesehen viel­
leichteinmaligist. Die Gründe dafür
waren die Industrialisierung, die Migra­
tionder Landbevölkerung indie Städte
auf der Suchenach Arbeitsplätzenund
vorallemder starkeBevölkerungszu­
wachs wegen der grossen Fortschritte
der Medizin.Innertweniger Jahre ging
die Sterblichkeit der Bevölkerung deut­
lichzurück.


Erfolgte diesesStadtwachstum in einer
organisiertenWeise, also auf derBasis
einer Planung? Oder wurde einfach
wild drauflosgebaut?
Eserfolgteweitgehendgeplant. Natür­
lich herrschte anfänglichein Wild­
wuchs. Dochauf den Notstand, dass es
zuwenig Wohnraumfür die Menschen
gab,die indie Städte strömten,haben
diese erstaunlichschnell undmit er­
staunlichgrossen Wohnbauprogram­
men reagiert. Ein eindrückliches Beispiel
für ein solch organisiertes Wachstumist
Berlin. Der damaligeStadtbaumeister
James Hober gingbei seinerPlanung im
Jahr 1862 von der Perspektive aus, dass
die Stadt von etwa 500000 Bewohnern
auf vierMillionen anwachsen würde. Er
planteAusfallachsen und Ringstrassen,
Grünanlagen und Quartierplätzeund ei­
nemodernestädtische Infrastruktur.
Vor allem: Er entwickelte die kompakte
Stadt weiter.


Was haben die damaligen Politi ker und
Planer gut gemacht? Und was nicht so
gut?
Die Planungwargut, übergreifend,
grosszügig, weitblickend. Was aberdar­
aus konkret gemacht wurde, ist einean­


dereGeschichte. Esgibtden Begriff der
Mietskaserne, der sichauf diese Zeit be­
zieht. Vor unseren Augen entsteht das
Bild von engen,ungesunden,düsteren
Wohnverhältnissen.Dochdas Problem
lag nicht inder Planung,sonderninder
Architekturund vor alleminder Art
und Weise, wie diese Häuservermarktet
undbewohntwurden. Das Übel des


  1. Jahrhundertswaren nicht schlechte
    Wohnungen,sonst wärendiese heute
    nicht so begehrt. Das Übel war die Über­
    belegungder Wohnungen.Woeigent­
    licheineFamilie hätte leben sollen, leb­
    ten oft deren drei odervier.


Wiebewältigen wir de nn das heutige
Wachstum imVergleic h zum 19. Jahr­
hundert? Gut, besser oder schlechter?
Welches si nd die Unterschiede?
Die Ideedes Wohnens imGrünen,am
liebstenimeigenen Einfamilienhaus
mitteninder Stadt,schwirrt immer
nochherum. Esist einIdeal, das der
Schriftsteller KurtTucholskyeinmal
ironisch als denWunschbeschrieben
hat, vor dem Hausden Kurfürstendamm
zuhaben und hintendie Zugspitze. Was
heute garnicht gut läuft, ist, dassinden
meisten Städten die Planung immer dort

«Ich glaube, unser Standard ist überzogen»


VittorioMagnago Lampugnanierzählt überdie Veränderungen inder Architektur.Interview von Felix E. Müller


chitekturzeichnetsichdurch die Ten­
denzaus,nur auf dasEinzelobjektzu
schauen,nicht darauf, wie essichzusei­
nemNachbarnverhält. Die Architektur­
publizistik tut esihr gleichund beurteilt
nur daseinzelneGebäude.Docheine
Ansammlungguter Architekturmacht
nochkeine guteStadt.

Was müsste man de nn besser machen?
Man müsste sovorgehenwie im19. Jahr­
hundertinBerlinoderim18. Jahrhun­
dert inLissabon: Geplant wurdenzuerst
die Strassen und die Plätze, alsoder öf­
fentliche Raum. Erstdanach erfolgteeine
AufteilunginBauparzellen.Das läuft
heute inder Regel umgekehrt. Und am
Endekommt nochein Landschaftsarchi­
tekt und schaut, was sichaus den ent­
standenenResträumennochmachen
lässt. Verlorengegangenscheint die Fä­
higkeit, überdie Einzelparzelle hinaus­
zuschauen,HäuseroderEinzelüberbau­
ungen zusammenzufassen undals
Einheit zusehen,als urbanes Quartier.

Der heutige Städtebau wird von ganz
anderenKriterien do miniert. Es domi­
niert nur einBegriff: Verdichtung. Ist
das de nn sinnvoll?

Der Begriff selbst hat durchausseine Be­
rechtigung.Wirhaben jakeinenPlatz
mehrauf unserer Erde, also solltenwir
mit demwenigen Platz sorgfältigumge­
henundmöglichstwenig Landschaft
neu überbauen.Zudemträgt Dichtezur
urbanen Qualitäteiner Stadt bei. Aller­
dingsistnicht zuübersehen,dasssich
Investoren diesenBegriff nicht ungern
zueigenmachen, weil Verdichtung
schliesslichauchhöhereRenditen ver­
spricht. Das mussnicht nur negativ sein.
Inden Städten waren Investoren immer
ein Treiber der Entwicklung.Das konnte
durchauspositive Folgenhaben.Ent­
scheidend war und ist, dass amEndeet­
was herauskommt, dasder Allgemein­
heit dientund die Stadt bereichert.

Welche anderenFaktoren sehen Sie
noch, welche das Wachstum antreiben?
Die Ansprüche der Menschenanden
Wohnraumsind gestiegen.Das führt
zumparadoxen Ergebnis, dass Wohn­
siedlungen abgerissenundverdichtet
neu gebautwerden,amEndedortaber
gleichviele Menschenwohnenwie vor­
her. ImDurchschnitt lebtjeder von uns
auf doppelt soviel Flächewie voreinem
knappenJahrhundert. Das ist ein grosser
Luxus.Ichglaube, unser Standardist
überzogen.

Heute gilt weitherum das Hochhaus als
Idealrezept für Verdichtung. Teilen Sie
diese Auffassung?
Ich lehne Hochhäusernicht grundsätz­
lich ab, dennoch halte ich sienicht für
einIdealrezept.WennmanAbstände,
Schattenwurfregelungen und Erschlies­
sungenernst nimmt, dannbringtman
inHochhäusernnicht wirklichmehr
Menschenunter als ineinem ganznor­
malen,fünf­bis achtstöckigen verdich­
tetenWohnungsbau.Vor allem aber:
Ich kenne ausser demRockefeller Center
inNew YorkkeinenHochhaus­Komplex,
demesgelungenist, gute öffentliche Räu­
mezuschaffen.Freiräume umHoch­
häuser sindschwierig. Manhattan ist da
keinGegenbeispiel, sondern schlichteine
Ausnahme. LeCorbusiernannteMan­
hattanja eine«wunderbareKatastrophe».
Hochhäusersollten nur dort gebautwer­
den,wosiezumOrganismusStadt einen
Beitrag leisten und nicht einfach irgend­
wie zufällig inder Landschaft stehen.

Diese Kritik haben Sie ei nmal folgen­
dermassen illustriert: Ein Sonntags­
spaziergang durch Zürich­West sei
einesIhrer st ädtebaulich en Schlüssel­
er lebnisse gewesen. «Da zieht es einem
die Schuhe aus.» Weshalb?
Weil das, was sichander Pfingstweid­
strasse aneinanderreiht, ein Sammelsu­
riumvonBautenist,die grösstenteils
qualitätvoll sind, sich aberbeharrlich
weigern,miteinanderinBeziehung zu
treten. Und sofaszinierendder Prime
Tower auchist: Der Grund,warumer
dort steht, woersteht, ist ganz bestimmt
kein städtebaulicher.

aufhört, wodie Eigentumsgrenzen ver­
laufen.Wo eskeine ausgeschiedenen
Bauparzellengibt, ist keine Planung vor­
handen.Die Pläne etwader Stadt Berlin
im 19. Jahrhundert, aber auch von
Barcelona oderMailand,habenjedoch
nur funktioniert, weil essichumeine
grossf lächige und übergreifende Planung
handelte, indie sichdanndie einzelnen
Bauherren mit ihren individuellen Be­
bauungspläneneinfügenmussten.Heute
dagegen scheint die öffentliche Handun­
willigoderunfähig,eineübergreifende
Planung vorzulegen und durchzusetzen.

Man wartet also, dass einInvestor
kommt und sagt, ich habe hier ein
konkrete s Areal und ich möchte das so
und so überbauen?
Soungefähr. Erstdannkommendie
städtischen Behörden ins Spiel und sagen
JaoderNeinoderVielleicht. DiesesVor­
gehen ist der Grund für den unglück­
lichen Patchwork­Charakterheutiger
Stadterweiterungen.JedeParzellewird
als Einzelfall betrachtet und architekto­
nisch andersgestaltet. Jeder Bauherrhat
die Möglichkeit, mit nur geringenEin­
schränkungenauf einer Parzelle daszu
bauen,was ihmgefällt. Die heutige Ar­

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