Die Welt - 09.11.2019

(ff) #1

D


ass Sex verkaufsfördernd ist,
ist bekannt. Im Falle des Bu-
ches „Warum Frauen im Sozia-
lismus besseren Sex haben“
von Kristen R. Ghodsee ist Sex
aber Teil eines Etikettenschwindels. Der Ti-
tel ließe eine Sexualstudie in den ehemaligen
sozialistischen Ländern vermuten. Oder eine
Klärung der Frage, ob das Vorurteil – oder
wie soll man es nennen? –, dass ostdeutsche
Frauen sexuell selbstbewusster, gar ent-
hemmter seien, denn zutrifft.

VON MARLEN HOBRACK

Ghodsees These ist: Kapitalistische Ge-
sellschaften fördern den Tausch von Liebe
und Sex gegen Geld. Wo soziale Absicherung
rar oder gar nicht vorhanden ist, erscheint
der Heiratsmarkt für Frauen weit lukrativer
als der Arbeitsmarkt (wie wir auch aus Studi-
en der deutschen Soziologin Jutta Allmen-
dinger wissen). Bei der Wahl des Partners
spielt die ökonomische Potenz des Mannes
eine wichtigere Rolle als seine Fähigkeit, die
emotionalen oder gar sexuellen Bedürfnisse
der Frau befriedigen zu können.
Im Sozialismus war all das anders, so
Ghodsee. Da alle sozialistischen Länder die
Erwerbstätigkeit und ökonomische Unab-
hängigkeit der Frauen förderten, waren nicht
nur die Scheidungsraten und die Zahl unver-
heirateter Mütter in der DDR und Teilen der
Sowjetunion besonders hoch. Frauen konn-
ten ihre Partnerwahl stärker an sexuellen
und emotionalen Bedürfnissen ausrichten.
Ich ahne einen Aufschrei der geneigten
Leserinnen, gerade solcher, die den real exis-
tierenden Sozialismus in der DDR erlebt ha-
ben. Man muss daher kurz erläutern, was
Ghodsees akademischer Hintergrund ist: Sie
ist Amerikanerin, Ethnologin und Historike-
rin und hat Forschungsaufenthalte in sozia-
listischen Ländern verbracht.
Das, was Ghodsee „sozialistische“ Politik
nennt, würden Europäer wohl eher als sozi-
aldemokratische Politik beschreiben. So ist
es auch kein Zufall, dass eine Vielzahl der
Beispiele Ghodsees aus den skandinavischen
Ländern – den Vorzeigeländern in Fragen

der Geschlechtergleichstellung – stammen.
Es ergibt sich ein Widerspruch, wenn Ghod-
see darauf hinweist, dass die meisten US-
Amerikaner zwischen sozialer Marktwirt-
schaft und Sozialismus nicht differenzieren,
sie selbst aber die Phänomene vermischt.
Das mag damit zusammenhängen, dass die
Ansätze dieser Politiken ähnlich sind – stets
geht es um eine Form des Nachteilsaus-
gleichs für Frauen. Der Nachteil besteht
schlicht darin, dass nur Frauen (potenziell)
Kinder bekommen und die damit verbunde-
nen beruflichen Konsequenzen tragen müs-
sen. Der Grund für die Gleichstellungsmaß-
nahmen aber unterscheidet sich. In den so-

zialistischen Ländern, speziell in der DDR,
war die Erwerbsbeteiligung der Frauen wirt-
schaftliches Gebot, um den Mangel an quali-
fizierten Arbeitskräften auszugleichen. Die
Frauen wurden in den Betrieben unbedingt
benötigt. Hierfür mussten sie von der Famili-
enarbeit entlastet werden, durch Krippen,
Kindergärten, Kantinen, etc. Trotz allem,
und das wird jede ehemalige DDR-Bürgerin
bestätigen, trugen die meisten Frauen die
Hauptlast der emotionalen und praktischen
Arbeit in Familie und Haushalt.
In sozialen Marktwirtschaften, so könnte
man zynisch sagen, dienen soziale Vergüns-
tigungen zunächst der Abfederung der Här-

ten des kapitalistischen Systems. Aber zu-
mindest in den letzten Jahren spielte die tat-
sächliche Wahlfreiheit der Frauen, auch der
Wunsch nach einem Wandel des Familienbil-
des, eine immer wichtigere Rolle bei sozial-
politischen Maßnahmen (man denke an das
Elterngeld, das auch Väter in die Lage verset-
zen soll, Zeit mit ihren Kleinkindern zu ver-
bringen).
Nun argumentiert Ghodsee, dass sowohl
die Familienpolitik der sozialistischen Län-
der wie auch der sozialen Marktwirtschaften
letztlich auf sozialistischen Ideen des späten


  1. und frühen 20. Jahrhunderts beruhen. Sie
    sind demnach also nicht nur phänotypisch


ähnlich, sondern auch genotypisch vom sel-
ben Ursprung. Trotzdem scheint ihre Analy-
se der sozialistischen Gesellschaften zu oft
zu oberflächlich. So wäre zu fragen, ob über-
haupt von „den“ sozialistischen Gesellschaf-
ten zu sprechen ist, ob das Bulgarien der
Sechzigerjahre, das Rumänien der Achtziger
und die DDR der Siebzigerjahre vergleichba-
re Systeme waren. Deutschland ist das Land
des Frühsozialismus, das Land von Marx, En-
gels, Zetkin und Luxemburg, Polen hatte sei-
nen Katholizismus, Russland seine Orthodo-
xie. Ghodsee übergeht die jeweiligen Vorbe-
dingungen für die individuelle Ausbildung
des Sozialismus. Diese wiederum könnten
erklären, warum unter Stalin lange Zeit ein
striktes Abtreibungsverbot herrschte, wäh-
rend die DDR eines der liberalsten Abtrei-
bungsgesetze weltweit hatte.
Ghodsee untersucht auch nicht systema-
tisch genug die historischen Entwicklungs-
abschnitte innerhalb der jeweiligen Länder.
Die DDR der Fünfzigerjahre war gesell-
schaftlich, politisch und kulturell anders ge-
prägt als die DDR der späten Achtziger. Hat-
ten die DDR-Frauen gleichbleibend guten
Sex? Die Ungenauigkeiten mögen dem essay-
haften Charakter des Buches geschuldet
sein, schließlich legt Ghodsee keine breite
Studie zum Sozialismus vor. Sie zeigen aber
auch, dass es ihr im Kern gar nicht um den
real existierenden Sozialismus geht, sondern
um den Traum von einer sozialen Marktwirt-
schaft für die USA, in der Frauen nach der
Geburt ihrer Kinder Arbeitsplatzgarantien
und Mutterschutz, Krankenversicherung
und bezahlbare Kinderbetreuung genießen.
Dass sie obendrein besseren Sex haben
könnten – das wiederum ist heute eine Chif-
fre für gelungene Selbstentfaltung – kommt
als Goodie noch obendrauf. Sex und Sozialis-
mus sind für Ghodsee letztlich nur Reizvoka-
beln, die ein zutiefst emanzipatorisches, ja,
gerechtes Projekt in den Mittelpunkt rücken
sollen: Frauen nicht fürs Kinderkriegen zu
bestrafen.

Kristen R. Ghodsee: Warum Frauen im
Sozialismus besseren Sex haben.
Suhrkamp, 277 S., 18 €.

Hatten Frauen im Sozialismus besseren Sex? Über ein


emanzipatorisches Missverständnis


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09.11.19 Samstag, 9. November 2019DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,9.NOVEMBER2019 DIE LITERARISCHE WELT 31


Am 10. November eröffnet
das Sinclair-Haus in Bad
Homburg eine neue Ausstel-
lung. Bis zum 2. Februar 2020
zeigt das Museum mit „Illu-
sion Natur. Digitale Welten“
Arbeiten von 12 Künstlerin-
nen und Künstlern, die sich
mit ihren digitalen Komposi-
tionen einem traditionellen
Thema der Kunst nähern –
der Natur.
Mit ihren Werken loten die
Künstlerinnen und Künstler
die Grenze zwischen Wirk-
lichkeit und Abbild aus und
hinterfragen die menschliche
Wahrnehmung der Welt. Ge-
zeigt werden digitale Arbeiten
zum Thema „Natur“ von den
1980er-Jahren bis heute. Eel-
co Brand zum Beispiel schafft
in seinen 3D-Animationen be-
wegte Landschaftsbilder, die

Zum Auftakt der Jubiläums-
feierlichkeiten rund um den
65.Geburtstag von Ketterer
Kunst in München lädt das
Auktionshaus am 22. No-
vember zur Auktion „Kunst
des 19. Jahrhunderts“. Zum
Aufruf gelangen Werke
namhafter Künstler.
„Blick ins Tal“ lautet der Titel
des Gemäldes, das Carl Spitz-
weg um 1860 geschaffen hat.
Es ist nur eines der zahlreichen
Höhepunkte, die Ketterer in
München präsentiert. Das Ölge-
mälde „Löwen am Urwaldbach“
von Wilhelm Kuhnert sowie Max
Liebermanns Gemälde „Schrei-
tender Bauer“, eine Wiederent-
deckung eines seit Jahrzehnten
verschollen geglaubten Wer-
kes des Künstlers, dürfen hier
ebenso wenig fehlen, wie Franz
von Stuck mit dem Gemälde

Glaube, Liebe, Hoffnung –
so lautet der Titel der aktu-
ellen Ausstellungstrilogie,
die noch bis zum 26. Januar
2020 zu sehen ist. Aktuell
widmet sich die Draiflessen
Collection dem zweiten Teil,
der Liebe.
Die Ausstellung nähert sich
dem Begriff Liebe. Sie be-
schreibt Liebe dabei als eine
Form besonderer sozialer Be-
ziehungen und Bindungen. Mit
einer Auswahl an Kunstwer-
ken unter anderem von Marc
Chagall, Maria Lassnig, Tracy
Moffatt, Michael Buthe und
Anna Oppermann werden die
Möglichkeiten, Grenzen und
Widersprüche des Verbunden-
seins reflektiert. Ausgehend

Eelco Brand, R.movi (Still), 2005.
Foto: © Eelco Brand, Courtesy of DAM Gallery, Berlin

Maria Lassnig, Beziehungen II, 1993.
Foto: Maria Lassnig Stiftung / VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Roland Krauss

MUSEUM SINCLAIR-HAUS

ILLUSION NATUR. DIGITALE WELTEN


KETTERER KUNST

KUNST DES 19. JAHRHUNDERTS


DRAIFLESSEN COLLECTION

LIEBE IM FOKUS


TEXT/LAYOUT CP/COMPARTNER, Redaktionsbüro Essen · Berlin
ANZEIGEN Theresia Maas, Tel.: 030 2591-73088
die Natur nahezu fotorealis- E-Mail: [email protected] 090909 ./10. November ./10. November 2019
tisch abbilden oder sogar über
die Realität hinausgehen. Und
die amerikanische Künstlerin
Tamiko Thiel verwandelt mit
ihrer Augmented-Reality-Instal-
lation den Hof des Museums in
eine Unterwasser-Szenerie mit
Korallenriffen. Weitere Arbei-

ten stammen von: Arno Beck,
Miguel Chevalier, Driessens &
Verstappen, Joanie Lemercier,
Vera Molnár, Casey Reas, Mi-
chael Reisch, Laurent Mignon-
neau & Christa Sommerer, Stu-
der/van den Berg und Jennifer
Steinkamp.
http://www.museum-sinclair-haus.de

von ihren individuellen Erleb-
nissen der Liebe sowie Beob-
achtungen ihrer eigenen Um-
welt zeigen die Künstlerinnen
und Künstler ihr Ringen um
Harmonie, ihre Sehnsucht nach
Schutz, aber auch Erfahrungen
von Enge und Schmerz.
http://www.draiflessen.com

„Meine Tochter Mary im Veláz-
quez-Kostüm“ oder Ludwig
von Hofmanns Ölgemälde „Die

Zauberinsel“. Weitere Arbeiten
stammen unter anderem von
Alexander Koester, Eduard von
Grützner, Otto Modersohn und
Edvard Munch.
Liebhaber wertvoller alter Bü-
cher und Schriften dürften dem
25.November entgegenfiebern.
Dann gelangt bei Ketterer Kunst
in Hamburg eine Bibel aus der
Gutenberg-Presse zum Aufruf.
http://www.kettererkunst.de

Carl Spitzweg, Blick ins Tal, um 1860.
Foto: Ketterer Kunst

KULTUR-HIGHLIGHTS


AUSSTELLUNGEN UND MEHR


Spannende Ausstellungen, namhafte Künstlerinnen und Künstler, neue


Sichtweisen. Die kommenden Monate bieten zahlreiche Anlässe, sich mit


Themen und Visionen zu befassen und damit Anregungen, dem oft eher


grauen Alltag zu entfliehen.


ANZEIGEN-SONDERVERÖFFENTLICHUNG


ILLUSION NATUR


DIGITALE WELTEN


10.11.2019 – 02.02.2020


MUSEUM SINCLAIR-HAUS
Bad Homburg v.d. Höhe
Löwengasse 15
http://www.museum-sinclair-haus.de
Eine Institution der Stiftung Nantesbuch gGmbH

Miguel Chevalier, Trans-Nature (Still), 2019 © Miguel Chevalier und VG Bild-Kunst, Bonn 2019

ÖFFNUNGSZEITENÖFFNUNGSZEITEN
Dienstag 14–20 Uhr, Mittwoch bis Freitag 14–19 UhrDienstag 14–20 Uhr, Mittwoch bis Freitag 14–19 Uhr
Samstag und Sonntag 10–18 UhrSamstag und Sonntag 10–18 Uhr
Montags sowie 20.11., 24.12. und 31.12. geschlossenMontags sowie 20.11., 24.12. und 31.12. geschlossen
25., 26.12. und 1.1. 12–18 Uhr25., 26.12. und 1.1. 12–18 Uhr

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MÜNCHEN 01.-06.Dez.

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13.10.2019 — BERLIN^ 22. -28.Nov.
26.1.2020

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