Die Welt - 09.11.2019

(ff) #1
BAP

Die DDR hatte den sächselnden Ulbricht,
die BRD alle anderen Mundarten und
nicht nur im Munde von Politikern. Es
gab Dialekttheater, sogar im Fernsehen,
als Ohnsorg und Millowitsch, es gab end-
lose Fastnachtssitzungen im Meenzer
Gebabbel, und es gab natürlich Dialek-
trock, es gab die Spider Murphy Gang
und die Rodgau Monotones („unser Da-
vid Bowie heißt Heinz Schenk“). Uner-
reicht aber die Kölner linksalternative
Szene: Die als pure Karnevalsband gro-
test missverstandenen „Bläck Fööss“, die
tatsächlich scharfe Satiriker kleinbürger-
lichen Spießertums und dunkeldeutscher
Gemütlichkeit waren. Die Westdeut-
schesten von allen aber waren BAP, die
vielleicht gerade deswegen auch jenseits
der Mauer ihre Fans hatten: Ihre DDR-
Tour 1984 wurde abgesagt, weil ihr Lied
„Deshalv spill mer he“ außer Abrüstung
Meinungsfreiheit auch im Osten forder-
te. Die Band um Sänger Wolfgang Niede-
cken erreichte ihre Höhepunkt Anfang
der Achtziger, als musikalischer Arm der
Friedensbewegung, die eine ganze Gene-
ration der Nach-68er prägte: „Plant mich
bloß nit bei üch inn“ aus dem Song „10.
Juni“, dem Tag der Nato-Demo auf den
Kölner Rheinwiesen, war der zeittypi-
sche Ausdruck westdeutscher Totalver-
weigerung; ihr Lied „Kristallnaach“ eine
ergreifende und bis heute gültige Formu-
lierung von „Nie wieder“ und „Wehret
den Anfängen“ – op Kölsch. rik

MATCHBOX

Ein wesentlicher Zweig der deutschen
AAAutoindustrie waren die Matchbox-Wer-utoindustrie waren die Matchbox-Wer-
ke in Hösbach und Rees. Ohne die Minia-
turmodelle aus der Serie „Superfast“ wä-
ren die deutschen Automänner nicht ge-
worden, was sie lange waren. In den
Neunzigerjahren wurde Matchbox dann
von Mattel geschluckt, von Barbie. Die
WWWerke in Rees und Hösbach wurden Bau-erke in Rees und Hösbach wurden Bau-
märkte. mp

FIX & FOXI

Fuuuxholzen war das deutsche Entenhau-xholzen war das deutsche Entenhau-
sen. Es lag in der Bundesrepublik. Rolf
Kauka, der Sohn eines sächsischen
Schmiedes, gründete die Stadt im Wes-
ten, als der Osten seine Mauer baute. In
Fuxholzen lebten Fix und Foxi, zwei ge-
scheite Jungfüchse, ihr biederer Onkel
Fax und der Wolf Lupo, er nahm als ent-
schiedener Hedonist die wunderbare
BRD der Siebziger und Achtziger vorweg.
Rolf Kauka hatte 1965 sogar Asterix und
Obelix germanisiert zu Sigi und Barbar-
ras, die in ihrem Dorf Bonhalla, „den Ge-
danken an die Wiedervereinigung mit
den Brüdern und Schwestern im übrigen
Germanien längst unter einer Donarei-
che vergraben“ hatten. Als die Mauer fiel,
fffiel auch Fuxholzen. Fix und Foxi, dieiel auch Fuxholzen. Fix und Foxi, die
sich lieber in der Tradition der deutschen
Fabel und den Bildgeschichten Wilhelm

Buschs gesehen hatten als in der globalen
Comictradition, wurden zu Opfern der
Globalisierung. mp

BOTHO STRAUSS

Nirgendwo ist die westdeutsche Gesell-
schaft gültiger beschrieben und zugleich
üüüberhöht worden als in den frühen Dra-berhöht worden als in den frühen Dra-
men von Botho Strauß. Egal ob „Lotte
Kotte“ in „Groß und Klein“ die die bun-
desdeutsche Arbeits-, Familien- und Frei-
zeitwelt durchwandert und daran irre
wird oder in „Kalldewey Farce“ der modi-
sche Therapiewahn mit dem antiken My-
thos zusammenknallt. Zugleich ist das so
allgemeingültig, dass Cate Blanchett 30

Jahre später am anderen Welt, in Austra-
lien, die Lotte spielen konnte und es
trotzdem noch alle verstanden. mh

DIE HEIMLICHE HAUPTSTADT

Als Freddie Mercury nach Deutsch-
land kam, um hier entspannt schwul
sein zu können, ging er nicht die dre-
ckigen Klappen Berlins, sondern zu
seiner Freundin Barbara Valentin
nach München und feierte in Kneipen
wie dem „Frisco“, dem „Ochsengar-
ten“ oder der „Deutschen Eiche“. Er
wusste eben, wo das Leben schön war.
Das wusste damals jeder. Man lernte
es durch Serien „Monaco Franze“ und

„Kir Royal“ von Helmut Dietl und Pa-
trick Süskind. Deshalb galt München
als „heimliche Hauptstadt“. mh

KAUGUMMIAUTOMATEN

Die DDR hatte Selbstschussautomaten
an der Grenze, die Bundesrepublik hatte
Kaugummiautomaten an jeder Ecke. Ge-
siegt hat am Ende das Süße über das Töd-
liche. Jede aus der DDR neu nach West-
deutschland gekommen Familie erzählt,
dass gerade die etwas schmutzig wirken-
den aus rotem Plastik und Blech zusam-
mengebauten Kisten, in die man 10 Pfen-
nige warf, um eine Kugel Kaugummi zu
bekommen, die Verheißungen des Kapi-
talismus für Kinder reiner und strahlen-
der verkörperte als alle noch so glitzern-
den Schaufensterauslagen. mh

EMIL-SCHUMACHER-GEMÄLDE

WWWas ist eigentlich aus Emil Schumacheras ist eigentlich aus Emil Schumacher
geworden? Seine abstrakten Bilder, wa-
ren mit ihren verrückten Zutaten wie
Sand, Asphalt, Erdklumpen praktisch in
westdeutscher Dauerausstellung zu se-
hen, von der Sparkassenfiliale bis zum
Museum. Ein Wendeverlierer, der drin-
gend wiederentdeckt werden muss! woe

GERHARD LÖWENTHAL

Wie sehr man doch gehasst werden kann,
wenn man die Wahrheit sagt. 18 Jahre
lang, berichtete Gerhard Löwenthal in
seiner Sendung „ZDF Magazin“ ausführ-
licher und härter über Missstände in der
DDR als jedes andere West-Medium. Und
das schlimmste aus Sicht der roten Bon-
zen war daran: Auch im Osten konnte
man es sehen. In der Bundesrepublik
wwwurde er dafür von Linken und Liberalenurde er dafür von Linken und Liberalen
bestenfalls als „Karl Eduard Schnitzler
des Westens“ belacht, im schlimmsten
Falle einfach umstandslos gehasst. Es
war die Zeit, als „Antikommunist“ ein
Schimpfwort war. mh

DEUTSCHES ECK

Ich bin aufgewachsen mit einem Mahn-
mal für die deutsche Einheit. Es stand
vorne auf dem Deutschen Eck. In Ko-
blenz. Da, wo Mosel und Rhein zusam-
menfließen. Ein wilhelminischer Sockel.
Früher stand der Kaiser drauf. Wilhelm
I., der Kartätschenprinz, der ehemalige.
Hoch auf einem Ross, grüßte ins Weite.
Den Kaiser hatte im März 1945 eine ame-
rikanische Granate heruntergeschossen.
Dann war Deutschland geteilt. Und auf
dem Sockel wehte seit 1953 die deutsche
Fahne. „Mahnmal für die deutsche Ein-
heit“ hieß das Deutsche Eck. Dann war
die Einheit da, man musste – so dachte
man – nicht mehr an sie gemahnt wer-
den. Also kam 1993 der Kaiser wieder
drauf. War natürlich ein Irrtum, das mit
der überflüssigen Mahnung. Stellt sich
gerade wieder raus. Vielleicht sollte man
den Kaiser wieder herunterschießen. woe

NRW

In den Achtzigerjahren sagten alle zwi-
schen Porta Westfalica und Bad Godes-
berg Sozialisierten ganz selbstverständ-
lich NRW. Klang irgendwie gut, besser
noch als BRD, ein bisschen wie USA.
Schließlich war man ja auch mit dem Ge-
fffühl aufgewachsen, im einzig ernstzu-ühl aufgewachsen, im einzig ernstzu-
nehmenden Bundesland zu leben. Die
deutsche Wiedervereinigung, auch wenn
sie in Nordrhein-Westfalen wohl am spä-
testen angekommen ist, hat da einiges
zurechtgerückt. woe

HARALD JUHNKE

Seine Niederlagen waren immer Siege.
Seine Abstürze, geplatzten Fernsehauf-
tritte, dieses öffentliche Über-die-Strän-
ge-Schlagen waren Ausdruck einer Re-
bellion gegen die Bürgerlichkeit aus ihr
selbst heraus. Ausgefochten in der Gru-
newald-Villa, den Hotelbars West-Berlins
und Lokalen wie der „Hundekehle“ (über
die der damalige Regierende Bürgermeis-
ter sagte, dass sein Senat dort abends
vollständiger sei als bei den Senatssit-
zungen). Auch Harald Juhnke saß zuwei-
len dort und soff noch mehr als eine Ge-
sellschaft, die in den Siebzigern und
Achtzigern schon tagsüber immer leicht
einen sitzen hatte. Der Exzess provozier-
te noch nicht den besorgten Alarmismus
üüüber die gesundheitlichen Folgen einesber die gesundheitlichen Folgen eines
solchen Lebenswandels, der heute bei je-
der Gelegenheit losgetreten wird. Seine
Sucht war vielmehr geprägt von einer ge-
wissen „Leichtigkeit“, die ihm sein
Schauspielerkollege Bernhard Minetti
einmal attestierte. Mit ihr überwand
Juhnke jene oft beschworene Piefigkeit
des alten Berlins. Der Kater sollte noch
fffrüh genug kommen. rüh genug kommen. hai.

UNIVERSITÄT BIELEFELD

Die Universität Bielefeld war für die alte
Bundesrepublik das, was die Universitä-
ten von Paris und Bologna für das Hoch-
mittelalter waren – und allein das ist
schon charakteristisch. Nicht Heidelberg
oder Köln, sondern Siegen, Gießen, Kon-
stanz, Bochum oder eben Bielefeld hie-
ßen die geistigen Zentren des Westens,
hier überwinterte der Weltgeist in Sicht-
betonwaben und Glaskästen, den Gehäu-
sen der bundesdeutschen Reformuniver-
sität. In Bielefeld, der antiauratischsten
Stadt des Landes, entwarf Luhmann sei-
ne Systemtheorie, hier lehrten die Histo-
riker Reinhart Koselleck und Hans-Ul-
rich Wehler, hier unterrichtete auch der
Literaturwissenschaftler Karl-Heinz
Bohrer, kurz: Man hätte alle anderen
Hochschulen Westdeutschlands schlie-
ßen können, ohne dass man es intellektu-
ell wirklich gemerkt hätte. Vor 1989 galt
eben das Gegenteil der heute beliebten
Bielefeld-Verschwörungstheorie: Nicht
die ostwestfälische Provinzhauptstadt
war eine Erfindung, sondern der Rest der
WWWelt. elt. AR

Es war nicht


alles schlecht


Mit der Mauer


verschwand nicht


nur die DDR. Auch


die alte deutsche


Bundesrepublik


ist nicht mehr da.


Was wir seit


drei Jahrzehnten


vermissen


PICTURE ALLIANCE / IMAGEBROKER

/DPA/ HARTMUT SCHMIDT

19:00


Nach weiteren kurzen Fragen und vagen Antworten be-
endet Schabowski die Pressekonferenz rasch, um dem
US-Sender NBC ein TV-Interview zu geben.

19:02


Die Nachrichtenagentur Reuters setzt eine Eilmeldung
ab: „Ausreise über alle DDR-Grenzübergänge ab sofort
möglich.“ Das ist eine gewagte Interpretation.

19:05


Die Associated Press spitzt die Meldung noch deutlich
zu: „DDR öffnet Grenzen.“

19:17


Gegen Ende der „Heute“-Sendung berichtet das ZDF
über Schabowskis Pressekonferenz. Von einer „Öffnung
der Grenze“ ist nicht die Rede.

19:31:20


Die DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ be-
richtet ebenfalls über die Pressekonferenz: „Privatreisen
nach dem Ausland können ab sofort ohne besondere An-
lässe beantragt werden“, heißt es.

CHRONIK DES MAUERFALLS – 19:00 - 19:31:20


SCHON DIE ERSTE EILMELDUNG DER NACHRICHTENAGENTUR REUTERS NACH
SCHABOWSKIS LAPSUS ENTHÄLT DIE ENTSCHEIDENDE INFORMATION

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09.11.19 Samstag, 9. November 2019DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG, 9. NOVEMBER 2019 DAS FEUILLETON 21


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