Deutsche Bank
Vor der
Grippesaison
N
immt man die Börse als
Maßstab, dann wären die
Zahlen, die die Deutsche
Bank am Mittwoch für das dritte
Quartal vorgelegt hat, eine mittlere
Katastrophe. Um bis zu sieben Pro-
zent sackte der Kurs des noch im-
mer mächtigsten heimischen Geld-
hauses ab. Steht es wirklich so
schlimm um das leidgeprüfte Frank-
furter Institut? Die Antwort auf die-
se Frage ist eine wenig befriedigen-
de: „Im Prinzip nicht, in der Praxis
aber vielleicht doch.“
Trotz der heftigen Verluste an der
Börse finden sich in den Zahlen der
Bank einige eher beruhigende Bot-
schaften: Der tiefgreifende Umbau,
den Vorstandschef Christian Sewing
angestoßen hat, liegt im Plan, und
die neuen Kernbereiche laufen
zwar alles andere als grandios, hal-
ten sich insgesamt aber doch ganz
wacker. Kurz zusammengefasst: An-
gesichts der riesigen Aufgabe, die
vor Sewing und seinen Kollegen
liegt, sehen die Quartalszahlen ei-
gentlich nicht übel aus. Zieht man
das sich rapide verschlechternde
Umfeld für die gesamte Branche mit
ins Kalkül, dann war kaum mehr zu
erwarten.
Doch genau dieses Umfeld ist das
Problem. Die Banken müssen sich
nicht nur auf chronische Minus -
zinsen einstellen, sondern auch auf
eine empfindliche Abkühlung der
Konjunktur – und das in einer Zeit,
in der sie eigentlich alle Kräfte auf
den digitalen Wandel konzentrieren
müssten, der die gesamte Branche
umkrempeln wird.
Sewings derzeit größtes Problem:
Die Deutsche Bank geht in diese für
alle schwierige Phase aus einer Posi-
tion der Schwäche. Denn die meis-
ten europäischen Konkurrenten ha-
ben den kräftezehrenden Umbau
nach der Finanzkrise längst hinter
sich gebracht.
Ein angeschlagener Patient zu
Beginn der Grippesaison, so lässt
sich die aktuelle Situation der Bank
umschreiben. Genau diese Kombi-
nation ist es, die den Investoren
Sorgen bereitet. Und diese Sorgen
sind trotz einer ganzen Reihe beru-
higender Nachrichten im Zahlen-
werk für das dritte Quartal durch-
aus rational.
Vorstandschef Sewing kommt mit
der Sanierung voran. Doch die
Zeiten werden rauer und sein Job
schwieriger, warnt Michael Maisch.
Worte des Tages
„Trotz der Unruhe, die in Zeiten einer solch
radikalen Transformation normal ist, und
trotz eines noch niedrigen Zinsniveaus
haben wir in unserer Kernbank
profitabel gearbeitet.“
Christian Sewing, Vorstandschef Deutsche Bank
Der Autor ist stellvertretender
Ressortleiter Finanzen.
Sie erreichen ihn unter:
A
merikas Börsen eilen von Rekord zu
Rekord, selbst der Dax ist davon nur
noch knapp entfernt. Bis auf fünf Pro-
zent hat der Index sich dem Allzeit-
hoch von 13 560 Punkten aus dem Ja-
nuar 2018 angenähert. Doch die Erwartungen und
Spekulationen an der Börse scheinen nicht mit dem
rauen Alltag der Realwirtschaft zusammenzupassen.
Weltweit wächst die Wirtschaft so langsam wie seit
einem Jahrzehnt nicht mehr. Deutschlands Industrie
verharrt in einer Rezession: Die Erträge in den
Schlüsselbranchen Automobil, Maschinenbau und
verarbeitendes Gewerbe entwickeln sich nun schon
seit drei Quartalen schlechter als im jeweiligen Vor-
jahreszeitraum. Der Spezialchemiekonzern Covestro
bilanzierte für das dritte Quartal einen um 70 Pro-
zent eingebrochenen Nettogewinn, und der sehr viel
größere Chemieriese BASF hält an seiner um bis zu
30 Prozent gekappten Ertragsprognose fest. Woche
für Woche senken Analysten ihre Gewinnschätzun-
gen, allein für die 30 größten börsennotierten Unter-
nehmen, wie sie im Dax notieren, fielen sie in den
vergangenen drei Monaten um weitere fünf Prozent
- nachdem bereits seit über einem Jahr die Erwar-
tungen stetig herabgesetzt wurden.
Dass sich die Börse diesem Abwärtstrend so kraft-
voll entgegenstemmt, ist beachtlich. Entweder Anle-
ger sehen was, was andere (noch) nicht sehen – ei-
nen neuen Aufschwung etwa. Oder aber sie rennen
ins Verderben, weil der Rückschlag umso größer
ausfällt, je mehr die Kurse jetzt steigen. Die Wahr-
heit dürfte, wie so oft, in der Mitte liegen. Börsianer
mögen derzeit vielleicht risikofreudig über viele
Schwächen hinwegsehen. Doch ganz so unbedacht,
wie es auf den ersten Blick erscheint, kaufen sie Ak-
tien gar nicht. Dazu drei Argumente:
Erstens, der Abschwung in der Realwirtschaft fällt
bislang schwächer aus als zuvor befürchtet. Trotz
Handelskonflikt, eines drohenden Endes der Globali-
sierung durch Protektionismus in weiten Teilen der
industrialisierten Welt und einer China schwäche lan-
den wir nicht in einer weltweiten Rezession. Ein Ein-
bruch wie vor zehn Jahren, als die Welt nach dem
Zusammenbruch der Investmentbank Lehman in ei-
ne Schockstarre verfiel, ist ausgeblieben. Positiv
wirkt zudem, dass der ungeordnete Austritt Großbri-
tanniens aus der Europäischen Union, worunter auf
dem Festland vor allem die vielen exportstarken
deutschen Unternehmen angesichts langer Wartezei-
ten und neuer Zölle leiden würden, mit wachsender
Wahrscheinlichkeit ausbleiben könnte. Konjunktur-
empfindliche Unternehmen, zu denen in vorderster
Front Covestro und BASF zählen, bilanzieren zwar
Gewinneinbrüche, aber keine Verluste.
Daraus folgt zweitens: Die starken Kursverluste
vieler Aktien, vor allem die der Automobilhersteller,
ihrer Zulieferer und anderer Industriekonzerne im
vergangenen Jahr waren offenbar übertrieben. Die
Börse holt 2019 ein Teil dessen auf, was sie 2018 in
Erwartung düsterer Zeiten verloren hatte. Die Flut
an Gewinnwarnungen, wie wir sie noch in der ersten
Jahreshälfte 2019 erlebt haben, wiederholt sich im
zweiten Halbjahr nicht. Die Unternehmen haben mit
ihren vielen Warnungen zwar nicht zu tief gestapelt,
aber der 2018 begonnene und Anfang 2019 forcierte
Abschwung wird nicht größer wie befürchtet. Das
honorieren die Börsen.
Drittens, und das ist das stärkste Argument gegen
fallende Kurse: Anlegern fehlen die Alternativen. An-
leihen erwirtschaften angesichts der Nullzinspolitik
der Notenbanken und deren Aufkauf von Staats- und
Firmenanleihen schon lange keine Renditen mehr.
Dasselbe gilt fürs Sparbuch. Die Preise für Immobi-
lien sind kräftig gestiegen, und Rohstoffe eignen sich
aufgrund des engen Marktes und hoher Kursschwan-
kungen kaum als langfristige Anlage. Bleiben Aktien
als vermeintlich einzige Alternative. Dass sie immer
teurer werden, weil die Kurse steigen, gleichzeitig
aber die Gewinne der Unternehmen sinken, nehmen
Anleger in Kauf.
Diese Argumente mögen erklären, warum die Ak-
tienkurse nicht fallen. Allerdings, auf einen baldigen
Aufschwung zu spekulieren, wie es die Börse seit
Wochen vormacht, ist zu früh und fahrlässig. Denn
zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass BASF, Cove-
stro und Co. weit und breit keine Signale für einen
Aufschwung, geschweige denn einen neuen Boom
erkennen. Im Gegenteil, die Herausforderungen und
Risiken bleiben groß, wie etwa BASF-Chef Martin
Brudermüller betont.
Gut möglich, dass die Konjunktur und die vielen
deutschen Industrieunternehmen vor einer langen
Phase stehen, in der sich Stagnation und allenfalls
schwaches Wachstum abwechseln. Eben weil Asien
und das für deutsche Konzerne so wichtige China
nur noch schwach wachsen, in den USA der Boom
zu Ende geht und in weiten Teilen Europas, vor al-
lem in Deutschland, die Zeiten hoher Wachstums -
raten angesichts alternder Gesellschaft und gesättig-
ter Nachfrage vorbei sind. Zu solch einem Szenario
passen allerdings keine rasant steigenden Aktienkur-
se, wie wir es seit Wochen erleben.
Leitartikel
Die Börse wettet auf
den Aufschwung
Jetzt auf einen
Boom zu
spekulieren, nur
weil die tiefe
Rezession
ausbleibt, ist zu
früh und
fahrlässig, warnt
Ulf Sommer.
Über viele
Schwächen
sehen Börsia-
ner risikofreu-
dig hinweg.
Doch ganz so
unbedacht, wie
es erscheinen
mag, ist ihr
Verhalten nicht.
Der Autor ist Redakteur im Ressort Unternehmen
& Märkte. Sie erreichen ihn unter:
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Meinung
& Analyse
DONNERSTAG, 31. OKTOBER 2019, NR. 210
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