Die Welt Kompakt - 31.10.2019

(Brent) #1

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DONNERSTAG, 31. OKTOBER 2019 POLITIK 9


Tatsächlich stimmte die CHP im
Parlament für den Militäreinsatz,
wenn auch, in den Worten ihres
VVVorsitzenden Kemal Kilicdaroglu,orsitzenden Kemal Kilicdaroglu,
„mit erheblichen Bauchschmer-
zen“. Das Votum werde die kurdi-
sche Basis der HDP unversöhn-
lich gegen die CHP aufbringen,
erwarteten viele. Bei Halil Arkan
in Nusaybin hat das funktioniert.
Doch der Ton der HDP gegenüber
der CHP ist bemerkenswerter-
weise nicht kritischer geworden,
als er es ohnehin schon war.
„Die HDP behält die Zukunft
im Auge und verfolgt einen klu-
gen Weg, um das Bündnis im de-
mokratischen Lager nicht zu
schädigen“, so erklärt Ertugrul
Kürkcü, Ehrenvorsitzender der
HDP, den moderaten Kurs seiner
Partei. Das Bündnis mit der grö-
ßeren Oppositionspartei sei vor
den letzten Wahlen auf gesell-
schaftlicher Ebene entstanden.
Die Basis der CHP und die der
HDP müssten einander in Zu-
kunft wieder in die Augen blicken
können. Um dazu beizutragen,
formuliere die HDP ihre Kritik an
der CHP mit Bedacht.
Dennoch sieht Kürkcü bei der
CHP-Basis keine große Begeiste-
rung für die Haltung der Partei-
spitze. Die grenzüberschreitende
Offensive der Regierung zu un-
terstützen sei so etwas wie eine
unumgängliche Verpflichtung,
die von einigen staatshörigen
Köpfen aus dem Altbestand der
Partei umgesetzt werde.
Aber auch innerhalb der CHP
sind einige unzufrieden mit die-
sem Kurs. Der Istanbuler CHP-
Abgeordnete Sezgin Tanrikulu
zeigt sich immer gern auf der


Straße und basisnah. Gegen ihn
laufen Ermittlungen, weil er öf-
fentlich erklärte: „Das ist ein
Krieg gegen die Kurden.“ Und
der Abgeordnete Ali Seker be-
zeichnete die Syrien-Operation
als „eine Nebelbombe, die auf die
innenpolitischen Probleme der
Türkei abgefeuert wurde“.
Aber das Oppositionsbündnis
dürfte noch weiteren Druck aus-
halten müssen, ebenso wie die
kurdische Bevölkerung in der
Türkei und ihren Nachbarlän-
dern. „Ich glaube nicht, dass die
Offensive vorbei ist. Ankara geht
nicht nur in Syrien, sondern in
insgesamt vier Ländern gegen die
Kurdinnen und Kurden vor“, sagt
HDP-Ehrenpräsident Kürkcü.
„Man hat schon die Ärmel hoch-
gekrempelt, um die Autonomie-
forderungen der Kurden in der
Türkei zu zerschmettern.“
Vor wenigen Monaten konnte
der inhaftierte HDP-Vorsitzende
Selahattin Demirtas über seine
Anwälte einen Tweet veröffentli-
chen, in dem er seine Basis dazu
aufforderte, bei den Kommunal-
wahlen für die CHP-Kandidaten
zu stimmen, und Millionen Kur-
den taten es. Jetzt ist die kurdi-
sche Wählerschaft gespalten.
Manche sagen, wie Bauarbeiter
Arkan, sie würden nie wieder für
die CHP stimmen. Andere wis-
sen, dass die Offensive dazu ge-
dacht ist, die Opposition zu spal-
ten, und wollen sich genau des-
halb nicht davon abbringen las-
sen, wieder CHP zu wählen.
Mehmet Bekri gehört zur letz-
teren Gruppe. Er stammt aus
Diyarbakir und lebt seit Langem
in Istanbul. Bei den Kommunal-
wahlen wählte er den CHP-Kan-
didaten Ekrem Imamoglu. „Das
war nötig, um die AKP zu schwä-
chen, deshalb habe ich es getan“,
sagt er. Die Offensive hat Erdo-
gan seiner Meinung nach gestar-
tet, um die kurdischen und türki-
schen Wähler davon abzubrin-
gen, ein Bündnis gegen die AKP
zu schmieden. Die Kurden, sagt
er, seien politisch klug genug, um
darauf nicht hereinzufallen. Ent-
scheiden werden letztendlich die
Stimmen der im Westen der Tür-
kei lebenden Kurden. Es ist wahr-
scheinlicher, dass sie das opposi-
tionelle Bündnis gegen die AKP
weitertragen und die Offensive
primär aus innenpolitischer Sicht
bewerten. Vermutlich werden
wieder einmal die Nachrichten,
die Demirtas aus dem Gefängnis
schickt, das Schicksal des Oppo-
sitionsbündnisses und damit
auch des Landes entscheiden.
Ahmet Silvan lebt ebenfalls in
Istanbul. Er ist wütend auf die
CHP. „Jedes Mal, wenn Erdogan
Hilfe braucht, kommt die CHP
angerannt“, sagt der 30-Jährige.
Er werde die CHP nicht mehr
wählen. Auch nicht, wenn der
HDP-Chef aus dem Gefängnis
wieder dazu aufruft? „Das ist et-
was anderes. Aber Demirtas hat
zu der Militäroffensive noch
nichts gesagt. Er soll erst einmal
das letzte Wort sprechen, dann
sehen wir weiter.“

Aus dem Türkischen von
Oliver Kontny

Türkische Polizisten ziehen
Kurden von der Straße,
die gegen den Militäreinsatz
in Nordsyrien demonstrieren

D


ie Teilnehmer der Pro-
teste, die den Libanon
seit dem 17. Oktober er-
schüttern, sind freudevolle Es-
kapaden gewöhnt. Seit Tagen
ziehen Zauberer durch die Stra-
ßen, Menschen feiern mit Was-
serpfeifen und spärlich bekleide-
te Damen führen auf Verkehrsin-
seln verführerische Bauchtänze
auf. Am Dienstagnachmittag er-
reichte die Stimmung aber einen
Höhepunkt. In einer kurzen
Fernsehansprache verkündete
der sichtbar von Stress gezeich-
nete Premierminister Saad al-
Hariri, dass er einer zentralen
Forderung der Demonstranten
nachkommen werde: „Es ist Zeit
für einen großen Schock, um der
Krise entgegenzutreten“, sagte
er. „Ich gehe zum Präsidenten-
palast, um den Rücktritt der Re-
gierung zu präsentieren.“

VON GIL YARON
AUS TEL AVIV

Aus Tausenden Kehlen war Ju-
bel zu hören. Doch die Freude
könnte verfrüht sein. Denn es
bleibt völlig unklar, was nun pas-
siert. Präsident Michel Aoun
kann Hariris Rück-
trittsgesuch ablehnen
oder er beauftragt den
Premier erneut mit der
Regierungsbildung.
Laut den Gesetzen des
Libanon darf nur ein
Sunnit das Amt des
Premiers innehaben;
zu Hariri gibt es kaum
Alternativen. Die For-
derungen der Protest-
ler reichen aber noch
weiter. Sie wollen ei-
nen Rücktritt der ge-
samten Regierung und
eine Reform des politi-
schen Systems.
Damit fordern sie
einen Rivalen heraus,
der weitaus gefährlicher ist als
Hariri: Hassan Nasrallah, Führer
der mächtigen schiitischen His-
bollah-Miliz. So wächst die Ge-
fahr, dass der wichtigste Verbün-
dete des Iran in Nahost auf Ge-
walt zurückgreifen muss, um die
Proteste zu unterbinden. Mün-
den Beiruts überwiegend friedli-
che Demonstrationen in ein
Blutbad?
Nicht, dass der Libanon sich
die Proteste leisten kann. Seit
zwei Wochen liegt das öffentli-
che Leben lahm. Ursache für den
Unmut ist die seit Jahrzehnten
andauernde Misswirtschaft, die
den Libanon in eines der am
tiefsten verschuldeten Länder
der Erde verwandelte. Der Staat
versorgt seine Bürger nur unre-
gelmäßig mit Strom und Wasser.
„Korruption ist überall“, sagte
Paula Yacoubian, die einzige Ab-
geordnete, die keiner politischen
Partei angehört, der „New York

Times“. „Man sieht die Korrup-
tion in den Flüssen, die nur
schwarze, stinkende Abwasser-
kanäle sind. Man sieht sie an 220
Kilometern Küste, an der man
wegen Verschmutzung nicht
schwimmen kann.“
Der seit Jahren aufgestaute
Frust entlud sich am 17. Oktober,
als bekannt wurde, dass die Re-
gierung Kommunikation per In-
ternet besteuern will. Seither
blockieren Hunderttausende die
wichtigsten Verkehrsadern und
halten Schulen, Banken und vie-
le Geschäfte geschlossen. Das li-
banesische Pfund verliert rapide
an Wert. Wirtschaftsexperten
warnen vor einem Kollaps. Das
wollen Nasrallah und sein Pa-
tron, die Islamische Republik
Iran, um jeden Preis verhindern.
Eigentlich sollte der Libanon
nämlich als ihr gemeinsames
Vorzeigeobjekt dienen. Seit Jah-
ren unterstützen die Ayatollahs
die Hisbollah mit Hunderten
Millionen Dollar pro Jahr, rüsten
sie mit ihren besten Waffen aus,
darunter mehr als 100.000 Rake-
ten. So konnte die Hisbollah
Bauprojekte und ein dichtes so-
ziales Netzwerk für Libanons

Schiiten finanzieren, die lange
die Unterschicht im von ethni-
schen und religiösen Trennlini-
en gezeichneten Land bildeten.
Im Gegenzug lieferte die His-
bollah dem persischen, schiiti-
schen Iran ein Entree in die
mehrheitlich sunnitische, arabi-
sche Welt, indem sie die Ayatol-
lahs zu Verbündeten des he-
roischen Widerstands im Kampf
gegen Israel und den amerikani-
schen Imperialismus stilisierte
und so ihre Einflussnahme legi-
timierte. Die Strategie schien
aufzugehen. Die Hisbollah ist die
mächtigste Miliz im Libanon,
verfügt über mehr Waffen als die
libanesische Armee und hat im
Süden einen Staat im Staate er-
richtet. Seit neun Monaten re-
giert sie im Rahmen einer brei-
ten Koalition mit. Das Bündnis
mit ihrem einstigen Erzrivalen
Hariri verlieh der Miliz, die von
vielen westlichen Staaten als

Terrororganisation kategorisiert
wird, ein Maß an Legitimation.
All das wird nun infrage ge-
stellt. Auf Anweisung Teherans
kämpften Tausende Hisbollah-
Milizionäre in Syriens Bürger-
krieg mit. Hunderte fielen, Tau-
sende wurden verwundet. Die
Versorgung der Hinterbliebenen
und Kriegsversehrten erfordert
enorme Summen, just zu einer
Zeit, in der harte US-Sanktionen
den Iran in den Bankrott trei-
ben. Teheran hat deshalb die Zu-
wendungen an die Hisbollah
drastisch gekürzt. Nun werden
im Libanon Gehälter und Renten
gestrichen, Dienstleistungen
eingestellt. Das Modell Hisbol-
lah droht an Syriens Bürgerkrieg
zu zerbrechen. Im Libanon
wächst selbst unter Schiiten der
Unmut über die Misswirtschaft
der Widerstandsbewegung, die
lange als Vorkämpferin der Ar-
men und Unterdrückten galt. In
Libanons Süden demonstrierten
Schiiten, griffen gar Büros der
Hisbollah an und kritisierten
Nasrallah.
Der will diese Anfeindungen
nicht mehr dulden. Zeigte er an-
fangs noch Verständnis für die
Demonstranten, än-
derte er inzwischen
seine Rhetorik. Die
Proteste würden von
„ausländischen Staa-
ten und Geheimdiens-
ten“ organisiert, be-
hauptete er vor kur-
zem. Die Hisbollah-na-
he Nachrichtenseite
„al-Manar“ bezeichnet
die friedlichen De-
monstranten inzwi-
schen als „Banditen“.
Die Absicht ist klar:
Die Protestler sollen
zu Verrätern abge-
stempelt und so für vo-
gelfrei erklärt werden.
Nasrallah hat sein Ar-
senal bereits gegen den libanesi-
schen Staat eingesetzt. Im Jahr
2008 brachten bewaffnete Mili-
zionäre binnen Stunden ganz
Beirut in ihre Gewalt, um Hariris
Versuch zu vereiteln, Kommuni-
kationsnetzwerke der Hisbollah
zu verstaatlichen. Auch jetzt be-
gnügt Nasrallah sich nicht mit
Worten. Immer wieder entsand-
te er Anhänger, um den Demons-
tranten gewaltsam entgegenzu-
treten.
Bis Dienstag gelang es der Ar-
mee, das zu verhindern. Doch
kurz vor Hariris Rede erschienen
plötzlich Hunderte schwarz ge-
kleidete Hisbollah-Anhänger in
Beirut, skandierten bedrohlich
„Schiiten, Schiiten!“, und fielen
schließlich über friedliche Pro-
testler her. Sie steckten ihre Zel-
te in Brand und trieben sie mit
Knüppeln auseinander, bis die
Polizei die Zusammenstöße mit
Tränengas beendete.

Der Rücktritt des Premiers löst


Jubel und Gewalt im Libanon aus


Proteste zwingen Regierungschef Saad al-Hariri zum Abgang, den
Demonstranten reicht das aber nicht. Die Gefahr von Unruhen steigt

Ein Demonstrant schwenkt auf dem Märtyrerplatz
die libanesische Flagge

DPA

/ MARWAN NAAMANI
Free download pdf