Die Welt - 09.11.2019

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09.11.19 Samstag, 9. November 2019DWBE-HP


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30 DIE LITERARISCHE WELT DIE WELT SAMSTAG,9.NOVEMBER2019


A


ls wir vor 30 Jahren das Neue
Forum gründeten, glaubte nie-
mand der Bürgerrechtler mehr
daran, dass dieser repressive
Staat weiter bestehen und sei-
ne alles beherrschende Partei uneinge-
schränkt an der Macht bleiben könne. Doch
während die West-68er von der Revolution
träumten und letztlich Reformen erreich-
ten, wollten die Ost-89er ursprünglich Re-
ffformen und haben eine Revolution ausge-ormen und haben eine Revolution ausge-
löst. Plötzlich tauchten Fragen auf, die bis
dahin tabu oder kreuzgefährlich waren. Wie
konnte nach der braunen Diktatur und dem
schweren, dennoch hoffnungsvollen Neu-
anfang ein anders geartetes Unterdrü-
ckungssystem mit totaler Überwachung bis
hin zur kollektiven Freiheitsberaubung ent-
stehen? Denn von der Idee eines besseren
Deutschlands kündeten nur noch die Wort-
hülsen der SED-Politbürokraten.
WWWer die DDR, wie unlängst gefordert,er die DDR, wie unlängst gefordert,
von ihrem Anfang an erzählen und begrei-
fffen will, sollte das im Frühjahr erschieneneen will, sollte das im Frühjahr erschienene
Buch „Die Moskauer. Wie das Stalintrauma
die DDR prägte“ des Historikers Andreas
Petersen (S. Fischer, 368 S., 24 €) lesen. Es
ist die Geschichte derer, die in den Dreißi-
gerjahren als Kommunisten aus Deutsch-
land in die Sowjetunion flohen und dort in
die stalinistische Verfolgung gerieten und
als Überlebende und Rückkehrer die DDR
aufbauten. Es sind Geschichten wie die von
WWWerner Hirsch.erner Hirsch.
Hirsch, der Sekretär des Parteivorsitzen-
den Ernst Thälmann, wurde 1933 verhaftet.
Im Reichstagsprozess sagte er mutig als
Zeuge aus, woraufhin ihn die Gestapo als
Juden und Kommunisten noch mehr miss-
handelte. Als er nach anderthalb Jahren aus
dem KZ freikam, ging er in die Sowjetunion.
Seine Broschüre über die NS-Verbrechen in
deutschen Konzentrationslagern streute
die Partei weit. Aber in Moskau wurde er
völlig haltlos verdächtigt, wie es fast allen
anderen aus der Nazi-Haft Entlassenen er-
ging, zum Verräter geworden zu sein. Wil-
helm Pieck, der spätere DDR-Präsident,
verlangte nach dem ersten Schauprozess
eilfertig in der KPD-Exilgruppe, das „Gesin-
del“ auszurotten. So lieferte die Kaderüber-
prüferin Grete Wilde täglich Listen mit
VVVerdächtigen. Zehn Mal schickte sie Mate-erdächtigen. Zehn Mal schickte sie Mate-
rial über Hirsch an den NKWD, den sowje-
tischen Geheimdienst, „zur Überprüfung“.

ial über Hirsch an den NKWD, den sowje-
ischen Geheimdienst, „zur Überprüfung“.

ial über Hirsch an den NKWD, den sowje-

AAAls Hirsch sich in höchster Not um die Aus-ls Hirsch sich in höchster Not um die Aus-
reise nach Paris bemühte, war es um ihn ge-
schehen. Er wurde verhaftet, gefoltert und
zu zehn Jahren Lager auf den berüchtigten
Solowetzki-Inseln verurteilt. Auch hier
blieb er ungebrochen. Als er in den Hunger-
streik trat, traktierte ihn die NKWD-Wach-
mannschaft unaufhörlich. Entkräftet starb
er 1941 im Moskauer Butyrka-Gefängnis.
Petersens Buch ist voll von solchen
Schicksalen. Anderthalb Millionen Men-
schen wurden während des Großen Terrors
1 937/38 verhaftet, jeder zweite von ihnen er-
schossen. Kommunistische Parteien wie die
polnische oder weißrussische gab es danach
nicht mehr. „In diesem Lande“, schrieb Su-
sanne Leonhard, Freundin der Witwe Karl
Liebknechts und selbst zwölf Jahre im Gu-
lag, „in dem wir Kommunisten als politi-
sche Flüchtlinge Asyl suchten, spielen sich
jetzt die umfassendsten und rigorosesten
Kommunistenverfolgungen der Welt ab.“
Die KPD-Führung schätzte die Anzahl der
deutschen „Politemigranten“ in der Sowjet-
union auf 4600 Personen. Für die meisten
wwwurde das Vaterland aller Werktätigen zururde das Vaterland aller Werktätigen zur
Falle. 41 von 68 führenden KPD-Funktionä-
ren wurden hier ermordet. Nur ein Drittel
überlebte. Stalin brachte mehr KPD-Polit-
büromitglieder um als Hitler. Tausende
deutsche Kommunisten wurden hingerich-
tet, verschleppt, starben in Lagern, kamen
in die Verbannung oder wurden in die Hän-
de der Gestapo abgeschoben. „Der Kommu-
nismus“, so der KPD-Experte Hermann
WWWeber, „ist in der jüngeren Geschichte dieeber, „ist in der jüngeren Geschichte die
einzige Bewegung, die mehr ihrer eigenen
Führer, Funktionäre und Mitglieder ermor-
det hat, als das ihre Feinde taten.“ Was die
nach Moskau Geflüchteten erlebten, führte
ihre Vorstellung, wer ihr Feind war, ad ab-
surdum. Wer die sogenannten Säuberungen
überlebte, war durch Terror und Todes-
angst paralysiert, hatte einstige Weggefähr-
ten denunziert, sich allen Lügen bis zur
Schizophrenie angepasst und jedes Vertrau-
en verloren. Die Mechanismen der stalinis-
tischen Herrschaft hin zu einer „atomisier-
ten Massengesellschaft“, wie Hannah
Arendt schrieb, verinnerlichten sich im
Überlebenskampf. Petersen spricht vom
„Purgatorium“, das den stalinistischen
Funktionär hervorbrachte.
Insgesamt kehrten 1400 deutsche Kom-
munisten nach dem Krieg aus der Sowjet-
union nach Ostdeutschland zurück. Die
Moskau-Überlebenden, denen die

Kremlherrscher in den ersten beiden Nach-
kriegsjahren die Rückkehr erlaubten, for-
mierten sich zum Führungskern im Land.
Sie waren durch Terror, Furcht und Schre-
cken sozialisiert und errichteten in ihrer Pa-
ranoia genau das, dem sie gerade entkom-
men waren. Zusammen mit der sowjeti-
schen Militäradministration übertrugen sie
den stalinistischen Terror in den Aufbau des
neuen Staates, verlangten die Ausrottung
der „Schädlinge“, die Entlarvung der „Schu-
macher-Agenten“, bereiteten Schauprozes-
se nach sowjetischem Muster vor, verdräng-
ten die Überlebenden der Konzentrationsla-

e nach sowjetischem Muster vor, verdräng-
en die Überlebenden der Konzentrationsla-

e nach sowjetischem Muster vor, verdräng-

ger, die Spanien-Kämpfer, Juden und Weste-
migranten in gnadenlosen Parteisäuberun-
gen. Menschen wurden eingesperrt, depor-
tiert oder zur Flucht gezwungen.
Mit der von Walter Ulbricht und Genos-
sen betriebenen autoritären, stalinistischen
AAAusrichtung der SED wurde jede abwei-usrichtung der SED wurde jede abwei-
chende Meinung bekämpft und eliminiert.
Ulbrichts Dogmatismus, seine Härte und
Gefühlskälte hatten sich in den Moskauer
Jahren zu jenem Funktionärstypus verfes-
tigt, den Stalin zur Terrorherrschaft brauch-
te. Einem, der denunziert, der ohne Wider-
spruch Positionen aufgibt und Genossen
opfert, wenn es von ihm verlangt wird.
Die Lektüre von Petersens „Moskauer“
schärft den Blick für die mentale Grund-
struktur jener Parteifunktionäre, die das
Land zu jenem machten, in dem wir gelebt
haben. Es wird klar, dass es nie einen guten
Anfang gegeben hat und gar nicht geben
konnte. Dass die DDR von Anfang an eine
Lüge mit drei Buchstaben war. Keine De-
mokratische Republik, sondern ein „Dema-
gogisches Diktatur Regime“. Und es erklärt,
warum die Rückkehrer der Jahre 1955/1965,
meist Frauen mit ihren Kindern, um deren
Überlebenskampf die ersten Rückkehrer
wwwussten, sich dem verordneten Schweige-ussten, sich dem verordneten Schweige-
gebot unterwarfen. Trotz der erlebten him-
melschreienden Grausamkeiten und Unge-
rechtigkeiten schwiegen sie eisern. Viele
der Funktionäre blieben mit ihren Lebens-
lügen und ihren Leichen im Moskauer Kel-
ler bis ins Greisenalter harte Kommunisten
und zogen Gleichgesinnte nach. Auch mit
der Entstalinisierung durch
Chruschtschow gab es keinen Bruch. Das
hätte die Mitverantwortung, ein Schuldein-
geständnis und eine politische Neubesin-
nung verlangt. Doch die fand nie statt.
ÄÄÄußerst spät gelangten erschütterndeußerst spät gelangten erschütternde
Lebensgeschichten, wie sie Petersen er-
zählt, in den letzten Jahren in die Öffent-
lichkeit. In ihnen wiederholt und bestätigt
sich, was wir schon zu DDR-Zeiten im Sa-
misdat bei Nadeschda Mandelstam, Wolf-
gang Leonhard oder Margarethe Buber-
Neumann lasen. Aber Petersen verdichtet
die biografische Zusammenstellung zur
Analyse und eröffnet den Referenzraum für
Filme wie Bernhard Bönischs „Und der Zu-
kunft zugewandt“, der Geschichte dreier
Frauen, die Anfang der Fünfzigerjahre aus
dem Gulag nach Ostdeutschland zurück-
kommen. Oder Eugen Ruges neues Buch
„Metropol“ über die Geschichte seiner
Großmutter im stalinistischen Komintern-
Geheimdienst
Damals grübelten wir über das Verhalten
der Verurteilten in den Schauprozessen,
wie in Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“,
die sich unschuldig schuldig bekannten,
wohl wissend, dass ihr Todesurteil bereits
fffeststand. Wir diskutierten über den Kom-eststand. Wir diskutierten über den Kom-
munismus als Glauben und Heilslehre, über
den von Lenin deformierten Marxismus,
über die Verdrängung der Realität. Vieles
bestätigt sich in diesem Buch. Sorgfältig
werden die möglichen Motive der Rückkeh-
rer benannt und wird versucht, ihr manifes-
tes Schweigen zu erklären. Liest man die
Biografien, beginnend mit den Moskauer
Erfahrungen bis hin zum eigenen Handeln
in der DDR, so ergeben sich die von Peter-
sen gezogenen Schlussfolgerungen ganz
aus der Sache selbst. Auffallend und ver-
wwwunderlich, dass diese Conclusio bisherunderlich, dass diese Conclusio bisher
niemand in dieser Klarheit gezogen hat.
Nach 1989 suchten wir, im Bewusstsein,
dass sich unsere Zukunft in der Auseinan-
dersetzung mit der Vergangenheit ent-
scheidet, nach einer wahren Erinnerungs-
kultur. Das Buch von Andreas Petersen ist
ein hervorragender Beitrag dazu. Es sollte
Pflichtlektüre in den Schulen und für DDR-
Nostalgiker werden; es ist ein unverzicht-
bares Standardwerk für jeden, der wissen
will, auf welch vorbelastetem Fundament
und mit welch verdorbenem Überbau die
DDR gegründet wurde.

Werner Schulz, geboren 1950, ist Politiker
(Bündnis 90/Die Grünen) und ehemaliger
DDR-Bürgerrechtler. 1990 war er Mitglied
der ersten frei gewählten Volkskammer der
DDR, später Mitglied des Deutschen Bun-
destages und des Europäischen Parlaments.

Gegründet auf


Traum und Trauma


Was es bedeutet, dass Überlebende stalinistischer


Verfolgung die DDR aufbauten. Von Werner Schulz


V


ergangenen Sommer ließ Wladi-
mir Putin in einem Interview
verlauten: „Die liberale Idee hat
sich überholt“. Liberalismus und
insbesondere „liberale Eliten“
stehen weltweit unter Druck – und scheinbar
von oben wie von unten. Was jedoch ist ei-
gentlich gemeint, wenn spezifisch „liberale“
Eliten kritisiert werden? Geht es darum, dass
diese Heuchler seien, Gewinner der Globali-
sierung, die sich kosmopolitische Attitüden
leisten können, ohne sich der materiellen Be-
dingungen ihrer Luxus-Moralvorstellungen
bewusst zu sein?
Ein Liberalismus, der eigentlich Grund-
rechte für alle sichern will, ist von Putin und
vielen Rechtspopulisten auf perfide Weise in
ein kulturelles Elitenphänomen umdefiniert
worden. Dagegen lässt sich mit den üblichen
VVVerdächtigen liberalen Denkens argumen-erdächtigen liberalen Denkens argumen-
tieren – aber auch mit weniger bekannten,
wie Judith Shklar, die einen „Liberalismus
der Furcht“ stark machen und damit vor al-
lem die Schwachen einer Gesellschaft schüt-
zen wollte.
Die Reaktionen derjenigen, die sich vom
neuen globalen Antiliberalismus angespro-
chen fühlen, fallen je nach Zeitdiagnose ganz
anders aus. Die einen geben „dem Volk“ die
Schuld an politischen Katastrophen wie dem
Brexit und behaupten, die Trumps und Fara-
ges dieser Welt könnten nur deshalb reüssie-
ren, weil sie bei leichtgläubigen Bürgern Lü-
gen über die liberalen Eliten verbreiteten.
Man bedient sich dann oft munter der Kli-
schees der Massenpsychologie aus dem spä-
ten neunzehnten Jahrhundert: Die Leute sei-
en halt irrational und verführbar.
Andere hingegen üben sich in Selbstkritik


  • ja, ein kleiner, aber umkämpfter Markt für
    liberale Selbstkasteiung sei entstanden. Man
    gesteht, den Abgehängten kein Gehör ge-
    schenkt zu haben; man unternimmt, was in
    den USA bisweilen als „Trump Safaris“ ver-
    spottet wird: Expeditionen ins Landesinnere
    (bevorzugt die Appalachen), wo die exoti-
    schen Eingeborenen ein offenbar selbstzer-
    störerisches Leben führen, das man aber
    auch irgendwie verstehen und mit Empathie
    betrachten muss (Opiate, keine family values
    mehr, etc.).
    Die ostentative Selbstkritik bedient sich
    eifrig bei den Erklärungen, die Populisten
    selber für ihre Wahlerfolge anbieten. Letzte-
    re werden ja häufig dafür kritisiert, dass sie
    ein horrend vereinfachendes Verständnis ei-
    ner komplexen Welt anböten. Doch seien wir
    ehrlich: Wir hätten es ja auch ganz gern,
    wenn uns jemand eine einleuchtende Erklä-
    rung des ganzen globalen Zeitgeschehens in
    140 Zeichen oder weniger liefern würde. Und
    in diesem Verlangen treffen sich die libera-
    len Selbstkasteier wiederum mit Linken, die
    behaupten, an allem Übel sei eine kosmopo-
    litische Lebensform kombiniert mit ungezü-
    geltem Kapitalismus schuld, die Allianz, wel-
    che die Soziologin Nancy Fraser als „pro-
    gressiven Neoliberalismus“ bezeichnet hat.
    Oder auch Attitüden, die der Soziologe An-
    dreas Reckwitz mit einer vielleicht etwas zu
    kuratierten Begriffsbildung als „apertistisch-
    differenziellen Liberalismus“ etikettiert (al-
    so eine Einstellung, mit der man „Offenheit“
    und „diversity“ immer irgendwie gut findet).
    Nur: In welchem Sinne ist das alles wirk-
    lich spezifisch liberal? Durch die jüngere Ge-
    schichte ziehen sich drei Stränge liberalen
    Denkens: Da ist, am offensichtlichsten, Libe-
    ralismus als Imperativ, Individuen ein mög-
    lichst autonomes Leben zu ermöglichen: Ein
    Ideal von Selbstverwirklichung, bei dem im
    neunzehnten Jahrhundert romantische Vor-
    stellungen von Vielfalt als an sich wertvoll
    durchaus mit einer Agenda von „Befreiung
    durch Markt“ (nämlich von feudalen Verhält-
    nissen) zusammen gehen konnten. Es handelt
    sich laut der von Judith Shklar vorgeschlage-
    nen Kategorisierung um einen Liberalismus
    der Selbstvervollkommnung. Dieser fordert
    in der Tat „Offenheit“, aber nicht im Sinne of-
    fffener Grenzen, sondern als individuelle Hal-ener Grenzen, sondern als individuelle Hal-
    tung: Man sollte stets an sich arbeiten und
    mit Experimentierfreude – der große Liberale
    John Stuart Mill forderte experiments in living

  • für Neues und Exotisches offen sein.
    Solche subjektiven, bisweilen etwas stre-
    berhaft und narzisstisch anmutenden Ein-
    stellungen waren selbstredend keine ausrei-
    chende Garantie für Liberalismus im politi-
    schen Sinne. Letzterer bedurfter spezifi-
    scher bürgerlicher Institutionen, allen voran
    Märkte und Parlamente, basierend auf einem
    durch Besitz- und Bildungsqualifikationen
    eingeschränkten Wahlrecht. Liberale wollten
    die weniger Bemittelten (in jedem Sinne)
    ausschließen; allerdings waren sie auch be-
    dacht, den Ausgeschlossenen (oder zumin-
    dest ihren Kindern oder Kindeskindern), vol-
    le Zugehörigkeit in Aussicht zu stellen – so
    diese denn erst einmal die notwendige Befä-
    higung zu verantwortungsvoller Politik
    nachweisen konnten. Deswegen war es so
    wichtig, dass Liberale an einer Vorstellung
    kontinuierlichen Fortschritts festhielten –
    ohne dieses Fortschrittsversprechen wäre
    man sofort dagestanden als Ideologen, die
    Ungleichheit nicht weniger vehement vertei-
    digten als Lobredner von Feudalismus als
    gottgewollter Ordnung. Trotzdem hing den
    Liberalen ein unfeiner Geruch des Elitären
    an – und tut dies heute immer noch.
    Erst in den zwanziger und dreißiger Jah-
    ren des zwanzigsten Jahrhunderts gewann
    „Liberalismus“ dann eine Bedeutung, welche
    bis in die Gegenwart in der englischsprachi-


gen Welt dominiert: Liberalismus wurde mit
der Idee von individuellen Abwehrrechten
gegenüber dem Staat identifiziert sowie mit
institutionellen Vorrichtungen wie der Ge-
waltenteilung, die Machtkonzentration ver-
hindern sollen.
Diese verschiedenen Konzeptionen schlie-
ßen sich nicht zwangsläufig aus. Ein dezi-
dierter Selbstvervollkommnungs-Liberalis-
mus und ein Liberalismus, der vor allem
Freiheit durch verbriefte Rechte sichern will,
stehen aber unter Umständen auch in einem
Spannungsverhältnis: Ersterer behauptet,
nur ein Leben, in dem man ständig nach vol-
ler Entwicklung seiner individuellen Kräfte
strebe, sei ein wirklich gelungenes; letzterer
legt nahe, dass jeder selber frei über seine
Lebenspläne entscheiden soll – und dass ein
Leben ohne ständiges Rumexperimentieren
auch erfolgreich sein könne. Er besteht vor
allem darauf, dass jeder mit seinem Interesse
an einem guten Leben gleichermaßenberück-
sichtigt werden muss, unabhängig von der
Originalität der Lebenspläne.
Die Realität sieht bekanntlich oft anders
aus. Viele Menschen werden nicht gleicher-
maßen berücksichtigt; manche werden über-
haupt nicht berücksichtigt oder bewusst ein-
geschüchtert, getriezt, in Furcht versetzt.
Missliebige Minderheiten gelten in vielen
Ländern bestenfalls als Bürger zweiter Klas-
se; und man behandelt Menschen bewusst
grausam (heute beispielsweise mit dem Ar-
gument, wenn man asylsuchende Familien
an der Grenze auseinanderreiße, schrecke
das zum Glück andere ab).
Derlei Erfahrungen haben Theoretiker
noch einmal neu über Liberalismus nach-
denken lassen. Besonders intensiv tat dies
Judith Shklar mit ihrem 1989 veröffentlich-
tem Aufsatz „Der Liberalismus der Furcht“.
Shklar stammte aus Riga, sie floh mit ihren
Eltern vor Nationalsozialisten wie Stalinis-
ten, studierte und lehrte in Harvard, und
wwwurde zu einer einflussreichen Vertreterinurde zu einer einflussreichen Vertreterin

der politischen Theorie in der englischspra-
chigen Welt. Shklar bemerkte einmal, ihr
wissenschaftlicher Antrieb sei das Bedürf-
nis, das zwanzigste Jahrhundert zu verste-
hen. Ihre Einstellungen in der politischen
Theorie – insbesondere Vorbehalte gegen-
über allen gemeinschaftsseligen Argumen-
ten, hätten sicher etwas mit ihrer Erfahrung
als Geflüchteter zu tun. Denn sie plädierte
leidenschaftlich dafür, erst einmal das
Schlimmste zu verhindern – aus ihrer Sicht
alle Situationen, in denen Menschen grau-
sam behandelt werden.
Das Gefühl des Ausgeliefertseins, die Ab-
hängigkeit, welche die Opfer von Willkür-
herrschaft an eigener Seele und am eigenen
Leib erfahren – diese waren in den totalitä-
ren Formen von Herrschaft während des
zwanzigsten Jahrhunderts besonders ausge-
prägt. Aber die Grundeinsicht ist allgemein-
gültig und muss nicht immer gleich den
Staat zum public enemy number onedes Indi-
viduums erklären (denn private Akteure
können Menschen genauso in Abhängigkeit
bringen und ihnen Furcht einflössen, man
denke an die ewig Gehetzten in der Gig-Eco-
nomy). Liberalismus, so Shklars Einsicht, sei
keine Laisser-faire-Philosophie, sondern zie-
le auf existentielle Sicherheit, welche ein Le-
ben nach eigenen Vorstellungen erst ermög-
liche. Dies sei nicht ohne eine grundsätzli-
che Verpflichtung auf gleiche Würde und ein
praktisches Ziel von Gleichbehandlung zu
haben. Damit dies nicht nur hehre Worte
blieben, sei es zudem entscheidend, laut
Shklar, dass nicht zu viel soziale Distanz
zwischen Menschen klaffe.
Ist solche Distanz nicht genau das Pro-
blem in zunehmend polarisierten Gesell-
schaften? Nur zum Teil. Denn es stimmt
kaum, dass „liberale Eliten“ die vermeintlich
kleinen Leute mit „kultureller Arroganz“ be-
handeln (eher ignorieren sie diese komplett)
oder dass sie es mit „liberaler Identitätspoli-
tik“ – sprich immer ausgefalleneren Ansprü-
chen von allerlei dauerbeleidigten Minder-
heiten – übertrieben hätten. Wer es sich so
einfach macht und die Probleme als im wei-
testen Sinne „kulturell“ versteht, kann dann
recht schnell behaupten, man habe seine
Lektionen aus der populistischen „Konterre-
volution“ (Jan Zielonka) gelernt, die dann
vielleicht weniger in einem positiven Pro-
gramm als in einem Vermeidungsimperativ
besteht: um Gottes willen nicht immer so
viel Aufheben um die Minderheiten machen!
Dabei ist Liberalismus als Schutz durch
Rechte für alle da – inklusive derjenigen, die
wie Black Lives Matterin den USA eben keine
skurrilen Privilegien einfordern, sondern das
Grundrecht, nicht von der Polizei erschos-
sen zu werden. Und dieser wird gestärkt
durch den Liberalismus der Furcht als eine
Art Sensorium für Erfahrungen von Verlet-
zung, Furcht und vor allem Grausamkeit.
Shklars „Liberalismus von unten“ (Axel
Honneth) schrieb nicht vor, was man zu den-
ken habe, er legte nahe, worüber man nach-
denken sollte. Und er forderte konkret auf,
erst einmal den Opfern zuzuhören, ohne
letzteren ein Monopol auf die politische Ver-
arbeitung dieser Erfahrungen zu verleihen.
Man kann sicher nicht auf einen Liberalis-
mus der Rechte hindeuten, als sei damit alles
geklärt. Rechte sind aus guten Gründen um-
stritten, und neben Abwehrrechten wie bei
Black Lives Matter oder auch #MeToogibt es
bekanntlich auch noch stets kontroverse An-
spruchsrechte. Worüber sich Bürger aber
eins sein sollten: Sie können nicht einfach
auf das Wohlwollen von Institutionen, ob
nun Exekutiven oder Unternehmen, zählen;
konzentrierte Macht, der man schutzlos aus-
geliefert ist, stellt einen latenten Despotis-
mus dar. Deswegen lassen sich wiederum Li-
beralismus der Rechte und Demokratie nicht
trennen. Ohne politische Grundrechte keine
Demokratie und ohne Demokratie keine
Möglichkeit, auf faire Weise über die Ausge-
staltung von Rechten zu streiten. Ohne De-
mokratie bleibt man Mächtigen ausgeliefert,
die vielleicht einmal gönnerhaft rechtsstaat-
liche Garantien gewähren, diese aber auch zu
eigenen Gunsten wieder zurücknehmen kön-
nen: Freiheiten auf Vorbehalt, ein Umstand,
der gerade diejenigen, die Shklar als „perma-
nente Minderheiten“ bezeichnete, in Furcht
versetzen muss.
Diese Minderheiten können sich vor de-
mokratischen Mehrheiten fürchten, vor al-
lem Mehrheiten, die selber Furcht vor Min-
derheiten haben. Der Liberalismus der
Furcht setzt darauf, dass man Bürgerinnen
und Bürger für das Leiden von Minderheiten
sensibilisieren kann, dass die Minderheiten
vielleicht permanent sind, nicht aber die Ab-
neigungen gegen sie. Eine naive Hoffnung?
Vielleicht. Aber eben auch eine Forderung
dessen, was Orwell commondecency, gemei-
ner Anstand, nannte, oder was Shklar als
wachsame Staatsbürgerschaft bezeichnete.
Angesichts einer zunehmenden Verrohung
westlicher Gesellschaften, wo inzwischen
Minderheiten wie manche Eliten buchstäb-
lich zum Schuss freigegeben werden, ist die-
se Forderung nicht trivial. Und sie zielt wohl
kaum auf ein moralisches Luxusgut, dass
sich nur Besserverdienende leisten können.

Jan-Werner Müller, Jahrgang 1970,
lehrt Politische Theorie und
Ideengeschichte in Princeton. Dieser Tage
erscheint sein Buch „Furcht und Freiheit“
(Suhrkamp). Dieser Text basiert
auf einem Vortrag am Einstein-Forum.

VVVon on
Jan-Werner Müller

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