Die Welt - 09.11.2019

(ff) #1

E


s gibt nicht mehr viele Werte, auf
die sich heute bedingungslos ge-
einigt wird. Vieles zerbröselt im
Angesicht einer gesellschaftli-
chen Situation, die ihren eigenen
Ansprüchen nicht mehr gerecht wird. Es ist
schwierig, heute noch von „Menschenwür-
de“ als universellem Gut zu sprechen und
dabei die unterlassene Hilfeleistung westli-
cher Staaten im Zusehen beim Ertrinken von
Flüchtenden im Mittelmeer auszublenden.
ÄÄÄhnlich ist es mit „Gesundheit“. Sie wird,hnlich ist es mit „Gesundheit“. Sie wird,
allein schon in dem reichen Deutschland,
spürbar immer mehr zu einem Gut, welches
abhängig ist von den finanziellen Ressour-
cen, die Personen haben. Zur selben Zeit,
wie große Studien zur Entwicklung neuer
Krebsbekämpfungsarten stattfinden, wer-
den Pestizide auf Feldern, Antibiotika im
Trinkwasser, Mikroplastik in der Kleidung
und Autoabgase in den Städten in Kauf ge-
nommen, obwohl genau so diese Erkrankun-
gen befördert werden. Ebenso sterben
gleichzeitig Menschen in Kriegen, im Stra-
ßenverkehr, in Minen, an Hunger. Menschen
weit weg sterben an eigentlich heilbaren
Krankheiten, weil sie keinen Zugang zu le-
bensrettenden Medikamenten haben. Viele
sterben an den Folgen davon, dass es hier
billige und lange haltbare Schnittblumen
und Bananen geben soll, deren Anbau Men-
schen dort, woanders, auf den Feldern lang-
sam tötet. Viele sterben auf der Flucht vor
Kriegen, vor Armut, vor Zwängen.
Das Leben hier und das Leben woanders
scheint unverbunden. Gleichzeitig sind sie
doch so stark voneinander abhängig. Viele ir-
gendwann mal so universell wirkende, strah-
lende Werte wie Menschenwürde und Ge-
sundheit haben ihre Strahlkraft weitgehend
verloren.
Nicht aber „Freiheit“. An Freiheit können
wir uns weiter festhalten. Freiheit ist und
bleibt ein universaler Wert. Freiheit löst sich
nicht auf in ein Trugbild. Der Mauerfall vor
3 0 Jahren symbolisiert einen Schritt zur
Freiheit für alle. Auf Freiheit ist Verlass. So
scheint es. So wie auf Demokratie, vielleicht
auch auf Liebe. Freiheit ist ein unhinterfrag-
bar scheinender Wert, der Mauern einreißt.
WWWas genau meint Freiheit in aktuellenas genau meint Freiheit in aktuellen
VVVerwendungen des Begriffs?erwendungen des Begriffs?
Zumeist ist Freiheit auf ein Individuum
bezogen. Freiheit ist eine Freiheit vonetwas.
Freiheit meint Unabhängigkeit von Unter-
drückung. Dies ist eine Freiheit von Zwän-
gen, Zurichtungen, Pflichten, Routinen und
Grenzen. Freiheit ist damit zugleich auch ei-
ne Freiheit zuetwas. Freiheit meint unab-
hängig leben, sich verwirklichen zu können.
Freiheit meint Bewegungs- und Meinungs-
fffreiheit, grenzenlose Freiheit.reiheit, grenzenlose Freiheit.
Wie mit allem, was wichtig ist, erscheint
auch die persönliche Freiheit häufig be-
droht. Ein wiederkehrendes Bedrohungssze-
nario ist die Angst, die Meinungsfreiheit sei
bedroht. Feminist*innen und Antirassist*in-
nen wird Zensur vorgeworfen, wenn sie Vor-
schläge für antidiskriminierende Sprachfor-
men machen. Diese Wünsche und Bitten für
einen diskriminierungskritischen Sprachge-
brauch werden häufig emotional erhitzt als
Bedrohung der Meinungsfreiheit bezeich-
net, als Gesinnungspolizei und Sprechverbo-
te. Ist Gewalt eine Meinung? Wann ist eine
ÄÄÄußerung eine Meinung, wann ist sie sprach-ußerung eine Meinung, wann ist sie sprach-
liche Gewalt? In meiner Wahrnehmung ma-
chen diese Äußerungen genau das, was sie zu
kritisieren vorgeben: Sie versuchen Sprach-
veränderungsvorschläge zu zensieren.
Letztendlich treffen sie also nur eine Aussa-
ge über sich selbst und das eigene einge-
schränkte Freiheitsverständnis. „Freiheit ist
immer die Freiheit der Andersdenkenden“,
hat Rosa Luxemburg formuliert.
Das, was unter dem allgemeinen Label
Freiheit heute verstanden wird, ist gerahmt
von einem neoliberalen Grundverständnis.
Das Ideal einer durch Freiheit gekennzeich-
neten Gesellschaft steht als gedachter Ge-

genpol einer Gesellschaft gegenüber, die aufenpol einer Gesellschaft gegenüber, die auf
ZZwang aufbaut. Freiheit ist ein Möglichkeits-
raum, den ein Staat seinen Bürger*innen bie-aum, den ein Staat seinen Bürger*innen bie-
tet: freie Wahlen, freie Willensbildung undet: freie Wahlen, freie Willensbildung und
fffreie Berufswahl. Mit dem Fall der Mauerreie Berufswahl. Mit dem Fall der Mauer
gab es Freiheit statt Diktatur. Diktatur ist
eindeutig negativ belegt im gesellschaftli-
chen Lexikon. „Ökodiktatur“ ist ein Beispiel
einer aktuellen emotionsgeladenen, abwer-
tenden Belegung. Das Gegenteil der Ökodik-
tatur ist die sich selbst regulierende freie
Marktwirtschaft. Die freie Marktwirtschaft
ermöglicht grenzenlose Wahlfreiheit. Zum
Beispiel im Supermarkt. Die Möglichkeit, fri-
sche Erdbeeren auch im Winter essen zu
können. Der freie Markt soll so weit wie
möglich ohne staatliche Eingriffe agieren, er
reguliert sich selbst. Sozialleistungen des
Staates sind in diesem Modell staatliche
WWWettbewerbsverzerrungen. Was genau istettbewerbsverzerrungen. Was genau ist
hier frei? Für welche Personengruppen be-
deutet Marktwirtschaft Freiheit und für wel-

che nicht? Freiheit im Rahmen einer neoli-
beralen Logik ist ein ökonomischer Zwang.
Dieser wird wegerklärt zu individuellem
WWWWWWünschen. So ist die machtvolle Gewalt ver-ünschen. So ist die machtvolle Gewalt ver-ünschen. So ist die machtvolle Gewalt ver-ünschen. So ist die machtvolle Gewalt ver-
deckt, die der Rahmen dieser Wirtschafts-
ordnung bereits vorgibt. In meiner Wahr-
nehmung ist dieses die Gesellschaft beherr-
schende Modell frei von Verbindungen zwi-
schen Menschen und Menschen mit ande-
rem Lebendigem.
Das wird auch in der Verwendung des Be-
griffs „frei“ im Privatbereich deutlich. „Ich
bin frei“ heißt so viel wie „ich bin nicht ge-
bunden“, „ich bin ohne feste Beziehung“. Ei-
ne freie Person ist also „(noch) zu haben“,
ist verfügbar im Rahmen von Partner*innen-
schaftslogiken. Frei-Sein ist hier also in ei-
nem weniger positiven Sinne ungebunden
zu sein. Für Frauen gilt dies grundsätzlicher
als für Männer. In einem Modell, in dem das
Paar das Ideal ist, heißt frei sein also unver-
bunden zu sein. Die Aussage „Ich habe heute

abend frei“ geht in dieselbe Richtung: Es be-bend frei“ geht in dieselbe Richtung: Es be-
deutet frei von Pflichten.
Der Begriff „Freie Liebe“ ist ein durch Fe-er Begriff „Freie Liebe“ ist ein durch Fe-
ministinnen in den 1870er-Jahren in den USAinistinnen in den 1870er-Jahren in den USA
eingeführter Begriff. Er drückte den Wunsch
aus nach Liebesbeziehungen für Frauen, die
nicht geprägt sind von ökonomischen Ab-
hängigkeiten. Dies galt sowohl für die Ehe
als auch in Bezug auf Sexarbeit. Der Begriff
ist dann von der 68er-Bewegung in Deutsch-
land übernommen worden und wird seitdem
fffür sexuelle Kontakte jenseits der Ehe ver-ür sexuelle Kontakte jenseits der Ehe ver-
wendet. Von hier ist er weiter übernommen
worden für polyamouröse Beziehungen:
Mehrfachbeziehungen, die auch Sex beinhal-
ten. In allen diesen Verwendungen findet
sich also die häufig anzutreffende, seltsame
Ineinssetzung von „Liebe“ und „Sex“. So wie
in „sie liebten sich“.
VVVerwendet in Bezug auf Individuen zeigterwendet in Bezug auf Individuen zeigt
„frei“ gesellschaftliche Normalvorstellungen
auf, die so ganz anders als frei sind: Freiheit

ist nur dann ein Wunsch, wenn der erlebte
individuelle Normalzustand geprägt ist von
Zwang, Pflicht, Regeln und Regulierungen.
Dies gilt sowohl für Arbeit wie auch für Fami-
lie. Beide gehören zum Ideal individuellen
Lebens: eine gute Arbeit, eine intakte, liebe-
volle Familie. Es gibt – theoretisch – auch kei-
ne Zwangsehen unter Deutschen, das sind
die Probleme anderer. Zu heiraten ist also ein
AAAkt freien Willens. Warum aber wird dannkt freien Willens. Warum aber wird dann
nicht die Ehe als freie Liebe verstanden – ein-
gegangen ohne Zwang und aus dem Wunsch,
zusammen zu sein? Was heißt es, wenn sich
Ehe und freie Liebe gegenüberstehen?
Das, was vordergründig so positiv wirkt,
fffrei zu sein, Freiheit zu haben, ist bei ge-rei zu sein, Freiheit zu haben, ist bei ge-
nauerer Betrachtung also stark geprägt von
neoliberalen Logiken. Welche Personen-
gruppen haben Bewegungsfreiheit – und
welche nicht? Für welche Menschen gilt der
deutsche Slogan „Freie Fahrt für Freie Bür-
ger“? Wer sind diese „Bürger“ und welche
Menschen gehören nicht zu dieser diffusen
Gruppe Tempolimit-befreiten Autobahn-In-
dividualverkehrs? Auch hier wird ein als uni-
versell hergestelltes Ideal von Freiheit ver-
wendet. Es verdeckt, dass es einiger Privile-
gien bedarf, um diese Freiheiten leben zu
können. Letztendlich dient der so gebrauch-
te Freiheitsbegriff dazu, massive Zwänge
nicht wahrzunehmen: Geld zu haben, einen
gut bezahlten Job, gesund zu sein, ein Auto
zu haben oder auch mehrere, einen be-
stimmten Pass und Aufenthaltsstatus. Die
fffreie Marktwirtschaft wäre nicht frei, würdereie Marktwirtschaft wäre nicht frei, würde
sie die Möglichkeiten aller Menschen mei-
nen, die unter ihr leben. Freie Marktwirt-
schaft ist Zwang zu grenzenlosem Konsum.
Die Idee der Grenzenlosigkeit als Freiheit ist
hier also in einer pervertierten Form zu fin-
den. Als Freiheit kann dies nur von denjeni-
gen erlebt werden, die grenzenlos konsumie-
ren können, ohne über die Kosten für andere
nachdenken zu müssen. Es ist die Freiheit
derjenigen, die Neoliberalismus als Ideolo-
gie und Rahmen nicht hinterfragen.
Rosa Luxemburgs Satz würde erweitert
heißen können: Freiheit ist nur frei, wenn es
die Freiheit der anderen meint. Oder noch
weiter: Freiheit ist nur dann Freiheit, wenn
sie für alles Lebendige gilt und nichts Leben-
diges durch das eigene Frei-Sein einge-
schränkt oder geschädigt wird. Wenn andere
verletzt, diskriminiert oder in ihrer Entfal-
tung eingeschränkt werden, so ist dies weder
eine freie Meinungsäußerung noch Ausdruck
persönlicher Freiheit. Dies ist Gewalt. Frei-
heit mit Gewalt zu verwechseln oder über
Gewalt zu stellen befördert Gewalt.
WWWenn für Konsumfreiheit einiger die Le-enn für Konsumfreiheit einiger die Le-
bensgrundlagen von anderen Menschen, von
Tieren und dem Leben insgesamt aufs Spiel
gesetzt werden. Wenn Bäume abgeholzt,
Flüsse aufgestaut und Fischvorkommen aus-
gerottet werden, wenn Meere plastiküber-
müllt sind, Insekten auf der Roten Liste ste-
hen und Gletscher unwiederbringlich ab-
schmelzen, dann ist dies kein Leben in und
mit Freiheit, sondern in Unverbundenheit.
Freiheit meint Unabhängigkeit von Unter-
drückung. All dies aber macht ein an neolibe-
ralen Freiheitsvorstellungen ausgerichtetes
Leben. Es ist ein Leben in individueller Iso-
lation, eingelullt in Glücksversprechen ewi-
gen ökonomischen Wachstums.
Wie wäre es, Freiheit als Loslassen zu ver-
stehen? Als ein sich Befreien von den Zwän-
gen neoliberaler Vorstellungen eines Egos.
Sich frei zu machen von den Logiken einer
Leistungsgesellschaft kann helfen, die eige-
nen inneren Mauern aus „müssen, dürfen,
sollen“ einzureißen und sich auf die produkti-
ve Unsicherheit eines Lebens im Jetzt einzu-
lassen. Um so Freiheit als Wert zu erhalten.

Lann Hornscheidt, geboren 1965, arbeitet zu
Sprache und Gewalt, bis 2016 im Rahmen
einer Professur an der Humboldt-Univer-
sität. Zuletzt erschien „Exit Gender“ (Wor-
ten & Meer, 400 S., 11 €).

Von Lann Hornscheidt


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09.11.19 Samstag, 9. November 2019DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,9.NOVEMBER2019 DIE LITERARISCHE WELT 27


I


m Juni 1951 schrieb Hans Magnus Enzens-
berger, damals Germanistik- und Philoso-
phiestudent in Erlangen, für die Studien-
stiftung des deutschen Volkes einen Lebens-
lauf. Er erinnert sich darin, dass er schon als
Kind „von einer sehr starken Neugier be-
herrscht“ war und, „wenn wir Gäste hatten“,
gern zuhörte und „versuchte, aus ihren Re-
den, wenn sie mir auch häufig ungereimt er-
schienen, etwas zu erfahren“. Der damals 21-
Jährige berichtet von seinen rastlosen Lektü-
ren („von der Reisebeschreibung bis zum
Schäferroman alles, was mir in die Hände
fiel“, zuletzt aber Blaise Pascal und Ernst
Jünger), aber auch von Schanzarbeiten am
Westwall und vom Volkssturm.

VON RICHARD KÄMMERLINGS

In seinem neuen, zum 90. Geburtstag am
111 1. November erschienen Notizbuch „Fall-1. November erschienen Notizbuch „Fall-
obst“ ist dieses „Curriculum vitae“ abge-
druckt. Am interessantesten ist die von ihm
offen geschilderte „Problematik“ seines Stu-

diums, die er dem erhofften Stipendiengeber
so schildert: „Reines Spezialistentum kam
fffür mich als Lösung nicht in Betracht. Auchür mich als Lösung nicht in Betracht. Auch
wenn enzyklopädisches Wissen nicht mehr
möglich ist, bleibt die Verpflichtung zur Uni-
versalität bestehen. Als sinnvollste Methode
erschien es mir daher, mit der Errichtung von
Stützpunkten und Messungen zu begin-
nen, kleiner, wohlbegründeter Inseln, von
denen aus ein festes Urteil überhaupt erst
möglich sein wird. Dabei sind jene Punkte
auszuwählen, denen in geschichtlichen Au-
genblicken erhöhte Bedeutung zukommt.“
Nimmt man diese selbstbewusste Ankün-
digung, damals noch pragmatisch mit dem
Berufswunsch „Feuilleton-Redakteur an ei-
ner Tageszeitung“ verbunden, zum Maßstab,
wird die Stiftung ihre Förderentscheidung
nicht bereut haben. Blickt man heute, sieben
Jahrzehnte später, auf Enzensbergers Le-
benswerk zurück, dann verblüfft die konse-
quente Inkonsequenz, mit der dieser vielfäl-
tig Hochbegabte das von ihm selbst als uto-
pisch erkannte Ziel des Universalität ver-

folgt hat. Und zwar eben nicht als Enzyklo-
pädist, wie der zeitlebens verehrte Diderot,
sondern als Gründer und Begründer von In-
seln, die freilich nicht immer klein blieben.
Zur idealen Form seines Inseldaseins hat
Enzensberger den Essay gemacht, seine legen-
dären Medienkritiken, seine

literaturpolitischenEinwürfe, seine Polemik
gegen Interpretationen und Kritik, die ironi-
schen Verteidigungen der Konsumgesellschaft,
seine provozierenden politischen Leitartikel
(„Saddam = Hitler“, verkürzte der „Spiegel“
1 991 auf dem Titel), seine Institutionenkritik,
etwa an der EU, überhaupt seine respektlose
Kommentierung jeglicher Expertokratie.
Dann die Insel der Lyrik, eigentlich ein
ganzer Archipel, von der „verteidigung der
wölfe“ über die „Furie des Verschwindens“
und die „Zukunftsmusik“ bis zur „Geschich-
te der Wolken“, denen der Luftgeist Enzens-
berger sich besonders gern zuwandte. Dem
„Fliegenden Robert“ aus dem Struw-
welpeter hat er eines seiner schöns-
ten, hintergründigsten Gedichte
gewidmet: „Eskapismus, ruft ihr
mir zu,/ vorwurfsvoll./ Was denn
sonst, antworte ich,/ bei diesem
Sauwetter!“ (nachzulesen in dem
neuen Band „Gedichte
1 950–2020“, jawohl, abergläu-
bisch ist der Dichter nicht!).

Es gibt die Übersetzungsinsel, die Heraus-
geberinsel, die Kinderbuchinsel voller
Schatzsuchen und Abenteuer, die Insel
„Kursbuch“ (von keinem Zug zu erreichen),
die Insel „Transatlantik“ und die Insel der
„Anderen Bibliothek“, die Ratgeberinsel (un-
ter dem Pseudonym Andreas Thalmayr), ja
sogar ein ganzes Meer mit abgesoffenen In-
seln, die er selbst als „Meine Lieblings-
Flops“ kartierte. Und dann gibt es da noch
zwei ganz besondere Inseln, die Enzensber-
gers politische Odyssee in den 60er und 70er
markieren und die er selbst in seinem Vers-
epos „Der Untergang der Titanic“ auf schick-
salhaften Kollisionskurs schickte: Kuba, die
grandios gescheiterte sozialistische Utopie,
und der Eisberg, Inbegriff des Unvorhergese-
hen, Eigensinnigen, Unberechenbaren der
Geschichte, das dem Fortschritt in die Quere
kommt. Erst im Rückblick auf dieses Werk
zeigt sich verblüffenderweise die große
Kunst, für seine Inseln „jene Punkte auszu-
wählen, denen in geschichtlichen Augenbli-
cken erhöhte Bedeutung“ zukam.

Der universell Inselbegabte


Zum 90. Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger erscheinen Gesammelte Gedichte und ein neuer Band mit Lesefrüchten


WWWeltvermesser, eltvermesser,
Luftgeist: Hans Magnus
Enzensberger

ISOLDE OHLBAUM/LAIF/ISOLDE OHLBAUM/LAIF
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