Handelsblatt - 31.10.2019

(Michael S) #1

Zweifel an Scheuers Durchsetzungsfähigkeit


Die Mobilfunkstrategie der


Bundesregierung soll den


Netzausbau beschleunigen.


Allerdings sind viele wichtige


Details noch offen.


C. Kerkmann, S. Kersting,


F. Specht Düsseldorf, Berlin


B


eim Digitalgipfel in Dortmund
hatte Kanzlerin Angela Mer-
kel am Dienstag noch einmal

die Richtung vorgegeben: Ziel müsse


eine flächendeckende, leistungsfähi-


ge Dateninfrastruktur sein – auch


wenn das nicht ganz einfach werde.


Das Kunststück, ein leistungsfähiges


Mobilfunknetz auch auf dem Land


aufzubauen, soll Verkehrs- und Infra-


strukturminister Andreas Scheuer


(CSU) vollbringen.


Am Mittwoch hat das Bundeskabi-


nett die Eckpunkte seiner Mobilfunk-


strategie beschlossen. Sie sieht unter


anderem vor, Lücken im 4G-Netz mit
einem Fördermodell zu schließen,
die Mobilfunkanbieter mit einer Ver-
längerung von Frequenzzuteilungen
zu entlasten und die Planungs- und
Genehmigungsverfahren zu be-
schleunigen. Außerdem setzt sich die
Bundesregierung das Ziel, Deutsch-
land zum Leitmarkt für den neuen
Mobilfunkstandard 5G zu entwickeln.
Bitkom-Präsident Achim Berg
sprach von einem „wichtigen Schritt
für einen schnelleren Netzausbau“.
Auch die Netzbetreiber äußerten sich
vorsichtig optimistisch. Für einen
schnelleren Ausbau der Mobilfunk-
netze müsse der rechtliche und poli-
tische Rahmen stimmen, erklärte die
Deutsche Telekom: „Die Eckpunkte
gehen in die richtige Richtung“, seien
aber zum Teil noch vage.
Ein Punkt sorgt indes für Diskus-
sionen: die staatliche Mobilfunkinfra-
strukturgesellschaft, kurz MIG. Sie
soll den Netzausbau dort überneh-

men, wo es sich für private Anbieter
nicht lohnt, zum Beispiel in wenig
besiedelten Regionen. Was im Grund-
satz sinnvoll sein mag, wirft im Detail
Fragen auf – etwa zur Rolle des Staa-
tes und zur Organisationsform.
„Nach der gegen heftigen Wider-
stand auch von unserer Seite durchge-
setzten Privatisierung vor 25 Jahren
macht die Bundesregierung jetzt einen
Salto rückwärts“, sagt Verdi-Experte
Christoph Heil. Zu viele Fragen seien
offen, etwa, wie der Bund Kommunen
dazu bewegen wolle, Liegenschaften
für Mobilfunkmasten abzugeben oder
mit welchen Durchgriffsrechten er Pla-
nungsverfahren vor Ort beschleunigen
könne. Friedhelm Schäfer, Zweiter
Vorsitzender des Beamtenbunds, fragt
sich, ob eine neue Bundesgesellschaft
wirklich nötig ist „oder bestehende
Verwaltungsstrukturen das gleiche Er-
gebnis in derselben Zeit oder sogar
schneller erreichen können“. Dazu
müssten mehr Details bekannt sein.

Auch Thüringens Wirtschaftsminis-
ter Wolfgang Tiefensee (SPD) hätte
sich mehr Aufschluss zur Mobilfunk-
gesellschaft gewünscht. So müsse et-
wa überlegt werden, ob sich deren
Kompetenzen nicht auch auf den
Breitbandausbau erstrecken müss-
ten, wo ebenfalls mehr staatliche Ko-
ordination nötig sei. Grünen-Digital-
experte Dieter Janecek forderte eine
„öffentliche Breitbandgesellschaft“.
Die Netzbetreiber halten eine Ent-
lastung über eine staatliche Gesell-
schaft grundsätzlich für richtig. „Sie
sollte sich zunächst auf heute schon
schwierig zu realisierende Standorte
fokussieren“, betonte die Telekom.
Zudem sei eine „enge Abstimmung“
mit den Anbietern erforderlich.
Wichtig für die Unternehmen: Eine
Verpflichtung, die staatlichen Stand-
orte an die Netze anzuschließen,
sieht die Strategie nicht mehr vor. Zu-
mindest dieser Punkt dürfte nicht
mehr für Streit sorgen.

Europaparlament


Attacken aus dem Glashaus


Bei EU-Kommissaren legt die


EU-Volksvertretung strenge


ethische Maßstäbe an. Bei


sich selbst nehmen es die


Abgeordneten nicht so genau.


Ruth Berschens Brüssel


E


s läuft nicht rund für Ursula
von der Leyen in Brüssel: Die
designierte EU-Kommissions-

präsidentin weiß selbst nicht genau,


wann sie ins Amt kommt. Und sie


kann auch nicht sagen, wer ihrem


Team am Ende angehören wird: Vier


von 28 Stellen in der EU-Kommission


sind nach wie vor vakant.


Großbritannien weigert sich, über-


haupt einen Kommissar nach Brüssel


zu entsenden. Die Bewerber aus Ru-


mänien, Ungarn und Frankreich fie-


len im Europaparlament durch. Ob


die Ersatzkandidaten vor den EU-


Volksvertretern bestehen können, ist


keineswegs sicher.


Nächste Woche muss der neue


französische Kandidat Thierry Breton


die erste Hürde im Parlament neh-


men: Der Rechtsausschuss überprüft


seine Vermögensverhältnisse auf


mögliche Interessenkonflikte. Top-


manager Breton – derzeit ist er Vor-


standschef des IT-Dienstleisters Atos



  • versprach zwar, seine Aktienpakete


zu verkaufen, wenn er in Brüssel an-


tritt. Doch ob den Abgeordneten das


reichen wird, weiß niemand.


Das Europaparlament legt so stren-


ge ethische Maßstäbe an wie nie zu-


vor – allerdings nicht bei allen EU-


Kommissaren. Den künftigen Außen-


beauftragten Josep Borrell winkten


die Volksvertreter durch, obwohl der


Spanier wegen Insiderhandels be-


straft worden war. Die bisher nicht


vorbestrafte Französin Sylvie Goulard


fand dagegen keine Gnade. Obwohl


die Ermittlungen wegen einer Schein-


beschäftigungsaffäre gegen sie nicht


abgeschlossen sind, ließen die Abge-


ordneten die Unschuldsvermutung


bei Goulard nicht gelten. „Wir neh-


men die Integrität unserer Institutio-


nen sehr ernst und konnten sie des-


halb nicht unterstützten“, verkünde-


te Esther der Lange, Vizevorsitzende
der größten Fraktion EVP. „Wir ha-
ben nur unseren Job als Abgeordnete
getan – ohne Übertreibungen und oh-
ne Zugeständnisse“, meinte der fran-
zösische EVP-Mann Geoffroy Didier.
Die zur Schau getragene Selbstzu-
friedenheit finden selbst im Europa-
parlament nicht alle gut. In der EVP
sei die Ablehnung von Goulard
durchaus umstritten gewesen, heißt
es in Fraktionskreisen. „Da gab es Wi-
dersprüche“, räumt ein EVP-Mann
ein. Die Grünen üben ganz offen Kri-
tik. „Es wurde mit zweierlei Maß ge-
messen“, meint Europaparlamenta-
rier Daniel Freund.
Das Problem: So streng die EU-
Volksvertreter die persönliche Inte-
grität anderer beurteilen, so großzü-
gig behandeln sie sich selbst. Rund
ein Drittel der Abgeordneten geht Ne-
benjobs nach, die ihnen insgesamt
zwischen sechs und 16 Millionen
Euro jährlich einbringen. Genaueres
weiß man nicht, weil die Abgeordne-
ten zu ihren Finanzen nur vage Anga-
ben machen. Das gilt auch für die Art

der Nebenbeschäftigung. Berufsbe-
zeichnungen wie „selbstständiger Be-
rater“ reichen aus. Damit sei es „sehr
schwierig, potenzielle Interessenkon-
flikte festzustellen“, moniert die
Nichtregierungsorganisation Trans-
parency International.
Unter den Topverdienern befinden
sich auffällig viele Populisten von der
Brexit-Partei und von der Lega Nord.
Aber auch bekannte Vertreter proeu-
ropäischer Fraktionen sind dabei.
Guy Verhofstadt rangiert auf Platz
fünf mit einem Zusatzeinkommen
von bis zu 425 000 Euro. Der frühere
belgische Premier kassiert ein Gehalt
als Vorstandschef einer Beteiligungs-
gesellschaft und Vortragshonorare.
Der französische EVP-Mann Geoffrey
Didier verdient als Anwalt bis zu
120 000 Euro jährlich dazu und ge-
hört damit zu den 50 bestbezahlten
Europaabgeordneten. Das jährliche
Zusatzeinkommen der CSU-Europa-
parlamentarierin Angelika Niebler
liegt irgendwo zwischen 36 000 und
191 000 Euro. Genaueres verrät sie
nicht in ihrer Interessenerklärung.

Die Anwältin arbeitet für eine US-
Kanzlei, die Konzerne wie Facebook
zu ihren Kunden zählt.
Obwohl lukrative Nebenjobs im
Hohen Haus der EU durchaus üblich
sind, wollten manche Abgeordnete
der französischen Kandidatin Sylvie
Goulard einen Strick daraus drehen.
Als EU-Parlamentarierin hatte Gou-
lard zeitweise monatlich 10 000 Euro
vom US-Thinktank Berggruen kas-
siert und wurde deshalb in ihrer ers-
ten Anhörung im Binnenmarktaus-
schuss massiv attackiert – „aus dem
Glashaus heraus“, wie ein EU-Diplo-
mat trocken bemerkt.
Der Europäische Rechnungshof
(ERH) hat den laxen Umgang des Par-
laments mit Nebeneinkünften erst
kürzlich kritisiert. Die Einkommens-
angaben der Abgeordneten würden
nur oberflächlich auf ihre Plausibili-
tät geprüft, heißt es in einem Sonder-
bericht. Ein schriftliches Standard-
verfahren dafür gebe es nicht – und
daraus resultiere, „dass Pflichten wi-
dersprüchlich interpretiert werden“.
Das Parlament benötige „robuste
Kontrollen“ des von den Abgeordne-
ten angegebenen Einkommens, sagte
ERH-Vorstandsmitglied Mihails
Kozlovs dem Handelsblatt.
Grünen-Parlamentarier Freund
reicht das nicht. Er verlangt, die Ne-
beneinkünfte der Parlamentarier auf
maximal 15 Prozent ihrer Diät zu be-
grenzen. Das wären nur noch 1 313
Euro monatlich.
Ein anderer Vorschlag kam von der
designierten Kommissionspräsiden-
tin. Ursula von der Leyen will eine
unabhängige Ethikbehörde schaffen,
die alle EU-Institutionen überwacht.
Auch Frankreichs Präsident Emma-
nuel Macron ist dafür. Was der Präsi-
dent des Europaparlaments David
Sassoli von solchen Initiativen hält,
war trotz mehrfacher Nachfragen
nicht zu erfahren. Der Sozialdemo-
krat aus Italien scheint mit dem Sta-
tus quo zufrieden zu sein. Doch
Rechnungshofprüfer Kozlovs warnt:
„Wenn das Parlament das Problem
ignoriert“, könne es zu Skandalen
kommen, „die den Ruf der EU insge-
samt beschädigen.“

Ursula von der Leyen:
Noch nicht alle Posten
der EU-Kommission
besetzt.

AP

Wir haben


nur unseren


Job als


Abgeordnete


getan – ohne


Übertreibungen


und ohne


Zugeständnisse.


Geoffroy Didier
EVP-Abgeordneter

Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 31. OKTOBER 2019, NR. 210


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