Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1

1212 ** Berliner ZeitungBerliner Zeitung·Nummer 261·Nummer 261·9./10. November 2019·9./10. November 2019 ··················································································································································································································································································································································································································································································································································································


Zeitenwende


12 * Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019 ·························································································································································································································································································


D


as sepiafarbene Foto
klebtin einemFotoal-
bum unter dünnem,
weißem Schutzpapier.
MansiehtdaraufeinaltesHaus,an
demderPutzabblättert.Davoreine
Frauin KittelschürzeundPantoffeln,
diedunklenHaarewerdenmiteiner
Klammerzusammengehalten,sieist
vorg ebeugt, man sieht ihrGesicht
nicht. Siehält mit beiden Händen
ein Kleinkind fest.DasKleinkind ist
wohlgenährt, hat dunkleHaareund
steckt in einem kurzenschwarzen
Kunstlederkleid.
Es mussEnde der Siebzigerjahre
des verg angenenJahrhunderts ge-
wesen sein, in einem Dorfind er
DDR.EswarnichtdieDDRdermo-
dernen Plattenbauten, derSonder-
studiengängefürFrauen,derExqui-
sit-Läden.
EswardieDDRderRuinen,inder
Frauen jeden Alters Kittelschürzen
trugen,einemHuhndenHalsdurch-
schnitten,sich die Kaffeemühlezwi-
schen die Oberschenkelklemmten;
inderMännerimmeretwasSchweres
auf den Schulterntrugen, sich mor-
gens nur im Gesicht wuschenund
denganzenKörpernurzuFeiertagen.
Es gab Plumpsklosund an Feier-
tagen Kaffeelikörund Bienenstich.
Gegen Schmerzenlegte man den
KindernSäckchenmit heißen Kar-
toffelnaufdieOhren.ImSchrankder
altenTantelageinganzerKoffervol-
ler Geldscheine,das keinen Wert
mehr hatte.Geld war nicht wichtig.
Im Fernsehen lief„Derrick“ und die
„Hitparade“ mit Dieter Thomas
Heck.BeidenFamilienfeierndieEr-
zählungenvonanderen Bauernhö-
fen, vonHunger,von den Russen,
vondenTrecks.Das,wasmannicht
selbsterlebthatte,kamnichtvor.Ro-
boter und Designerbabys waren
Science-Fiction.

DieFrau auf demFotoistmeineMut-
ter,das Kind bin ich. Meine Mutter
istetwa25Jahrealt,ichbinvielleicht
zwei.DasHauswardasHaus,indas
ichhineingeborenwar.
MeineTochteristgenausoaltwie
ich damals.Ich denke oft darüber
nach, was ich ihr und ihrem Bruder
mitgebenkann, wie ich sie am bes-
ten auf das,was kommt,vorbereite.
WaskannichihrfürdieZukunftmit-
geben?
Viele Elterninmeinem Umfeld
machensichdarüberGedanken,sie
setzen alles in Bewegung, um ihre
Kinder so früh wie möglichzu för-
dern, mit zwei zum Früh-Englisch,
mitvierzurKlavierstunde,mitsechs
zum Programmieren.Sich selbst zu
vervollkommnen, ist die gängige
Ideologie und sie beginnt beiKin-
dern. Im renommiertenWall Street
Journal las ich kürzlich einenText
darüber,warummanschonKindern
im Kita-Alter Computerkenntnisse
beibringen sollte,damit sie später
nichtvondenRoboternzurSeitege-
drängt werden. Dieeinen haben
AngstvorEinwandern,dieihnendie
Arbeit undWohnung wegnehmen,
dieanderenvorRobotern.
Angsthabenalle.
Waskönnen wir aus derVergan-
genheitlernen?
Wenn ich mir dasBild aus dem
Familienarchiv anschaue,verstehe
ich, wiewenig ich wissen kannvon
dem, was meineTochter und mei-
nenSohnerwartet.
Sovielistpassiert,seitdassepia-
farbeneBild aufgenommen wurde.
DerKrieg war dreißigJahrevorbei,
das klingt nach einer langenZeit.
Doch wenn man bedenkt, dass das
genausolangheristwiederFallder
Mauer,dann klingt es auf einmal
nichtmehrlang.
DasHaus,ind asichhineingebo-
renwar,kannte ich nicht anders,es
wareineRuine,unsereRuine,unser
Zuhause.SiepasstezudemLand,in
dem wir lebten. „Auferstanden aus
Ruinen und der Zukunft zuge-
wandt“, lautete dieNationalhymne.
DenTextsangmanaberschonnicht
mehr,alsichgeborenwurde.
Selbst wenn meineElternsich
vorg enommenhatten,michaufdas
Leben, das mich erwartete,gut vor-
zubereiten, so hätten sie doch nie-
malsvoraussehenkönnen,waspas-
sierenwürde.
MeinVater brachte mir bei, dass
dasLebenausHärtenundKämpfen

besteht.MeineMuttersporntemich
zumLernenan,zuDisziplin,Fleiß,
Höflichkeit,Vorsicht.RedenistSil-
ber,SchweigenistGold.Sieschwieg
selbst,ummir,ihrerTochter,keine
SteineindenWegzulegen.
Siehätte niemals voraussehen
können,dassderMann,dessenBild
in allen Schulen hing, den wir für
eine Witzfigur hielten, der aber an-
geblich der mächtigsteMann des
Landeswar,plötzlichabtretenwird.

Dass die Berliner Mauer,deren Bau
sie als Kind erlebt hat, an einem
Donnerstag imNovember geöffnet
werdenwird.
Dass der Onkel aus demWesten,
demimKriegdasJagdhausimWald
gehörte ,vorderTürstehenwird,um
nachseinenMöbelnzufragen.
Dass ihreTochter schon im De-
zember 1989 in Hamburgüber den
Jungfernstieglaufenwürde.
Dassdie Stasiaufgelöstwird,dass
wir aber bald darauf freiwillig mit
Handcomputern, die unserege-
heimsten Wünsche,unsereBewe-
gungen kennen und speichern, in
derTascheherumlaufenwerden.
Meine Mutterkonntenichtvor-
aussehen, dass derKommilitone
meinerHamburgerFreundinJana,
ein gewisserMohammedAtta, ein
Flugzeug entführen und damit ei-
nen derTwin Towers in NewYork
rammen wird.Dass der amerika-
nische Präsident daraufhin den
Kampf gegen denTerror ausrufen
wird.
Dass ein Chef einesStaatsunter-
nehmens zweihundertMal mehr
verdientalseinArbeiter.
Meine Mutter konnte nichtvor-
aussehen, dass einmal Milliarden
staatlicherGelder ausgegebenwer-
den, um dieBanken zuretten, die
jetztals„systemrelevant“galten.Sys-
temrelevantwareinneuesWort,an-
dereverschwanden: Stomatologe,
Ketwurst, Schweinebaumeln,Zello-
phan,Brigadeführer.
Meine Mutter konnte nichtvor-
aussehen,dassdieKanzlerinAngela
Merkel und ihrFinanzministerPeer
SteinbrücksichvordieKamerasstel-
len, um denZuschauernzuv ersi-
chern,dassihrGeldsicherist,dasses
sichnichtinwertlosesSpielgeldver-
wandelnwirdwiedas Geldim Koffer
imSchrank.
Meine Mutter konnte nichtvor-
aussehen,dassich,dasKleinkindim
Kunstlederkleid, eines Tages mit
meinemEnglischausderEOSClara
Zetkin für dieBerliner Zeitung aus
Londonberichtenwürde.
Dass es Designerbabys geben
wirdund Roboter unsereArbeit
übernehmen.DassPhilosophenund
Klimaaktivisten davor warnenwer-
den,KinderindieWeltzusetzen.

All daskonnte meine Mutterdamals,
als ich zweiJahrealt war ,nicht vor-
aussehen, nicht einmal ahnen oder
erspüren.Wiehätte sie mich darauf
vorbereitensollen?
ImJanuar’89sagteHonecker,die
Mauerwürde100Jahrestehen.Und
wir,meineMutterundich,habenes
geglaubt.Icherinneremich,dasswir
darüber geredet haben, dass ich
wohl erst alsRentnerin in denWes-
ten, nachHamburg, reisen dürfte.
DaswäreimJ ahr2035gewesen.
BinichineinerbesserenLageals
meineMutterdamalsaufdemFoto?
Wasvon den altenWerten gilt noch
heute? Ichhabe gelernt, dass
Schweigen nicht immerGold ist. Es
sind andereWerte dazugekommen,
Bindung, Flexibilität, Offenheit.
„Man wirduns vergessen“, schreibt
AntonTschechow,„dasistunserLos,
daslässtsichnichtändern.Alles,was
wir für ernst undwesentlich halten,
wirdmitder Zeitvergessenseinoder
unwichtig erscheinen.Unddas In-
teressante ist daran, dass wir jetzt
nochnichtwissenkönnen,wasman
in Zukunft einmal bedeutend und
wichtignennenwirdundwasgering
und lächerlich.“ Höchstens viel-
leicht die Fähigkeit, demDruck von
außen zu widerstehen.Sich selbst
treuzubleiben,isteineFähigkeit,die
mangesternundheutebraucht.

SabineRennefanz liestaus neuen Kolumnen
am 22.Januar um 20 Uhr im PfefferbergTheater.
Karten über literatur-live-berlin.de

Die Autorin mit ihrer Mutter in den Siebzigerjahren in einem Dorf im BezirkFrankfurt(Oder). PRIVAT


Waskommt


VonSabine Rennefanz


DieEreignissedesJahres1989lehren:NichtsistberechenbarimLeben.


WaskannichmeinenKindernheutefürdieZukunftmitgeben?


EinBlickzurück,einBlicknachvorn


kultur pur

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S h a l o m B


erlin


JÜDISCHE


KULTURTAGE


BERLIN


07 –


NOVEMBER


2019


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